Predigt im Gottesdienst in Peter und Paul auf Nikolskoe

Wolfgang Huber

Epheser 1,20b-23

I.

Als vor Jahren eine sowjetische Delegation die alte Bundesrepublik bereiste, erzählte der gastgebende Minister den Besuchern: „Morgen ist ein Feiertag, nämlich Himmelfahrt.“ Der russische Dolmetscher übersetzte: „Morgen arbeiten die Deutschen nicht, denn sie feiern den Tag der Luftwaffe.“

Himmelfahrt ist ein besonderer Tag – keine Frage. Ein Pfarrer bläst mit heiligem Ernst die Osterkerze im Himmelfahrtsgottesdienst aus und trägt sie in die Sakristei. Vierzig Tage nach Ostern hat der Herr die Seinen verlassen und ist in den Himmel aufgefahren. So erklärt er diese zeichenhafte Handlung. Hat er Recht damit? Mein Einwand heißt so: Wenn Christus bei seinem Vater ist, kann er den Seinen eigentlich nicht fern sein. Ich glaube, die Osterkerze kann weiter brennen.

Andernorts zieht ein Küster die an einem Seil festgebundene Statue des Auferstandenen durch das Heiliggeistloch in der Kirchendecke empor. Durch die geöffnete Luke im Himmel regnet es anschließend Blumenblätter und Süßigkeiten für die Kinder. Dann lagert der Küster die Christusstatue behutsam auf dem Kirchenspeicher – bis zum nächsten Jahr. Ist der auferstandene Christus nur etwas für die vierzig Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt?

Auf alten Gemälden sieht man die Jünger, wie sie nach oben schauen; über ihnen eine Wolke, aus der zwei Füße herausragen.

Unsere Vorstellungskraft sucht nach einem plausiblen Bild. Wir kennen die Krippe, den Stall von Bethlehem, das Kreuz von Golgatha und den weggewälzten Stein vom Ostermorgen. Und die Himmelfahrt Jesu? Sie findet nicht so leicht ihr Symbol. Unser Wort „Himmel“ sorgt zusätzlich für Verwirrung. Die Engländer haben es da etwas leichter - sie kennen zwei verschiedene Worte für das, was wir Himmel nennen. Sky - das ist der Raum über uns, in dem die Flugzeuge ihre Kondensstreifen ziehen; das ist das Universum mit Planeten und Sonnensystemen. Der Himmel dagegen, den die Himmelfahrt meint, heißt heaven. Radargeräte oder Riesenteleskope bekommen ihn nicht in den Blick, er lässt sich nicht in einem Planetarium darstellen. Er umgibt uns von allen Seiten; er ist uns nah und fern zugleich.

II.

Wenn die Bibel berichtet, Jesus sei in den Himmel aufgefahren, dann sollten wir uns das nicht naturwissenschaftlich als Überwindung der Schwerkraft mit den Jüngern Jesu als Zeugen ausmalen. Sondern damit wird gesagt: Jesus ist jetzt bei Gott. Er ist in die Wirklichkeit Gottes hinübergegangen. „Aufgefahren in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters“. Jesus hat teil an der Fülle Gottes. Was in der Auferstehung begann, geht weiter. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Christus das überwindet, was unser Leben schwer macht. Davon sprechen auch die Verse unseres Predigttextes aus dem Epheserbrief:

Gott hat Christus von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen. Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde zum Haupt über alles, welche sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.

Versetzen wir uns für einen Augenblick in die Menschen hinein, an die der Epheserbrief geschrieben wurde. Ihr Weltbild bestand aus drei Stockwerken. Im Erdgeschoss leben die Menschen. Ganz oben unter dem Dach ist der Himmel als Raum Gottes. Dazwischen aber, im Mittelgeschoss, gibt es unsichtbare Engelwesen und Geistermächte. Sie bestimmen das Schicksal der Menschen auf der Erde. Und sie bilden eine Grenze, die den Weg zu Gott versperrt.

Die Himmelfahrt Jesu wird gefeiert, weil diese Sperre ihre Kraft eingebüßt hat. Mit diesem Tag verbindet sich die Gewissheit: Jesus ist durchgekommen - von der Erde in den Himmel. Die Mächte und Gewalten konnten ihn nicht aufhalten. An Ostern hat er sie besiegt. Sie sind unter seine Füße getan; Jesus hat alle Macht im Himmel und auf Erden.

Das ist die Botschaft von Himmelfahrt! Wenn wir mit dieser Glaubensgewissheit unser Haupt erheben und aufschauen, dann sehen wir mehr als das Blau über der Glienicker Brücke. Dieser Himmel ist kein geographischer Ort zwischen Berlin-Wannsee und Potsdam. Sondern wie Gott selbst ist Jesus jetzt allgegenwärtig. Der aus Nazareth stammende Jesus war auf die Fischerdörfer am See Genezareth und auf Judäa  beschränkt. Heute führt der auferstandene Christus weltweit Glaubende in seiner Kirche zusammen. Sie ist sein Leib; er ist ihr Haupt. Er bestimmt den Geist jeder Kirche, jeder Gemeinde – wo immer sie sich versammelt, in welcher Sprache auch immer sie Gottesdienst feiert. So verstehen wir heute seine Zusage: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Wir stellen uns heute die Welt nicht mehr in Stockwerken vor. Aber an der klaren, leuchtenden Botschaft des Epheserbriefs können wir trotzdem unser Leben ausrichten. Niemals werde ich der These zustimmen können, an den Mächten unserer Zeit gebe es sowieso kein Vorbeikommen; alles sei deshalb gleichgültig. Nein: Gegen eine  Lebensphilosophie der Gleichgültigkeit setzte ich mein Zutrauen zu Gott. Meine Gewissheit lautet: Es gibt ein Wort der Wahrheit – das Evangelium. Gottes Fülle hat in Christus Wohnung genommen. Im Antlitz des am Kreuz erniedrigten Erlösers hat Gott sich zu erkennen gegeben. An ihm will ich im Leben und im Sterben festhalten. Er gibt meinem Leben den Sinn, nach dem ich mich sehne. Er führt mich über mich selbst hinaus: im Glauben zu Christus, in der Liebe zu meinem Nächsten.

III.

Diese Bewegung geht von der Zusage aus, dass Christus uns aus allen Zwängen herauslöst und uns Vergebung schenkt. Der Himmelfahrtstag erneuert unsere Gewissheit, dass Gottes Versprechen gilt: Ihr seid versiegelt mit Heiligem Geist. Das erneuert die Inspiration des Glaubens und die Kreativität der Liebe. Zum Zeichen dafür haben sich Himmel und Erde berührt.

Der Blick auf Christus rückt auch unsere Welt in ein neues Licht. Noch ist das Alte nicht vergangen. Menschen trauern über den Verlust eines nahen, heiß geliebten Angehörigen, auch an diesem Tag. Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit; auch der Himmelfahrtstag ist davon nicht frei. Und auch dies: Mit Hass und Gewalt machen Menschen sich das Leben zur Hölle. Die Summe des Etats der Militärausgaben aller Staaten des Jahres 2008 würde  - man beachte den Konjunktiv - genügend Mittel bereithalten, um Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien. In unserer alles andere als erlösten Welt wird es wohl auch zukünftig viele Konjunktive geben. Doch die Himmelfahrt Jesu Christi ist der Indikativ, den wir vor all diese Konjunktive setzen wollen: ein Zeichen dafür, dass Himmel und Erde sich berührt haben. Nein, es ist nicht Hopfen und Malz verloren. Wir glauben an den neuen Himmel und die neue Erde, in die Christus die jetzige alte verwandeln wird.

Auch an unsere tägliche Arbeit denken wir heute, an diesem aus doppeltem Grund freien Tag. Ich weiß nicht, ob jemand unter uns ist, der das Jahr 1913 schon erlebt hat. Denn damals, vor 95 Jahren, fiel der Himmelfahrtstag zum letzten Mal auf den 1. Mai. Erst in 160 Jahren wird dies wieder der Fall sein. Und bei allem Respekt vor den Wundertaten der Medizin rechne ich nicht damit, dass einer von uns den Himmelfahrtstag am 1. Mai 2168 miterleben wird. Also fragen wir heute, was uns denn dieser Zufall des Kalenders lehrt: Himmelfahrtstag und Tag der Arbeit an ein und demselben Tag.

„Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen“ hat Martin Luther gesagt und hinzugefügt, an der Arbeit sei noch kein Mensch gestorben, wohl aber am Müßiggang. Arbeitsmedizinisch war das nicht ganz korrekt und doch stimmt es in einem tieferen Sinn. Zum Wesen des Menschen gehört das Bedürfnis, gebraucht und in Anspruch genommen zu sein. Bis ins hohe Alter hinein schauen wir danach aus, ob wir etwas Nützliches tun, ob wir einem anderen hilfreich zur Seite stehen können. Gerade in unserer Arbeit merken wir, dass wir auf Gemeinschaft angelegt sind. Deshalb ist es nicht gut, wenn Menschen von der Arbeit ausgesperrt werden. Sie sollen alle Arbeit finden; und das ist leichter, wenn sie gut ausgebildet sind. Bildung, so merken wir gerade in unserem Land, ist der Schlüssel zu sozialer Gerechtigkeit.

Auch das andere stimmt: Wer arbeitet, soll von seiner Arbeit auch leben können. Wir finden es ungerecht, wenn das Arbeitsentgelt bestimmte Mindeststandards unterschreitet. Ob dem durch Mindestlöhne vorgebeugt werden kann oder ob man durch Kombilöhne einen Ausgleich schafft, ist nicht von der Kanzel aus zu entscheiden. Aber dass ein Arbeiter seines Lohnes wert sei, ist uns immerhin als ein Wort Jesu selbst überliefert.

Aber Arbeit und Himmelfahrt – was haben die beiden miteinander zu tun? Zunächst etwas Negatives: Den Himmel kann sich niemand mit seiner Arbeit verdienen. Den Himmel kann keiner mit eigener Kraft erarbeiten. Dass wir zu Gott gehören, ist und bleibt ein Geschenk. Christus öffnet für uns den Himmel, nicht wir selbst. Deshalb ist es gut und nötig, dass wir unsere Arbeit immer wieder unterbrechen, innehalten und das Danken lernen – das Danken auch angesichts der Schönheit dieser Wannseelandschaft.

Und das andere: Weil wir unter Gottes offenem Himmel arbeiten, hat jede Arbeit ihre Würde. Jede Arbeit kann ein Dienst am Nächsten sein. Keiner soll sich über den anderen erheben. Keiner hat ein Recht dazu, die Würde eines Menschen davon abhängig zu machen, was er verdient. Unter Gottes weitem Himmel sind wir alle gleich.

Deshalb hat der Himmelfahrtstag etwas Leichtes, Fröhliches. Für einen Augenblick mögen wir denken, wir erheben uns in einem Ballon über die Seenlandschaft, die uns umgibt. Leicht muss man sein, wenn der Ballon einen lange tragen soll; überflüssigen Ballast muss man hinter sich lassen, wenn man Gottes Himmel näher kommen will. In diesem Himmelfahrtsballon erleben wir es: Unter Gottes weitem Himmel sind wir alle gleich.

Einen fröhlichen Himmelfahrtstag wünsche ich Ihnen – am 1. Mai 2008.

Amen.