Mein Psalm 2008 - Predigt über Psalm 139, Kirche am Hohenzollerndamm, Berlin

Wolfgang Huber

I.

Morgenrot über Belfast. Gestern morgen war es, gestern erst. Früh mussten wir aufbrechen. So wurde uns zuteil, was wir die Tage vorher versäumt hatten: das Rot des Morgens über der grünen Insel. Dabei hätten wir es auch schon vorher erleben können, in Dublin, der Hauptstadt der Republik Irland zuerst, und dann in Belfast, dem Zentrum Nordirlands. Wir hätten schon vor dem letzten Morgen darüber staunen können, dass das Morgenrot auch an diesen äußersten Rand Europas reicht – „nähme ich Flügel der Morgenröte“. Ein Bote der Versöhnung ist diese Morgenröte, sie reicht bis an die äußersten Enden der Erde – und wird doch so oft verschlafen. Verschlafen wie von mir an anderen Tagen. Verschlafen wie über so lange Zeit auch in Nordirland, das ein trauriges Exempel für Unversöhnlichkeit setzte: zwischen Nationalisten und Unionisten, Katholiken und Protestanten. „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Wie oft verkennen Menschen, so dachte ich am frühen Morgen in Belfast, wessen Hand sie hält, und gehen eigenmächtig ihren Weg. Wie oft setzen sie ihre eigenen Loyalitäten – zur ethnischen Zugehörigkeit, zur eigenen politischen Option – über die Loyalität zu dem einen Gott. „Loyalists“ – so wurde eine der streitenden Parteien in Nordirland auch genannt – welch ironischer Name.

Am Karfreitag 1998 wurde das Friedensabkommen für Nordirland unterzeichnet. Zehn Jahre liegt das zurück. Nur verhalten wurde das Jubiläum gefeiert. Noch immer ist man auf dem Weg. Aber die Veränderung in Irland ist ein Zeichen der Hoffnung. Auch wenn sie spät kam, am äußersten Meer.

Morgenröte auch heute. Nun ließ der Ortswechsel mich in der Frühe aufwachen, als das Rot des Morgens gerade über dem Horizont erschien. Ich hatte die Flügel der Morgenröte genommen und fand mich wieder am andern Ort vor, glücklicherweise zu Hause. Wieder erlebte ich den Augenblick zwischen Nacht und Tag, zwischen Finsternis und Licht – jenen Übergang, der durch das Rot geprägt ist, die Farbe der Liebe. Sie überbrückt Gegensätze, die sonst als unüberbrückbar erscheinen. Tag und Nacht, Licht und Finsternis bilden einen solchen Gegensatz.

„Finsternis ist wie das Licht.“ Dieser Satz steht in der Mitte unseres Psalms und verleiht ihm sein inneres Gleichgewicht. Ein Satz ist das freilich, der allem logischen Denken zu widersprechen scheint. Denn für selbstverständlich halten wir, dass Finsternis finster ist; licht und hell ist allein das Licht. Wie Feuer und Wasser schließen Licht und Finsternis einander aus. Hat nicht Gott selbst sie im Schöpfungsakt voneinander getrennt und in der Ordnung seiner Schöpfung dieser Unterscheidung Dauer verliehen? „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“

Seit Gottes anfänglicher Schöpfungstat vollzieht sich unser Leben ausgespannt zwischen Morgen und Abend, zwischen Tag und Nacht. Niemandem bekommt es auf Dauer gut, wenn er die Nacht zum Tage machen will. Gewiss: Manche Nächte laden gerade zum Verweilen ein, in ihnen öffnen sich Räume oder Herzen, Licht und Leben dringen vor ins Dunkel der Nacht. Nikodemus sucht Jesus in der Nacht auf, wie wir vorhin im Evangelium hörten. Darin liegt nicht nur ein Zeitgewinn; sondern das erweist sich auch als ein Schutzraum für eine Begegnung, ohne gesehen und erkannt zu werden, für eine Begegnung auf Probe also. Auch für andere, weniger ehrenhafte Vorhaben wird das Dunkel der Nacht gesucht; sie müssen dann notfalls ans Licht des Tages gezogen, ja gezerrt werden.

Doch weh dem, der der Finsternis ihr eigenes und eigentliches Geheimnis zu rauben versucht! Der Rhythmus von Tag und Nacht, von Hell und Dunkel tut uns wohl. Studien sagen, dass tiefer schläft, wer im Dunkeln ruht.

II.

Dass der Schreiber dieses Psalms ruht, vermag ich mir nicht vorzustellen. Er sitzt und er steht auf; er legt sich nieder und geht umher, dreht seine Runden im Haus oder draußen vor der Tür. Innerlich schreitet er die Weltenordnung ab von der Tiefe des Ortes der Toten bis hinauf in die Höhen des Himmels, verkrochen unter der Decke der Finsternis wie emporgeschwungen auf den Flügeln der Morgenröte. Eine Unruhe wird spürbar, ein Suchen und Fragen. Es kommt mir so vor, als wolle er die Welt vermessen. Als wolle er jeden Ort und Winkel dieser Erde auskundschaften, um es bestätigt zu bekommen: Gott ist schon da. Hinter dem letzten Stern, der unserer Messtechnik sichtbar ist genauso wie im Kraftfeld inneratomarer Strukturen – du, Gott, bist schon da. Am Beginn unseres Lebens, schon im Mutterleib, und am Ende unseres Lebens, den toten Körper bereits zurücklassend – du, Gott, bist bei uns.

Anders als mancher Fragesteller unserer Tage, der den Messstab der Naturwissenschaft mit letztem Ernst und größter Genauigkeit anlegt, nur um die längst gefasste Meinung bestätigt zu finden, dass Gott an keinem Ort dieser Welt zu finden sei, anders als diese Erforscher der Unmöglichkeit Gottes ist es das Ziel des Psalmisten, Gott aufzuspüren. Ihn zu entdecken. Er hält sich an die Gewissheit, dass Gott die Welt nicht sich selbst überlässt. Keine naturwissenschaftliche Messtechnik verbietet es, die Perspektive des Psalmisten zu übernehmen, uns von den Flügeln der Morgenröte ans äußerste Meer tragen zu lassen und Gott auch dort noch aufzufinden. Wenn das unser Herz bewegt, findet dieses Herz Ruhe. „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“

Gottes Wirken bis an die Enden der Erde zu verfolgen, setzt uns freilich zugleich in Bewegung. Dass Gott in seiner Güte den Erdkreis umfasst, ist der Grund, dessentwegen unser Herz berührt wird, wenn am andern Ende der Erde Menschenleben zu Schaden kommen oder von der notwendigen Hilfe abgeschnitten werden. Die chinesische Provinz Sichuan – die Provinz des „guten Menschen von Sezuan“ – rückt plötzlich ins Blickfeld; und die Regierenden in China praktizieren dabei eine überraschende Offenheit. Die Erdbebenkatastrophe dort rührt uns in diesen Tagen ebenso an wie das Leiden in Birma, wo eine Militärdiktatur meint, ihre Herrschaft auch noch dadurch beweisen zu müssen, dass sie Menschen von der Hilfe absperrt, die sie doch so dringend brauchen. Könnte doch die staunenswerte Weite des Psalmisten noch mehr Herzen dazu bewegen, Gott an den Enden der Erde und gerade deshalb auch in den Winkeln des eigenen Herzens aufzuspüren.

III.

Der Psalmist findet Gott. „Finsternis ist wie das Licht.“ „zu sagen die nacht sei das licht ist zu nehmen das wort den pfad - und die rast in den mund. darin ich dich finde. darin ich nicht suche denn du bist allhier.“ dichtet Uljana Wolf. Gott scheint aus allen Ritzen dieses Lebens. Seine Gegenwart und seine Güte sind allgegenwärtig. Auf den schwarzen Schmauchspuren von Streit und Unfrieden liegt der Schein des aufgehenden Lichts der Versöhnung. Das Dunkel der Ratlosigkeit und die Sorge der finsteren Nacht werden durchzogen von einem Schimmer der Hoffnung. In der Trauer über den Tod eines Menschen leuchtet erst zaghaft dann immer stärker das Morgenlicht des Ostertages. In unsere Sorge um einen nahen Menschen bricht dieses Licht hinein und verwandelt unsere Sorge in Hoffnung.

Vorgestern Abend in Nordirland berichteten zwei Geistliche aus Ballymena, einem Ort nahe Belfast. Der ältere der beiden, er mag bereits siebzig Jahre alt sein, hatte öffentlich in einer Zeitungsanzeige um Verzeihung gebeten für Gewalttaten katholischer Bürger Nordirlands. Daraufhin wurde sein Kirchengebäude beschmiert. Dies wiederum ließ den jungen presbyterianischen Pfarrer in seiner Gemeinde dazu aufrufen, die katholische Kirche in einer gemeinsamen Aktion zu säubern. Eine Gruppe von Protestanten folgte ihm; sie setzten ein Zeichen der Versöhnung in einem geschundenen Land. Zugleich aber wurde er von einer paramilitärischen protestantischen Einheit herausgefordert, seine Motive für diese Tat zu nennen. Es war sehr bewegend, der Erzählung dieses jungen Mannes zuzuhören, der sich unter Lebensangst zu diesem Versöhnungsdienst entschloss und so zu einem Botschafter an Christi Statt wurde. Obwohl sein Leben ein anderes Ende nahm, musste ich unwillkürlich an Jochen Klepper denken, der seiner Hoffnung so Ausdruck gab: „Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichts kam euch die Rettung her. Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“

IV.

Mein Psalm 2008 beschreibt die Verwandlung der Finsternis in das Licht Gottes. „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Der Psalmbeters entdeckt Gott mitten in der Welt, auch mitten in der Finsternis. Sein eigenes Leben dient ihm als Erweis von Gottes Gegenwart. Gott kennt ihn von Anbeginn; jedes seiner Worte ist Gott vertraut. Noch ehe es gesprochen ward, hat er es gehört. In Jesus Christus ist Gott selbst Wort geworden, Wort der Versöhnung und des Lebens. Deshalb haben mittelalterliche Mönche dieses Wort in so kostbarer Gestalt geschrieben, sei es im irischen Book of Kells, im Evangeliar Heinrichs des Löwen oder im Brandenburger Evangelistar. Den Mönchen war das Schreiben Meditation – kunstvoll kaligraphierte Inkarnation: „im sitzen und stehen in zeilen gewirkt.“

Gott ist Wort. Er kommt im Wort zur Welt. Es ist das Wort, das Licht bringt in die Finsternis. Auch in die Finsternis des Psalmbeters. Denn sein eigenes Leben kennt neben der Anbetung und dem Staunen über Gottes Größe und den Reichtum seiner Werke auch immer wieder die Erfahrung von Hass und Gewalt. Er kennt eigenes Versagen und verschließt die Augen davor nicht. Er übergibt sich Gott im Gebet. Er betet zu dem, dessen Gedanken und Wege ihm groß und unbegreiflich sind: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“

So bittet er. Denn er weiß: Gott macht uns heil. Sein Licht umhüllt für ein ganzes Leben und umstrahlt in Ewigkeit. Es lässt wirklich werden, was der Beter erhofft: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

Amen.