Predigt im Berliner Dom (2. Thessalonicher 3,1-5)

Wolfgang Huber

I.

Nein, mit Fußball hat es nicht zu tun, dass ich Ihre Gedanken kurzzeitig in die griechische Stadt Thessaloniki entführen möchte. Griechenland, der Fußball-Europameister des Jahres 2004, spielt nicht mehr mit. Die Mannschaft ist bereits ausgeschieden. Das konnte auch Otto Rehhagel nicht verhindern. Es gibt aber auch andere Gründe, an Thessaloniki zu denken.

Nehmen Sie es an diesem hellen und klaren Sonntag morgen zunächst als eine Art Gedächtnistraining - oder, wie man heute sagt, Gehirnjogging. Vielleicht hilft es Ihnen bei dem nächsten Quiz, an dem Sie sich beteiligen.  Was wissen Sie von Thessaloniki? Können Sie die 500.000 Euro-Frage beantworten: Wann war Thessaloniki Kulturhauptstadt Europas? Eine Stadt, immerhin mit 384.000 Einwohnern, hat das wohl verdient, dass wir uns das merken. 1997 heißt die richtige Antwort.

Fragen über Fragen. Es könnte Ihnen in diesem Sommer vielleicht auch widerfahren, dass Sie entspannt in einem Strandkorb an der Ostsee sitzen, auf Ihr Kreuzworträtsel schauen und dort die Frage finden: Wie hieß die erste christliche Gemeinde in Europa? Die Frage ist noch leicht; Philippi heißt die richtige Antwort. Aber was, wenn das Kreuzworträtsel Sie nach der zweiten christlichen Gemeinde auf europäischem Boden fragt? Dann, Sie ahnen es schon, kann die richtige Antwort nur Thessaloniki lauten.

Paulus, so berichtet die Apostelgeschichte, besucht auf seiner zweiten Missionsreise diese damals bereits über 300 Jahre alte Stadt und gründet dort um das Jahr 50 die zweite christliche Gemeinde in Europa. Weil er in der örtlichen Synagoge die Schrift auslegt und so Sympathisanten aus dem Umfeld der jüdischen Gemeinde für Jesus Christus begeistert, entsteht eine ungewohnte Konkurrenzsituation. Manche halten das für Abwerbung und sind nicht gut auf Paulus zu sprechen. Es gibt Aufruhr, dem Paulus und Silas nur durch eine überhastete Abreise bei Nacht und Nebel entkommen. Doch das Evangelium hat seinen Lauf begonnen. Im Neuen Testament finden sich zwei Briefe, die an diese Vorgänge in Thessaloniki anknüpfen. Im zweiten Thessalonicherbrief heißt es:

Weiter, liebe Brüder, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi.

II.

Die ersten Christen in Thessaloniki werden aufgefordert, dafür zu beten, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde. Ein wunderbarer Wunsch! Das Bild von dem Wort, das läuft, ist in diesen Tagen leicht nachzuvollziehen. Wir brauchen nur daran zu denken, wie wunderbar es ist, wenn der Ball läuft. Zweimal Doppelpass und dann das erlösende Tor. Aller Widerstand zwecklos. Dass das Wort Gottes läuft und die Menschen gewinnt, das ist ein guter Wunsch.

Aber wir kennen alle auch Fehlpässe, das ängstliche Hin- und Herschieben, ohne dass irgendetwas vorangeht. Auch Ballverluste sind zurzeit Abend für Abend zu besichtigen. Wenn ausdrücklich darum gebeten wird, dass das Wort Gottes läuft, dann ist dieses Wort offenbar kein Selbstläufer. Es scheint ungewiss zu sein, ob das Wort Gottes die Menschen tatsächlich erreicht.

Auch in den Anfängen der christlichen Gemeinde in Thessaloniki gibt es diese Ungewissheit. Paulus und Silas müssen die Flucht ergreifen. Unsicher und wenig ausgemacht ist der Ausgang dieses Unternehmens damals in der mazedonischen Stadt an der Via Egnatia, dem Hauptverkehrsweg zwischen Rom und Byzanz.  Falsche und böse Menschen behindern den Lauf des Evangeliums, Menschen, von denen es in unserem Brief wörtlich heißt, dass sie keinen Ort haben, dass sie ihren Ort nicht kennen. Ortlose Menschen stellen sich dem Lauf des Evangeliums entgegen.

Deshalb die nüchterne Feststellung: Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Erstaunlich, dass das schon im Neuen Testament steht. Es klingt, als stamme es von heute. Ein Satz unserer Umgangssprache: Glaube ist nicht mein Ding, mit Kirche habe ich nichts am Hut. Das klingt doch beinahe nach Berlin - oder nicht?

Obwohl der Glaube nicht jedermanns Ding ist, nimmt das Wort trotzdem seinen Lauf. Das Evangelium fasst in Thessaloniki Fuß - sogar über die Jahrhunderte hin und mit weitreichenden Auswirkungen. Im 9. Jahrhundert wird die christliche Gemeinde in Thessaloniki zum Ausgangspunkt der Slawenmission durch den in dieser Stadt geborenen Kyrill und seinen Freund Method.

Christen, Juden und Muslime lebten in der Hafenstadt Thessaloniki nebeneinander, manchmal miteinander und leider häufig auch gegeneinander. Im Jahr 1430 erobern die Türken unter Sultan Murat II. die Stadt. Aus Thessaloniki wird „Selânik“, fortan eine Stadt im Osmanischen Reich. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, in Thessaloniki geboren wird. Heute, da Thessaloniki wieder zu Griechenland gehört, ist Atatürks Geburtshaus ein kleines Museum und Teil des türkischen Konsulats. Aber als es 1955 einen Brandanschlag auf dieses Haus gab, löste das in der Türkei ein Pogrom gegen die dort lebenden Griechen von unvorstellbaren Ausmaßen aus. Seitdem leben kaum noch Menschen griechischer Herkunft in der Türkei. Auch das hat den Exodus des christlichen Glaubens aus der heutigen Türkei befördert. Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen: noch immer ist das eine große Aufgabe.

Schauen wir von Deutschland aus auf diese Stadt, so ist es besonders beschämend, dass die in Thessaloniki ansässigen Glieder der jüdischen Gemeinde unter der deutschen Besetzung nahezu ausnahmslos nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Nur ganz wenige überlebten. Diese Verbrechen werfen lange Schatten. Wenn wir daran denken, fällt es uns schwer, die Zuversicht zu wiederholen, die aus unserem Brief spricht: Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten.

III.

Warum, so muss man fragen, gehen Menschen so unerbittlich miteinander um? Warum wird die Empfehlung des zweiten Thessalonicherbriefes nicht berücksichtigt, auch dann Frieden zu halten, wenn gegensätzliche Meinungen aufeinander treffen? Warum fehlt es uns so oft an Gesprächsfähigkeit? Oder gilt eine Demonstration für Lohnerhöhungen in der Diakonie am Sonntagmorgen vor dem Berliner Dom als ein besonders überzeugendes Beispiel von Gesprächsfähigkeit? Ich zweifle daran und empfehle, dass wir am Sonntag miteinander Gottesdienst feiern und uns am Werktag um faire Verhandlungen über Lohn und Arbeitszeit bemühen. Ich glaube, das Gespräch führt weiter als Trillerpfeifen. Ausdrücklich begrüße ich diejenigen im Gottesdienst, die aus der Gruppe der Demonstrierenden zu uns gekommen sind. Und ich füge hinzu, dass unsere Kirchenleitung vor zwei Tagen, am vergangenen Freitag, dem Tarifvertrag zugestimmt hat, der mit den Gewerkschaften ausgehandelt worden ist. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass das, was für den Bereich des kirchlichen Dienstes damit gelungen ist, auch für den Bereich der Diakonie möglich wird.

In dem Brief an die Thessalonicher heißt es: Ihr aber, liebe Brüder, lasst's euch nicht verdrießen, Gutes zu tun. Wenn aber jemand unserm Wort in diesem Brief nicht gehorsam ist, den merkt euch und habt nichts mit ihm zu schaffen, damit er schamrot werde. Doch haltet ihn nicht für einen Feind, sondern weist ihn zurecht als einen Bruder. Er aber, der Herr des Friedens, gebe euch Frieden allezeit und auf alle Weise. Der Herr sei mit euch allen!

Das hören wir und haben dabei im Sinn, welche Dramen sich im Lauf der Geschichte in Thessaloniki abgespielt haben - dem zweiten Ort in Europa, an dem der Ruf des Evangeliums Wirkung erzielte. In Jesu Namen, der zur Feindesliebe aufforderte, als hätte er geahnt, was sich alles in Thessaloniki und anderswo ereignen würde, in Jesu Namen leben noch immer Christen in Thessaloniki, so wie hier in Berlin. Sie vertrauen auf die Treue Gottes. Sie halten sich an die Liebe Gottes und an die Geduld Christi. Sie trauen der Liebe Gottes mehr zu als menschlichem Hass und tötender Gewalt. Sie schauen auf Christus, der seine Geduld bis zum Tod am Kreuz bewies und dessen Geduld Gott bestätigte. Geduld - das ist die genaue Übersetzung von Toleranz. Wenn wir in unserer so zpiespältigen Welt irgend einen Grund zur Hoffnung haben, so ist es die Geduld Christi, die Toleranz Gottes mit uns, auf die sich diese Hoffnung stützt.

Das Wort Gottes nimmt seinen Lauf - häufig anders, als wir denken: Ortlos, zerfetzt und ohne Zusammenhang, fand sich im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ein beschriebenes Einwickelpapier mit den Gebetsworten: Gott, denke nicht nur an die Männer und Frauen guten Willens, sondern auch an die mit bösem Willen. Doch erinnere dich nicht an die Leiden, die sie uns zugefügt haben. Erinnere dich an die Früchte, die wir durch dieses Leiden gebracht haben, unsere Kameradschaft, unsere Loyalität, unsere Demut, unseren Mut, unsere Großzügigkeit, die Größe des Herzens, die daraus gewachsen ist. Und wenn sie zum Gericht kommen, lass alle Früchte, die wir hervorgebracht haben, ihre Vergebung sein.

Welche Frau während ihrer Zeit im Ravensbrücker Konzentrationslager dieses Gebet aufgeschrieben hat, ist nicht bekannt. Dass das Wort Jesu Christi seinen Lauf nimmt, ist dagegen gewiss. Uns mag es geschehen, dass wir im Strandkorb sitzend, mit unseren Gedanken nach Thessaloniki wandern, dorthin, wo das Evangelium laufen lernte. Dabei können sogar die richtigen Antworten für das nächste Quiz oder das Kreuzworträtsel zur Nebensache werden. Vielleicht müssen wir selbst mit unserem Glauben ganz von vorn beginnen und an unsere Anfänge zurückkehren. Was ist eigentlich unser Philippi, was ist unser Thessaloniki? Wo nimmt bei uns das Evangelium seinen Lauf? An einem Sonntag mitten im Sommer, hier in Berlin. Der Glaube ist nicht jedermanns Ding, aber er ist Deine Sache. Richte dein Herz nur aus auf die Liebe Gottes und die Geduld Christi.

Die Hindernisse, die sich dem Wort Gottes entgegenstellen, sind groß; aber das Wort nimmt seinen Lauf: ein Wort des Friedens und der Versöhnung. Heute suchen wir neue Wege für das Zusammenleben der Menschen, sei es in Berlin, in Thessaloniki oder in Istanbul. Dabei können wir von der zweiten christlichen Gemeinde Europas in Thessaloniki lernen. Weil Gott treu ist, kann seine Gemeinde ihm Glauben schenken; weil auf Gott Verlass ist, können wir auf ihn bauen; weil er glaubwürdig ist, können wir ihm alles zutrauen. Gott wird uns stärken und bewahren. Wir bekennen uns neu dazu, dass das Evangelium seinen Lauf nimmt und Wirkungen hervorruft. Wir alle sind Botschafter an Christi statt. Wir verlassen uns darauf, dass das Wort des Herrn läuft - und ewig bleibt.

Amen.