Fides / Glaube - das Blaue vom Himmel holen - Predigt am Ostersonntag im Hora-Gottesdienst der St. Matthäus-Kirche zu Berlin

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

I.

"Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." So heißt ein österliches Wort, das sich im 1. Johannesbrief findet. Johann Hinrich Wichern, einer der Väter des modernen Protestantismus, wählte es zur Inschrift auf seinem Grabstein. Jemand, der so stirbt, ermutigt uns dazu, Ostern für uns selbst gelten zu lassen: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat."

Johann Hinrich Wichern war der Begründer der modernen Diakonie im evangelischen Deutschland. Was er zu Wege brachte, ist auch im Rückblick erstaunlich. Am 21. April 1808, also vor nahezu 200 Jahren, wurde er in Hamburg geboren. Als er 1881 starb, versah er die, die sich an ihn erinnern wollten, mit diesem Trostwort. Die Tat, das Handeln standen bei ihm hoch im Kurs. So lange er konnte, war er rastlos tätig - und zwar mit Erfolg. Er litt darunter, dass ihm in späteren Jahren die Kräfte schwanden. Doch am Ende seines Lebens wollte dieser christliche Reformgeist und Feuerkopf nichts anderes gelten lassen als den Glauben. "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat."

Johann Hinrich Wichern gehört zu den Kirchenvätern des 19. Jahrhunderts. Er hat auch viel Schriftliches hinterlassen. Doch im Wesentlichen war er ein Kirchenvater der Tat. Die moderne Diakonie ist weithin sein Werk; er hat dafür den Begriff der "Inneren Mission" geprägt. Am häufigsten wird ein Wort von ihm über die christliche Kirche zitiert, die von sich sagt: "Die Liebe gehört uns wie der Glaube." Die meisten, die dieses Wort gern vor sich her tragen, haben es dabei vor allem auf die Liebe abgesehen. Wicherns Aussage soll nahe legen, dass die christliche Kirche schon ganz in Ordnung sei, wenn sie ihre Liebestätigkeit gut organisiert. Diakonie - darauf kommt es an!

Doch Wichern wird man damit nicht gerecht. Ihm war beides gleich wichtig: die Liebe und der Glaube. Und am Ende kam es ihm auf das an, was auch im Tod noch Bestand hat. Es kam ihm an auf den Sieg, der die Welt überwindet. Auf Ostern kam es ihm an: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." Großartig, wenn einer sich dieses österliche Wort auf seinem Grabstein wünscht!

II.

An Johann Hinrich Wichern erinnert hier in St. Matthäus eine Predigtreihe zwischen Ostern und Pfingsten. Sie ist den christlichen Tugenden gewidmet; Mit "Fräulein Hoffnung" fing das in der vergangenen Nacht an; der Glaube, mit dem man das Blaue vom Himmel holen kann, ist heute Abend unser Thema. Aber einen Augenblick will ich doch noch bei dem Mann verweilen, an den wir mit dieser Predigtreihe erinnern.

Denn wir haben einen besonderen Grund dazu, in Berlin auf diesen Begründer der modernen Diakonie aufmerksam zu machen. Berlin spielte nämlich für ihn eine große Rolle - und er für Berlin.

Gewiss: Seine erste Wirkungsstätte war seine Geburtsstadt Hamburg, wo er 1832 eine Lehrerstelle übernahm und schon ein Jahr später, gerade 25 Jahre alt, das Rauhe Haus gründete, ein Rettungshaus für gefährdete Kinder.

Gewiss auch das andere: Mit Wittenberg ist Wicherns Name verbunden, weil er dort 1848 in einer berühmten Stegreifrede die "Innere Mission" zu einem Programm erhob, das die soziale Arbeit der Kirche mit ihrem geistlichen Auftrag verband und Diakonie mit Volksmission unlöslich verknüpfte.

Aber auch Berlin hatte für sein Leben entscheidende Bedeutung. Hier machte er schon als 22jähriger entscheidende Studienerfahrungen. Zu ihnen zählt die Begegnung mit dem frommen Baron Ernst von Kottwitz, der am Alexanderplatz eine "freiwillige Beschäftigungsanstalt" für Arbeitslose aufgebaut hatte. In Kottwitz sah Wichern einen Führer zum Glauben; der Baron wirkte, so sagte Wichern - und man achte auf den Ausdruck - auf ihn "wie ein johanneischer Evangelist"; der Geist des Evangelisten Johannes blitzt schon auf.

Hier in Berlin startete Wichern 27 Jahre später einen - aufs Ganze gesehen - erfolglosen Versuch einer Reform des preußischen Gefängniswesens. Und hier gründete er - genau fünfzigjährig - 1858 das Evangelische Johannesstift, eine unserer großen diakonischen Einrichtungen. Von Wichern, der vor 200 Jahren geboren wurde, wurde das Johannesstift ins Leben gerufen, als er fünfzig war. Für die Folgerung braucht man nicht viel Phantasie: Das Evangelische Johannesstift feiert in diesem Jahr sein 150jähriges Bestehen.

Mit Hamburg und Wittenberg ist Johann Hinrich Wichern auch verbunden. Aber bei allem Respekt vor diesen Orten: Nur hier in Berlin haben wir in diesem Jahr einen doppelten Anlass, Wichern zu feiern. Wir würdigen die 200. Wiederkehr seines Geburtstags; und wir feiern die große Tat, mit der er vor 150 Jahren das Evangelische Johannesstift gründete.

Benannt hat er es übrigens nach dem Evangelisten Johannes (der Baron von Kottwitz lässt grüßen), nach dem auch der 1. Johannesbrief seinen Namen trägt - eben jener Brief, aus dem die Grabsteins-Inschrift stammt: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat."

III.

Vom Glauben müssen wir reden, wenn wir Johann Hinrich Wichern gerecht werden wollen. Die Christenheit zählt den Glauben zu den theologischen Tugenden. Glaube, Liebe, Hoffnung - diese drei - treten neben die Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Maß. Ob diese sieben Tugenden zusammen das Glück ausmachen, wird sich herausstellen, wenn die ganze Predigtreihe vorbei ist. Dann wird mancher auch fragen, ob die Liste der Tugenden denn auch vollständig sei.

Der bedeutende Theologe Jürgen Moltmann beispielsweise hat widersprochen. Er hat gefordert, auch die Neugier als eine Tugend anzuerkennen - ja sogar als eine theologische. Er hat seine eigene Lebensgeschichte dafür geltend gemacht. Aus einem glaubensfernen Elternhaus stammend, ist er dem christlichen Glauben erst durch Krieg und Gefangenschaft nahe gekommen. Das bahnte ihm nicht nur den Weg zum Glauben, sondern auch zur Theologie. Und heute, achtzigjährig, bekennt er: Die Tugend der Neugier hielt ihn auf dem Weg. Ohne sie wäre er im Glauben und in der Theologie nicht vorangekommen.

Ohne Neugier kein Glaube? Jedenfalls wäre es schwer, mit dem Glauben das Blaue vom Himmel zu holen, wenn er nicht mit der Neugier gepaart wäre. Aber provozierend bleibt die Vorstellung, mit dem Glauben könne man das Blaue vom Himmel "holen", von dem es doch sonst immer heißt, dass jemand das Blaue vom Himmel herunter "lügt".

IV.

Holen oder Lügen: Auch in der gehobenen Stimmung des Ostersonntags gilt der Glaube vielen als ein unbekanntes Land. Für viele verbindet sich der Glaube eher mit Unsicherheit als mit Gewissheit.

Stellen Sie sich vor: Sie brechen in die Osterferien auf, sitzen in der Fähre von Rostock nach Trelleborg und sagen plötzlich voller Erschrecken: "Ich glaube, ich habe die Terrassentür aufgelassen. Aber genau weiß ich es nicht, vielleicht habe ich sie auch abgeschlossen." Auf der Fähre löst diese Art von Glauben nur Unsicherheit aus. Wie kann man daraus Gewissheit machen? Allenfalls so, dass man den Glauben aus dem Feld schlägt. Denn Glauben macht unsicher; Wissen beruhigt. Zum Glück gibt es Handys. Ein Anruf bei der Nachbarin genügt. Sie schaut nach und ruft zurück mit der beruhigenden Nachricht, dass die Terrassentür verschlossen ist. Damit ist das mit dem Glauben dann aber auch erledigt, sogar an Ostern.

Andere kommen vielleicht klar, ohne in einem solchen Fall von Glauben zu reden. Sie sagen beispielsweise: "Ich vermute, ich habe die Terrassentür geschlossen, aber mit Sicherheit weiß ich es nicht. Ich muss das klären." Die Erinnerungslücke als eine Frage des Glaubens zu betrachten, liegt ihnen fern.

Den einen oder den anderen Weg zu gehen, ist so belanglos nicht. Die Gretchenfrage, aktualisiert auf das Osterfest 2008, können wir heute so stellen: Wie hältst Du es mit dem Glauben? Geht es Dir um die Vermutung, die Terrassentür könnte offen sein, oder geht es Dir um ein herzliches Vertrauen zu Gott, das Dein Leben trägt?

"Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." Überwunden hat er auch die Welt des Fürwahrhaltens und Vermutens. Der Glaube ist nicht dazu da, meine Unsicherheiten zu übertönen. Es geht nicht darum, in Fragen, in denen ich nicht ganz sicher bin, zu sagen: "Ich glaube". Es kommt auch nicht darauf an, mich gegen die Einschätzung anderer zu behaupten: Zwar erlebe ich Mobbing, aber ich glaube an mich. Denn nicht einmal darauf kommt es an, was ich selbst von mir halte. Meine Würde hängt davon nicht ab - und Deine auch nicht.

Denn solange wir so denken, haben wir die Welt nicht überwunden. Die Welt zu überwinden, ist nur dem Glauben möglich. Er verlässt sich auf die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt - und er liest diese Gerechtigkeit nicht an Gehaltstabellen ab. Nur der weiß, was er wert ist, der sich nicht davon abhängig macht, wie andere seinen Wert einschätzen. Denn jeder Mensch ist mehr wert, als er selbst aus sich macht. Wir alle erhalten unser Leben als Geschenk; keiner von uns kann sich seine Anerkennung vor Gott verdienen. Es gibt keine andere Basis für ein Leben in der Verantwortung vor Gott und den Menschen.

V.

Was also heißt Glauben? Vertrauen - auch in aussichtsloser Situation.

Welche Situation ist schon aussichtslos? Unter Umständen die einfachste, die sich denken lässt. Auch dafür ein Beispiel: Haben Sie schon einmal eine Todesnachricht erhalten mitten in einem Geburtstagsfest? Mir ist das schon passiert - und ich werde es wohl nie vergessen. Aber es kommt häufiger vor, als man denkt.

Mitten während einer Einladung zum sechzigsten Geburtstag erhält die Jubilarin die Nachricht, ihre ältere Schwester sei gestorben. Morgens im Bad sei sie einfach umgefallen; Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg. Der Geburtstag und die Gäste sind wie weggeblasen. Nur für sich sein: so heißt der einzige Wunsch. Mit Tränen in den Augen bittet die Jubilarin ihren Mann, sich allein um die Gäste zu kümmern - ein Geburtstag ohne Geburtstagskind. Sie steigt aufs Fahrrad und fährt hinaus in die Felder. Später kommt sie zurück und ruft die weit verstreut lebende Verwandtschaft an. Sie weiß, was es heißt, eine Todesnachricht zu überbringen. Vor Jahren musste sie ihren neunzehnjährigen Sohn begraben; er war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Im Gespräch mit den anderen gewinnt sie Kraft; sie weiß, dass sie dem Abschied von ihrer Schwester mit ohnmächtiger Tatenlosigkeit nicht aufhilft. "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." Diese Hoffnung ergreift sie; diese Hoffnung soll den Abschied prägen.

Im Trauergottesdienst hat sie die Schriftlesung übernommen. Mit fester Stimme liest sie einen Abschnitt aus dem Ersten Thessalonicherbrief des Apostels Paulus: "Wir wollen euch aber, liebe Schwestern und Brüder, nicht im Ungewissen lassen über die, die entschlafen sind, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen. ... So tröstet euch mit diesen Worten untereinander."

Was ist Glauben? Dass wir zu Gottes Ja unser Amen sagen. Dass wir einander trösten, weil unsere Hoffnung gewiss ist. Dass wir einander zu Boten der Auferstehung werden, sogar noch im Tod. So wie Johann Hinrich Wichern, der dafür seinen Grabstein zu Hilfe nahm: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." Amen.