Predigt am Ostermontag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin über Apostelgeschichte 10, 34a.36-43

Wolfgang Huber

I.

Meine liebste Ostergeschichte hat es in sich. Aber ich will sie Ihnen nicht vorenthalten. Sie sind ja harten Tobak gewöhnt! Wie die meisten spannenden Geschichten spielt natürlich auch meine Geschichte in der "guten alten Zeit". Und damit ich sie auf der Kanzel erzählen kann, spielt sie in einem Pfarrhaus.

Dort wird an Ostern Taufe gefeiert. Und das nicht zu knapp. Um zehn Uhr abends ziehen die Damen sich zurück, die trinkfesten Herren bleiben unter sich. Ein später Gast kommt noch dazu, der durch andere Pflichten aufgehalten worden war. So muss er alles nachholen, wofür die anderen schon mehrere Stunden Zeit hatten. Als er das gegen zwei Uhr nachts geschafft hat, ist an einen Nachhauseweg nicht zu denken. Er würde das Schlüsselloch nicht mehr finden. Aber wo soll man ihn unterbringen? Alle Betten und Sofas sind bereits belegt. Doch der Hausherr weiß Rat. Er hat die Scheune des Pfarrhauses, die er selbst nicht benötigt, dem Sargmacher als Werkstatt überlassen. Viele Särge stehen dort. Einen von ihnen staffiert man mit Mantel, Sofakissen und Tischdecken so aus, dass der späte Gast eine zwar ungewöhnliche, aber doch ausreichende Lagerstatt findet. Er schaut sich nicht mehr allzu genau um und fällt in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen erscheint er verspätet zum Frühstück, ohne Gruß und in düsterer Stimmung. Er schlürft seinen Kaffee und sagt kein einziges Wort. Schließlich spricht ihn einer an: "Hast Du nicht gut geschlafen?" "Doch, geschlafen schon", antwortet er mürrisch, "aber das Aufwachen! Ich richte mich auf und blicke nach rechts: lauter leere Särge. Ich schaue nach links: lauter leere Särge. Mensch, denke ich, Mensch - jetzt hast du auch noch die Auferstehung verschlafen!"

Damit wir die Auferstehung nicht verschlafen, feiern wir Ostern nicht nur an einem, sondern an zwei Tagen. Und: Wir sind nicht mürrisch, wenn die Särge leer sind.

II.

Denn das menschliche Leben endet nicht in einem Sarg. Das ist der Kern der christlichen Botschaft von Anfang an. Weil Jesus nicht im Grab blieb, braucht niemand zu fürchten, das Grab sei das Ende der Wege Gottes mit uns. Daraus entsteht die Kraft zur christlichen Mission: Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker. Das ist die Aufforderung zu einer Grenzüberschreitung. Mit dieser Grenzüberschreitung wollen wir uns heute befassen.

Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker. Man hat sich angewöhnt, diese Worte als einen "Missionsbefehl" zu bezeichnen. Aber die christliche Mission hat es nicht mit Befehl und Gehorsam zu tun. Denn anderen weitergeben kann man nur, was einem selber wichtig ist. Andere begeistern kann nur, wer selbst begeistert ist. In dir muss brennen, was in andern zünden soll. Ich rede deshalb lieber von einem Missionsauftrag Jesu und nicht von einem "Missionsbefehl". Von einem Taufauftrag rede ich auch und nicht von einem "Taufbefehl". Das macht die Sache übrigens nicht weniger dringlich.

Die Evangelist Lukas schildert in seiner Apostelgeschichte, wie dieser Auftrag zu Mission und Taufe schon die frühe Christenheit dazu brachte, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Nicht nur vom Apostel Paulus wird das berichtet, sondern auch von seinem großen Gegenspieler, von Petrus. Lukas möchte nachweisen, dass der Weg zu den Heiden ein gemeinsames Projekt war, das Petrus und Paulus schließlich miteinander verband, auch wenn Petrus sich zunächst innerlich wie äußerlich dagegen wehrte. Eines Besseren wurde er - so stellt Lukas das dar - erst belehrt, als eines Tages drei Abgesandte eines römischen Hauptmanns vor ihm standen. Sie wollen ihn dazu bewegen, ihren Vorgesetzten aufzusuchen. Petrus lässt sich bewegen.

Die drei Männer bringen Petrus in das Haus des Hauptmanns Kornelius. Dieser wird als fromm und gottesfürchtig geschildert; ein Befehlshaber im römischen Heer, der die Gottesfrage für sich positiv aufgenommen hat. Er ist kein Jude; aber er interessiert sich offenbar für den jüdischen Glauben. Er wird wohl dann und wann in der Synagoge gewesen sein und auch mit der jüdischen Gemeinde zusammen gebetet haben. Dabei hat er einen Glauben kennen gelernt, der sich, im Unterschied zu der herrschenden Religion des römischen Reichs, ganz und gar auf das Bekenntnis zu dem einen Gott konzentriert - und nicht etwa den gerade regierenden Kaiser auch noch in das Pantheon der Staatsgötter aufnimmt. Diesem glaubensinteressierten römischen Hauptmann ist es auch nicht verborgen geblieben, dass innerhalb des jüdischen Volkes eine neue religiöse Bewegung entstanden ist, die den Glauben an den einen Gott weiter fasst - so weit, dass er auch für "Heiden" erreichbar ist. Davon will er mehr erfahren.

Petrus lässt sich darauf ein. Er steht Kornelius Rede und Antwort. Er nimmt den Hauptmann hinein in die Botschaft der Freiheit und des Lebens. Er erteilt ihm einen Grundkurs in Fragen des christlichen Glaubens. Kurz und knackig. Wir haben diesen Grundkurs vorhin als Lesung gehört. Vorbildlich führt Petrus seinen Auftrag aus - und nicht ohne Erfolg. Seine Predigt findet Gehör; der heilige Geist ergreift alle, die ihm zuhören; sie erbitten die Taufe. So erkennt Petrus, dass die christliche Taufe an keine Volkszugehörigkeit gebunden ist und nicht den jüdischen Ritus der Beschneidung voraussetzt. So wird ihm bewusst, dass Gott nicht die Person ansieht, sondern jeden Menschen als sein Kind annimmt - und wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.

III.

Eine Grenzüberschreitung wird uns geschildert: vom jüdischen Volk zu den Heiden. Umso bemerkenswerter ist, wie stark Petrus die Herkunft Jesu aus dem Volk Israel hervorhebt. Gott hat das Wort dem Volk Israel gesandt und Frieden verkündigt durch Jesus Christus, welcher Herr ist über alle. So beginnt die Predigt des Petrus. Dieser Beginn ist alles andere als belanglos!

Denn wie oft wurde dieser Zusammenhang verdrängt und vergessen! Wie oft wurde Gottes Volk innerlich zerrissen, weil Juden und Christen nicht im Frieden miteinander lebten! Wie oft haben Christen die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens verleugnet und verdrängt! Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat unsere Kirche hier in Berlin im Jahr 1950 zum ersten Mal ihre Schuld an der Verfolgung, ja der Vernichtung des europäischen Judentums ausdrücklich eingestanden. Dadurch erst entwickelte sich die Bereitschaft, neu und anders über das jüdische Volk und über unseren in diesem Volk geborenen Erlöser Jesus Christus nachzudenken. Seitdem sind viele wichtige Schritte erfolgt, um den Ungeist antijüdischen Denkens aus unseren Gebeten und Liedern, aus unserem Glauben und unserer Theologie zu tilgen. Immer wieder haben wir uns gegen alle Formen des Antisemitismus gewandt und unsere Achtung für den Glauben der Juden ebenso ausgesprochen wie die Überzeugung, dass Juden und Christen in der Erwählungsgeschichte Gottes zusammengehören. Dafür bürgt Jesus, der Jude, der unser Friede ist und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft. Dafür bürgt Jesus, der Jude, in dem Gott die Welt mit sich selber versöhnte und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Auch heute, im sechzigsten Jahr des Bestehens des Staates Israel, erinnern wir als evangelische Kirche an diese Zusammenhänge. Auch das gehört zu unserem Auftrag zu predigen und zu bezeugen.

Christus nämlich sollen wir predigen und bezeugen, durch den Gott Frieden verkündigt. Hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist dieses Zeugnis besonders lebendig. Genauso wie hier die Wunden von kriegerischer Gewalt noch zu spüren sind, genauso umfängt uns an diesem Ort das Geschenk der Freiheit und des Friedens. Gerade im Zusammenklang zwischen altem Turm und neuer Kirche predigen an diesem Ort selbst die Steine die Botschaft von der Versöhnung. Deshalb haben wir die gemeinsame Aufgabe, diese Kirche im Ganzen zu erhalten und auch ihren alten Turm zu retten. Denn diese Kirche kann uns und alle, die hier ein- und ausgehen, dazu motivieren, Zeugen des Friedens und Botschafter der Versöhnung zu sein.

IV.

Noch einmal: Einer Grenzüberschreitung begegnen wir heute - vom Volk Israel hin zu den Heiden. Unter vermeintlich volkskirchlichen Verhältnissen schienen solche Grenzüberschreitungen nicht an der Zeit zu sein. Man musste die Missionare schon in fremde Länder schicken, wenn von Mission die Rede sein sollte. Im eigenen Land, so meinte man, sei nichts zu missionieren.

Das alles hat sich gründlich geändert. Wir wissen, dass der christliche Glaube sich nicht mehr von selbst versteht. Nicht nur in Berlin ist das so. Es ist übrigens auch nicht nur im Osten Deutschlands so; auch im Westen ist der christliche Glaube nicht mehr selbstverständlich. Haben wir, so weit wir Christen sind, darauf schon die richtige Antwort gefunden? Diese Antwort ist einfach. Das Schlüsselwort heißt: Mission. Der Auftrag zu Mission und Taufe gilt uns. Dass wir nicht mehr vom Befehl reden, ist kein Grund, darum einen Bogen zu machen. Oder mit Worten des Schriftstellers Günter de Bruyn: "Früher fuhren glaubensstarke Leute, unsägliche Strapazen nicht scheuend, zu diesem Zweck (nämlich der Mission) in die Südsee oder nach Grönland. Heute brauchten sie, ohne jede Entbehrung, nur beim Nachbarn vorzusprechen, nur in der Öffentlichkeit mehr Selbstvertrauen zu zeigen oder sich in demokratischen Institutionen für die Kirchenbelange einzusetzen, ohne Behinderung durch Natur- oder Staatsgewalt." Aber manche, so gibt Günter de Bruyn zu bedenken, erwecken den Eindruck, "man fände eine kleinere Anzahl von Christen grundsätzlich besser als eine größere, was doch wohl im Gegensatz steht zu der Aufgabe: Gehet hin in alle Welt - oder doch wenigstens ins nächste Dorf."

Sind wir Christen bereit, anderen von unserem Glauben zu berichten, so kurz und elementar, wie wir das heute von Petrus gelernt haben? Unternehmen wir den Schritt zur Rechenschaft von der Hoffnung, die in uns ist? Bis vor wenigen Jahren galt das noch als vollkommen unschick - oder "uncool", wie junge Leute heute sagen. Christen hatten ihren Glauben, aber sprachen nicht viel darüber. Christen lebten aus der Hoffnung, aber das brauchte kein anderer zu wissen. Christen übten Barmherzigkeit, aber die Motive dazu brauchte keiner zu kennen. Diese religiöse Schamhaftigkeit löst sich auf; eine neue religiöse Lebendigkeit breitet sich aus. Das ist eines der Hoffnungszeichen in unserer Zeit.

Natürlich spricht sich das erst allmählich herum. Und die Sprachlosigkeit in Glaubensfragen ist immer noch groß, auch unter Christen. Aber kein Zweifel: Wir brauchen eine neue Bereitschaft zum Glaubenszeugnis. Innere Klarheit gehört dazu, aber auch das nötige Glaubenswissen. Nur wer im eigenen Glauben stark ist, kann auch andere darin bestärken. Wahr ist freilich auch: Nur wer mit den eigenen Zweifeln redlich umgeht, kann auch anderen in ihren Zweifeln beistehen.

Welche Grenzüberschreitungen stehen heute an? Heute geht es um die Menschen, die an Gott und ihrem Glauben zweifeln; die sich dem Glauben ihrer Kindheit entfremdet und keinen gefunden haben, der auf ihre kritischen Fragen hin ernsthaft Rede und Antwort steht. An Menschen denke ich, denen der Wert des Glaubens neu bewusst geworden ist; aber sie warten im Freundes-, Familien- oder Kollegenkreis auf glaubwürdige Zeugen Jesu Christi.

Wir haben heute denselben Auftrag wie Petrus. Auch heute gehören die Einladung zum Glauben und die Einladung zur Taufe zusammen: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Es besteht kein Grund dazu, dass wir uns manchmal mit diesem zweiten Schritt besonders schwer tun. Niemand wird zur Taufe gezwungen. Doch mancher wartet geradezu darauf, dass sein Suchen und Fragen nach Gott auch darin ernst genommen wird, dass wir ihn zur Taufe einladen. Dafür gibt es übrigens keine Altersgrenze, weder nach unten noch nach oben.

Nein, liebe Gemeinde, wir wollen die Auferstehung nicht verschlafen. Wir stehen jetzt auf aus dem Sarg der Teilnahmslosigkeit und machen uns auf zu unserem Nächsten, um unseren Glauben mit ihm zu teilen. Denn die Osterfreude kann niemand für sich behalten. Amen.