Predigt am Sonntag Exaudi in der Genezareth-Kirche in Erkner (Psalm 98,1a)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

I.

Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Dieses Wort, liebe Gemeinde, weist am heutigen Tag unserem Erinnern den Weg. Widersprüchlich sind die Bilder, die vor unser Auge treten. Wie bringen wir sie zusammen?

Wenn wir uns an die Wiedereinweihung der Genezareth-Kirche vor fünfzig Jahren erinnern, dann bleibt es nicht aus, dass wir daran zurückdenken, wie es vorher war. Wir werden in die Zeit der Ruinen zurückversetzt. Wir denken an die Nachkriegsjahre, als die Menschen klein aussahen vor den Ruinenbergen, in denen der Zweite Weltkrieg seine deutliche Spur hinterlassen hatte – jener Krieg, der aus deutscher Allmachtsphantasie und deutschem Vernichtungswahn hervorgegangen war.

In jenen Trümmerjahren wurde Johannes R. Becher beauftragt, eine Nationalhymne für die neu gegründete DDR zu schreiben. Dabei griff er zu den Anfangsworten: „Auferstanden aus Ruinen / und der Zukunft zugewandt, / lass uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland. / Alte Not gilt es zu zwingen, / und wir zwingen sie vereint, / denn es muss uns doch gelingen, / dass die Sonne schön wie nie / über Deutschland scheint, / über Deutschland scheint.“

Auch im völlig zerstörten Erkner werden die Menschen dieses neue Lied gehört haben. Vielleicht sogar mit ungläubigen Ohren. Denn Ruinen gab es in Erkner mehr als genug. Nach Kriegsende waren die unbeschädigten Häuser schnell gezählt. Die ersten Nachkriegsjahre waren geprägt von Hunger und Not, von der Trauer über gestorbene Angehörige und von der zarten Hoffnung, dass der Frieden Wurzeln schlagen möge.

Die katholische St. Bonifatius-Kirche war auf Weisung des sowjetischen Stadtkommandanten wieder aufgebaut worden. Die evangelische Genezareth-Kirche war nach wie vor zerstört. Nur noch der Turm ragte über die Dächer von Erkner empor. Das Pfarrhaus, die alten Taufbücher im Gemeindearchiv und das gesamte Inventar waren verbrannt.

Johannes R. Becher, der Dichter der neuen Nationalhymne, wird 1950 Abgeordneter der Volkskammer und Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste. 1954 wird er Minister für Kultur in der DDR und bleibt dies bis zu seinem Tode im Oktober 1958. Am Einweihungsgottesdienst der Genezareth-Kirche hat er nicht teilgenommen, obwohl hier in Erkner eine Auferstehung aus Ruinen gefeiert wurde. Auf die Auferstehung von Kirchen war das „neue Lied“ von Johannes R. Becher nicht gemünzt. Daran hatte er nicht gedacht mit seinem „Auferstanden aus Ruinen“.

II.

Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Seit 1949 war Herbert Dreysing Pfarrer der Genezareth-Gemeinde in Erkner. Auf seiner Schreibmaschine entstanden, so weit ich weiß, keine lyrischen Texte oder neue Lieder. Pfarrer Dreysing schrieb und beantragte vielmehr unzählige Genehmigungen, Baustoffe und Gelder, damit der Wiederaufbau der Genezareth-Kirche möglich wurde. Er schrieb, was die Tasten hergaben. 5000 der 6000 Einwohner der Stadt waren Christen und die Evangelischen brauchten dringend eine Kirche.

Während die Situation in Ostdeutschland immer dramatischer wurde und schließlich auf den Volksaufstand am 17. Juni 1953 zulief, erhielt Johannes R. Becher im März 1953 den "Stalinpreis für die Festigung des Friedens zwischen den Völkern". Als Stalin kurz darauf starb, schrieb der inzwischen fast 62jährige Becher: „Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken; / in jeder Stadt steht Stalins Monument. / Dort wirst du, Stalin, steh'n, in voller Blüte / der Apfelbäume an dem Bodensee, / und durch den Schwarzwald wandert seine Güte / und winkt zu sich heran ein scheues Reh." Übrigens: Ich lebte damals im Schwarzwald und habe nichts davon gemerkt, dass Stalins Güte durch den Schwarzwald wanderte und ein scheues Reh zu sich heranwinkte.

Bechers eigener Sohn hatte sich damals bereits von seinem Vater abgewandt: "Erkennst Du nicht, dass Deine Macht nur eine Illusion ist, Vater?" Und er schreibt ihm weiter: "Schau mit offenen Augen, und Du musst wahrnehmen, dass die deutsche Jugend in Deiner demokratischen Republik vorbereitet und trainiert wird für ein noch größeres Blutbad. Blick auf die wieder marschierende Jugend. Hast du das nicht schon einmal gesehen?"

Für die Christen in der DDR beginnt eine schwere Zeit. Jugendliche fliegen von den Oberschulen, weil sie das Kugelkreuz der Jungen Gemeinde tragen. Es gibt Verhaftungen, Bespitzelungen und die Tendenz, die Kirche insgesamt als ein überholtes Relikt aus früheren Tagen zu betrachten, das sich bald erledigt haben wird.

Noch können viele erzählen, wie der Geist Gottes in diesen Phasen der Ohnmacht, der Schwachheit und der Not zum nächsten Schritt Mut machte. Die Genezarethkirche wurde wieder aufgebaut, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Glieder der jungen Gemeinde blieben auf ihrem Weg, allen Repressalien zum Trotz. Die Kirche löste sich nicht auf, obwohl die Herrschenden davon überzeugt waren, das werde spätestens nach einer Generation erledigt sein – also 1979. Die Mauer hatte keinen ewigen Bestand, sie öffnete sich wieder - 1989.

Auf diesem Weg blieb die Zusammengehörigkeit der Christen ein hohes Gut. Gemeinsam sangen sie in neues Lied, auf den großen Kirchentagen wie in Leipzig 1954 oder in Berlin 1961 – sogar der Bau der Mauer wurde damals verschoben, weil man den Kirchentag erst abwarten wollte. Partnerschaften bilden sich, die auch die organisatorische Trennung unserer Kirchen und in unserer Kirche ihrer beiden Regionen überstehen. Immer wieder dieselbe Schilderung einer tiefen Zusammengehörigkeit. Immer wieder Beispiele dafür, wie das geht, dem Herrn ein neues Lied zu singen, als Dank für seine Wunder. Ein Bericht unter vielen klingt so: Ein Posaunenchor empfängt uns. Wir stehen um den Chor herum und singen unsere Kirchenlieder, mitten auf dem Bahnsteig. Frauen der Bahnhofsmission gehen am Zug entlang und teilen warmen Tee aus. Man kann ihnen die große Freude an den Gesichtern ablesen. Das ist auch beim Posaunenchor der Fall, der die Mühe nicht gescheut hat, in früher Morgenstunde um 3 Uhr auf dem Bahnhof zu sein, um uns einen schönen Empfang bereiten zu können.“

III.

Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. Der HERR lässt sein Heil kundwerden; vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar.  Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel, aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes. Jauchzet dem HERRN, alle Welt, singet, rühmet und lobet!  Lobet den HERRN mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel! Mit Trompeten und Posaunen jauchzet vor dem HERRN, dem König! Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Die Ströme sollen frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor dem HERRN; denn er kommt, das Erdreich zu richten. Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.

So heißt es im 98. Psalm. Der Sonntag Exaudi ist ein wunderbares Datum, um sich an das Wunder von Erkner vor fünfzig Jahren zu erinnern. Unser Gott ist die richtige Adresse, um ihm mit lautem Jubel für Bewahrung und Führung zu danken. Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder. Pfarrer Deysing schrieb damals: „Wer das alles miterlebt und gesehen hat, mit welcher Opferfreudigkeit sich die Gemeinde eingesetzt hat, der konnte wirklich sagen: hier ist lebendige Gemeinde!“ Eins fügte sich zum anderen: Geld, Baumaterialien, Einfuhrgenehmigung für Rohstoffe aus dem Westen, Arbeitsleistungen der örtlichen Betriebe und Handwerker und natürlich der unermüdliche Einsatz zahlreicher Gemeindeglieder.

Schließlich war es soweit, dass die Genezareth-Kirche heute vor fünfzig Jahren wieder eingeweiht werden konnte. Die Gemeinde hat mit dem Wiederaufbau mehr wiedergefunden, als verloren gegangen war. Die Erfahrung des Zusammenstehens im Namen Jesu Christi wurde zu einem neuen Lied, das trägt, auch auf dem Weg zu künftigen Jubiläen der Genezareth-Kirche.

HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und erhöre mich. Das ist der Leitvers des Sonntags Exaudi. Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten können wir neu entdecken, dass die Psalmen Gebete sind, die den Geist Gottes in sich tragen. Das wird spürbar, wenn wir in die alten Worte einstimmen und so das eigene Schweigen brechen.

IV.

Und wie sieht es heute in der Kirchengemeinde Erkner aus? Sind sich die Einwohner dieser Stadt nahe bei Berlin bewusst, was für eine Geschichte sich mit der Genezareth-Kirche verbindet? Wissen sie um die Stärken der christlichen Lebenskunst?

Christen singen ein neues Lied und bezeugen Gottes Wunder. Dennoch sehen Christen nicht immer erlöster aus als andere, noch nicht, weil sie mit beiden Beinen auf dem Erdboden stehen und das Harren und der Kreatur selbst spüren oder das Seufzen anderer Menschen zur eigenen Sache machen. Aber Christen sehen erlöster aus, jetzt schon, weil Gottes Geist sie beflügelt und ihnen ganz  unmittelbar das Geschenk der Freiheit der Kinder Gottes in die Hände gibt, heute wie vor fünfzig Jahren.

Mit beiden Beinen auf der Erde, aber getröstet durch den, der die Herzen erforscht. Mit nüchternem Blick auf unsere Grenzen, aber berührt vom Zutrauen Gottes in unsere Fähigkeiten. Gebunden an die Bedingungen unserer Zeit, aber durch die Taufe erneuert und bewegt. Mit einem klaren Blick auf Friedlosigkeit und Ungerechtigkeit um uns her, aber von Gott schon hineingenommen in eine Bewegung, in der Frieden und Gerechtigkeit sich unlöslich miteinander verbinden, ja, wie der Psalm sagt, in der Frieden und Gerechtigkeit einander küssen – so gehen wir Tag für Tag unseren Weg. Wir lassen uns hineinnehmen in die Geschichte Jesu Christi, die vom Tod ins Leben führt. Schon jetzt singen wir ein neues Lied, das Lied der Zukunft, deren Kinder wir sind. Wir warten nicht nur auf Wunder, die kommen. Wir preisen die Wunder, die wir selbst erlebt haben und erleben. Vor fünfzig Jahren wie heute und morgen. Wir danken Gott für allen Segen, den diese Gemeinde erfahren hat. Und wir bitten Gott um seinen Segen für ihren weiteren Weg. Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.

Amen.