Predigt am Sonntag Exaudi in St. Marien zu Berlin (Römer 8,26-30)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

I.

Wir wissen nicht, was wir beten sollen. Sprachlosigkeit ist heute unser Thema. Wir wissen nicht, was wir beten sollen. Diese Erfahrung ist alles andere als neu. Schon das Neue Testament berichtet davon. Kein Geringerer als der Apostel Paulus spricht dieses Bekenntnis aus. Wir wissen nicht, was wir beten sollen. Das könnte ein Bekenntnis des 21. Jahrhunderts sein.

Wie oft beten Sie am Tag? So wurde ich vor einigen Tagen gefragt. Dabei ist doch weit wichtiger, was wir beten – und nicht wie oft.

Nicht der Rede wert. Mit dieser Floskel gehen wir oft über das hinweg, was uns belastet. Es sind nicht immer Sorgen in der Größe eines Findlings, die das Herz bedrücken. Wir gestehen uns selbst nicht ein, was uns bedrängt und den Frohsinn eintrübt. Nicht der Rede wert. So kann man über den Alltag im Leben und über das Leben im Alltag hinweggehen.

Wie geht es Ihnen? So fragte ich einmal im Vorübergehen. Ein beiläufiger Gruß, der gar nicht auf Antwort wartet. Doch in diesem Fall kam es anders. Wie geht es Ihnen? So fragte ich – und bekam die Antwort: Wollen Sie es wirklich wissen? Der Zeitplan für die nächsten Stunden war vergessen; ich hörte mir die Lebensgeschichte an, das Leben im Alltag und den Alltag im Leben. Aus dieser Frage und der unerwarteten Antwort entstand eine Freundschaft, die jetzt noch besteht – nach mehr als 25 Jahren.

Aber viele bleiben allein. Ihr Selbstgespräch klingt vielleicht so. Das Schmerzliche ist, dass mir mein Leben so bekannt vorkommt und deswegen auch recht verschlissen erscheint. Ich kann eigentlich nur noch arbeiten, abends etwas fernsehen, dann, wenn es gut geht, einigermaßen schlafen. Und trinken? Gott sei Dank hält sich das bis jetzt in Maßen. Ich kann nicht einmal sagen, was sich ändern müsste, damit ich mich wohl fühle. Mein Leben ist unzureichend; aber ich weiß nicht, was sich ändern soll. Gern möchte ich alles hinter mir lassen. Aber natürlich entferne ich mich nicht einen Zentimeter von den gewohnten Abläufen. Mein Leben geht einfach weiter. Aber es lohnt sich nicht, darüber zu reden. Wie geht es Ihnen? Nicht der Rede wert. Wir wissen nicht, was wir beten sollen.

II.

Der Sonntag Exaudi ist das richtige Datum, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, den Teufelskreis der Sprachlosigkeit, den Teufelskreis der Banalität. Gott ist die richtige Adresse, um sich freizusprechen. Vorhin haben wir beim Beten des Psalms mit den Worten begonnen, die diesem Sonntag seinen Namen geben: Exaudi. HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und erhöre mich. Dem tritt nun der Predigtabschnitt für diesen Sonntag aus dem Römerbrief des Apostels Paulus zur Seite. Ob er für Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts hilfreich sein kann? Hören Sie selbst:

Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie’ s sich gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt. Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.

Welche eine Entlastung! Wir dürfen schwach sein. Es ist keine christliche Tugend, sich möglichst ergeben in sein Schicksal zu fügen. Niemand muss den Lauf seines Lebens irgendwie zurechtbiegen, um einen vermeintlichen „Sinn“ zu erkennen. Paulus ist unser Bürge dafür. Aus seinen Schriften wissen wir, dass er leidenschaftlich, ja euphorisch über den Durchbruch vom Tod zum Leben jubelt. Jesus Christus hat sein Leben verändert: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Aber Paulus ist weit davon entfernt, ein triumphalistisches Bild des Christenmenschen zu zeichnen. Dafür kennt er sich selbst viel zu gut. Er weiß um das menschliche Scheitern: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Und er weiß um seelische und körperliche Beeinträchtigungen. Einmal, so berichtet er, sei er bei seinen Reisen durch Kleinasien in tiefe Bedrängnis geraten. Da sei er über alle Maßen bedrückt gewesen. Er sei am Leben verzagt. Ein anderes Mal hatte er Lust, aus der Welt zu scheiden, um endlich bei Christus zu sein. Immer wieder spricht er von einem Pfahl im Fleisch, also von einer körperlichen Qual, die ihn mit Fäusten schlägt und nicht von ihm weicht.

III.

Was überwindet unsere Sprachlosigkeit? Die Antwort des Paulus ist von großartiger Klarheit: Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.

Eine feste Gewissheit wird da ausgesprochen. Ja, von einem Wissen ist die Rede. Es ist ein Wissen, das inmitten aller Unübersichtlichkeit und aller Unsicherheit Bestand hat. Auch was wir als schwierig erleben, soll sich zum Guten wenden. So klingt diese Gewissheit. Aber sie wäre missverstanden, wenn angenommen würde, dass sich da einer über schmerzliche Erfahrungen, Widerstände und Anfechtungen einfach hinwegsetzt. Das achte Kapitel des Römerbriefs, aus dem unser Predigtabschnitt stammt, widerlegt das nahezu in jeder Zeile. Es ist ein hohes Lied der Hoffnung, gewiss. Aber es handelt sich um eine Hoffnung, die aus dem Leiden wächst. Paulus preist das Wissen, dass Gott alle Dinge zum Besten wendet. Aber dieses Wissen wird in die Ungewissheit hineingesprochen. Ausdrücklich ist die Rede vom Leiden dieser Zeit, vom ängstlichen Harren der Kreatur, vom unsicheren Sehnen der Glaubenden. So groß ist die Unsicherheit, dass dem Apostel der Satz entfährt: Wir wissen nicht, was wir beten sollen.

Dieser Unsicherheit tritt ein unbeirrtes Wir wissen entgegen. Dieses Wissen bezieht sich auf den, an den wir uns halten können: den Erstgeborenen unter vielen Brüdern und Schwestern, das Bild Gottes, dem wir gleich werden sollen. Wer sich auf die Gemeinschaft mit ihm einlässt, kann darauf vertrauen, dass auch das völlig Unfassbare noch einen Sinn erhält. Ein Sinn ist das, den nicht wir selbst ihm geben können. Es ist ein Sinn, der von Gott kommt.

Christus, der Erstgeborene unter vielen Brüdern und Schwestern, Christus der Bruder: Das ist für Paulus der Ankergrund des Wissens, von dem er spricht. Dass wir Christus als unseren Herrn bekennen können, hat seinen Grund darin, dass er uns zum Bruder wurde. Er nahm an den Unsicherheiten seiner Zeit teil, ja mehr noch: Er ging diesen Unsicherheiten auf den Grund. Bis dorthin ging er, wo er dem Tod ins Angesicht schauen musste. Weil Jesus in alle unsere Ungewissheiten mitgeht, kann der Geist Jesu uns vor Gott vertreten mit unaussprechlichem Seufzen. Unserer Unsicherheiten brauchen wir uns nicht zu schämen. Auch wenn unsere Ungewissheit so weit reicht, dass wir nicht wissen, was wir beten sollen, dürfen wir uns auf Gottes Nähe verlassen. Wir dürfen uns daran halten, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.

Die Grundkonstante unseres Lebens besteht nicht in unseren vermeintlich unangreifbaren Stärken. Es handelt sich aber auch nicht um eine einmalige und ausnahmsweise genehmigte Schwäche. Sondern es geht um die gütige Wahrnehmung unserer durchgehend vorhandenen Stärken und Schwächen.  Gott schenkt uns unsere Stärken und steht uns in unseren Schwächen bei. Es ist nicht nötig, dass ich beim Singen allein den richtigen Ton treffe. Denn Gott hat uns nicht als Solisten geschaffen. Er gibt mir Menschen an die Seite, die meine Stimme stützen und begleiten. Im Chor klingt der Gesang voller. Gottes Geist hilft meiner und deiner Schwachheit auf.  Er schenkt uns Geistesgegenwart und Kreativität in übervollem Maß.

Wir brauchen uns des kleinen Ja nicht zu schämen, das wir zustande bringen. Denn es ist von Gottes großem Ja umschlossen. Bevor wir zu glauben begannen, war Gottes großes Ja schon da, erkennbar in Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Wenn mit unserem Leben auch unser Glaube an ein Ende kommen wird, wird Gottes großes Ja seine Gültigkeit behalten. Gottes Erwählung und sein Ruf umfassen unser kleines Ja. Unser Glaube ist nicht das Resultat unserer Anstrengungen. Er ist unsere Antwort auf die bleibende Entscheidung Gottes, die unserem Leben Halt und Richtung gibt.

In diesen Tagen feiern wir das fünfzigjährige Bestehen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Damals, vor einem halben Jahrhundert, wollten die Initiatoren ein Zeichen setzen: Sie wussten um die Bitterkeit und den Hass auf die Deutschen insbesondere in Ländern wie Israel, Polen oder der Sowjetunion. Sie baten um Vergebung und waren fest entschlossen, diese ehrliche Bitte um Vergebung durch aktive und tätige Hilfsangebote plausibel zu machen. Deutsche Freiwillige sollten in den von der deutschen Wehrmacht überfallenen Ländern sowie an den Überlebenden der Schoah einen Dienst der Versöhnung tun.

Der Begriff Sühnezeichen steht für die zeichenhafte Übernahme von Verantwortung für die Folgen des Nationalsozialismus. Die nationalsozialistischen Verbrechen sind nicht ungeschehen zu machen. Auch wieder gut zu machen sind sie nicht. Doch durch konkretes Handeln kann ein Prozess der Versöhnung in Gang gesetzt werden. Menschen kommen einander in gemeinsamer Friedensverantwortung näher. Dabei lernen sie sich selbst und andere besser verstehen. Durch dieses Lernen arbeiten sie an der Gestaltung unserer Zukunft. Sie antworten mit ihrem kleinen Ja auf das große Ja Gottes. Sie meinen es ernst, wenn sie einen anderen fragen: Wie geht es dir? Sie setzen Zeichen gegen die Meinung, menschliches Leben sei nicht der Rede wert.

Wir können wissen, was wir beten sollen. In Jesu Namen.

Amen.