Predigt über Johannes 3, 1-8 in St. Finian’s Lutheran Church in Dublin

Wolfgang Huber

I.

„Wir verbrachten fünf Stunden in diesem Dorf, und die Zeit verging schnell, weil nichts geschah.“

Von Heinrich Böll stammt dieser Satz. Doch das Zitat aus seinem „Irischen Tagebuch“ wäre gründlich missverstanden, wenn es auf den ersten Tag der Reise der Delegation des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hier nach Dublin bezogen wäre.

Da müsste der Satz Heinrich Bölls kräftig abgeändert werden und lauten: Wir verbrachten bereits 24 Stunden in dieser wunderbaren Stadt; die Zeit verging rasend schnell, weil das Programm so dicht gefüllt und die Begegnung von herzlicher Gastfreundschaft geprägt war.

Dafür, dass dieser Besuch so inhaltsreich begann und sich fortsetzt, danke ich Ihnen allen namens unserer Delegation von ganzem Herzen!

II.

Heinrich Böll fängt mit diesem einen Satz eine Atmosphäre des Stillstands ein. Während seiner Wanderung durch dieses wunderbare Land, so berichtet er, stößt er unvermutet auf ein verlassenes Dorf. „Alles, was nicht Stein war, weggenagt von Regen, Sonne und Wind. Wir verbrachten fünf Stunden in diesem Dorf, und die Zeit verging schnell, weil nichts geschah: nur ein paar Vögel scheuchten wir hoch, ein Schaf floh vor uns durch eine leere Fensterhöhle den Berg hinauf. Wir gingen von Haus zu Haus: ‘Hier stand der Herd’ – ‘Dort das Bett’ – ‘Hier über dem Kamin hing das Kruzifix’ – ‘Da ein Wandschrank’.“ Es scheint, als wäre an diesem Ort der Stillstand zuhaus, und als seine Nachbarn lebten dort Ernüchterung und Einsamkeit.

Ein Ort in Irland wird geschildert, wie ich ihn mir nach den bisherigen Erfahrungen unserer Reise unmöglich vorstellen könnte. Einen Ort beschreibt Heinrich Böll, der für mich dunkle Farben trägt; die Farben des Abends und der Nacht, in denen die Stunden des Tages sich nur noch schemenhaft erinnern lassen, weil das Dunkel der Einsamkeit und des Zweifels sich in den Vordergrund drängt. An einem solchen Ort und bei solchen Farben werden die Fragen laut: Wo ist das Leben? Wo wächst die Hoffnung? Von woher bläst der frische Geist neuen Lebens?

Fragen sind das, die in der Helligkeit und Hitze des Tages leicht überhört werden. Der schnelle Rhythmus der alltäglichen Geschäftigkeit gönnt keine Ruhe und drängt die Grundfragen des Lebens in den Hintergrund. Dann ist das Erschrecken umso größer, wenn nach eines Tages Wanderung mit einem Mal am Abend oder in der Nacht das Dorf des eigenen Lebens da liegt wie ein Schatten seiner selbst. Wo ist das Leben? Wo wächst die Hoffnung? Von woher bläst der frische Geist neuen Lebens?

III.

Es ist kaum ein Zufall, dass der gelehrte Pharisäer Nikodemus sich bei Nacht zu der Begegnung mit Jesus aufmacht. Bei Nacht zu einem andern zu gehen, hat den Vorteil, dass man nicht gesehen wird. Für einen Kontakt auf Probe ist das besser. In vielen Situationen hat sich das schon bewährt, ehrbaren oder auch weniger ehrbaren. Man kränkt Nikodemus nicht, wenn man sagt: Auf seine Verbindung zu Jesus will er nicht sofort festgelegt werden. Es handelt sich um einen Versuch. Ob er Folgen haben wird, zeigt sich erst später.

Die Nacht aber führt auch das Gefühl von Zeit und Ruhe mit sich. Das Dunkel der Nacht hat eine eigene Qualität, eine besondere Intensität. Nachtgespräche tragen eine ungeahnte Klarheit in sich; nächtliche Entscheidungen erweisen sich mitunter als besonders wagemutig.

Nikodemus will festen Grund unter die Füße bekommen. Er will dem Dorf seines Lebens zu neuer Blüte verhelfen. Er hält sich dazu an einen, von dem er den Eindruck hat, er sei von Gott gesandt. Denn Jesus vollbringt Zeichen, wie sie nur in Gottes Namen möglich sind: Er erneuert die Freude auf einem Fest, indem er Wasser in Wein verwandelt. Den Tempel erneuert er, indem er seinem Missbrauch als Krämerbude ein Ende setzt. Was aber ist sein Vorschlag für die Erneuerung des einzelnen Menschen, für die Erneuerung des Lebens? „Nur wer von neuem geboren wird, kann das Reich Gottes sehen“. So heißt Jesu Antwort.

Nikodemus erhebt einen Einwand, der auf der Hand liegt. Geboren werden wir nur einmal. Was er vorbringt, verstehen wir sofort. Der nüchterne Widerspruch behält sein Recht, obwohl die Rede von der Wiedergeburt auch heute wieder fröhlich Urstand feiert. Gleich in doppeltem Sinn ist das Fall. Wiedergeburt ist den einen eine Bedingung dafür, dass man ein richtiger Christ ist. Denn ganz richtig, so meinen sie ist man nur als reborn Christian. Von einer anderen Wiedergeburt reden Menschen, die fragen, was nach dem Tod kommt. Die Zahl der Menschen ist beachtlich, für die in diesem Sinn Wiedergeburt, Reinkarnation eine wichtige religiöse Vorstellung ist. Sie hoffen, das Dorf des Lebens in einer anderen Zeit wieder errichten zu können.

Doch mit der Vorstellung, dass wir selbst in anderer Gestalt wiedergeboren werden, nehmen wir uns selbst vielleicht zu wichtig. Die Ewigkeit, die Gott uns verheißt, lässt sich kaum in einer solchen Vorstellung von Wiedergeburt einfangen. Wir werden an Gottes Reich in seiner Fülle teilhaben. Nicht das Dorf unseres Lebens soll umgebaut werden, sondern Gott verheißt, dass er sein Haus mitten unter uns bauen wird. „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen.“ Die himmlische Stadt öffnet ihre Tore für alle, wir werden hineingenommen in die ungeteilte Gemeinschaft, die Gott schenkt.

Die Wiedergeburt, von der Jesus redet, zielt auf dieses, nicht erst auf ein späteres Leben. Von einer Erneuerung unseres Lebens kann nur die Rede sein, wenn sie sich jetzt vollzieht. Jesus bezweifelt, dass es Christen gibt, die wiedergeboren werden, und andere, von denen sich das nicht sagen ließe. Christsein ist gar nichts anderes, als aus dem Geist geboren zu sein.

IV.

Wie ist das möglich? So fragt schon Nikodemus. Wir können doch nicht in den Leib unserer Mutter zurückkehren, um noch einmal geboren zu werden! Nein, antwortet Jesus, es geht nicht um eine Wiederholung der Geburt aus dem Leib der Mutter. Es geht um eine Neugeburt aus Wasser und Geist.

Der Hinweis auf das Wasser ist entscheidend. Denn die Taufe mit Wasser ist das zentrale Unterpfand der Neugeburt, des Neuwerdens. Die Taufe im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, im Namen der Heiligen Dreieinigkeit, an die der heutige Sonntag Trinitatis so deutlich erinnert. Ich freue mich, dass wir in diesem Gottesdienst die Taufe von Madelina Spillane und Fara Ilena Söby McNamara-Petersen feiern.

So erleben wir, wie wichtig die Taufe ist. Gerade eben, zum Pfingstfest, hat die Evangelische Kirche in Deutschland mit einer neuen Orientierungshilfe diese große Bedeutung der Taufe hervorgehoben. Die Taufe ist Sinnbild und Siegel der Erneuerung. Sie nimmt uns hinein in die Geschichte Jesu Christi und lässt uns an der Freiheit der Kinder Gottes teilhaben. Die österliche Verheißung, dass Gott Leben wirkt und Leben schafft über den Tod hinaus, wird in der Taufe persönlich konkret. Die Taufe stiftet einen Bund zwischen Gott und Mensch, sie zeichnet das Leben eines Menschen ein in Gottes Hände.

Doch die Taufe kann allein nicht garantieren, dass wir als Christen vor Verknöcherung bewahrt bleiben. Ein guter Anfang gewährleistet noch nicht ein gutes Ende. Deshalb ist noch etwas anderes vonnöten: der Geist, der lebendig macht und lebendig erhält.

V.

Kann man denn auf einen solchen Geist rechnen? Wo er sich doch nach Jesu Auskunft ganz unstet verhält! „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Was ist das für ein unberechenbarer, ein nahezu anarchischer Geist, der sich aller Vorhersage entzieht? Es ist Gottes Geist, der sich nicht verrechnen lässt mit den Bauplänen unseres Lebens. Dietrich Bonhoeffer hat das einmal wie folgt formuliert: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ Das Leben im Kraftbereich des Geistes Gottes ist kein Leben mit doppeltem Boden und besonderer Schutzschicht. Es ist ein Leben in der Hoffnung auf das Neue, das anbricht. Für Gottes Geist gibt es keine Garantie. Aber Gottes Geist ist eine Garantie für Unvorhersehbares und Überraschendes.

Aus einer Kirchengemeinde wurde mir folgende Begebenheit berichtet: Eine Frau aus dem Besuchskreis klingelt eines Tages an einer Tür. Das Geburtstagskind, dem sie die Glückwünsche der Gemeinde überbringen will, war ihr schon aus Besuchen in den Vorjahren bekannt. Ob sie den Jubilar antreffen würde, wusste sie nicht. Oft genug sind gerade Geburtstagskinder unterwegs. Doch die Tür ging auf. Kaum war die Besucherin in den Flur eingeladen worden, wurde sie auch schon zum Tanz aufgefordert. Und weil das so charmant geschah, begannen beide an zu tanzen. Aus dem Geburtstagsbesuch wird ein ebenso überraschendes wie beglückendes Erlebnis. Was befremdlich beginnt, wird zu einem Tanz der Freiheit.

Der Geist weht, wo er will. Er dringt ein in die Mauern und Räume des Lebens, unvorhersehbar, unberechenbar, heilsam. Wo Menschen sich auf Gottes Geist einlassen, öffnen sie sich für die Kraft der Erneuerung. Inmitten alltäglicher Freuden und Sorgen, im zuversichtlichen Vertrauen auf unsere Kräfte wie angesichts unserer Schwächen wissen wir: Jeder Tag ist ein Tag der Wiedergeburt, der Beginn eines neuen Lebens.

Diesen Geist wollen wir weitergeben. Gewiss: Dieser Geist weht, wo er will. Aber wir können uns blind für ihn stellen oder ihn aufspüren. Wir können uns ihm verschließen oder offen für ihn sein. Christliche Gemeinden, an welchem Ort in der Welt auch immer, sind neugierig für das Wirken des Geistes. In christlichen Gemeinden verbinden sich Menschen miteinander, die einander beim täglichen Neuanfang beistehen. Sie schauen danach aus, dass der Wind, der weht, wo er will, zum Rückenwind wird. Und sie tanzen, wenn sie dazu eingeladen werden. Was befremdlich beginnt, wird zu einem Tanz der Freiheit.

Amen.