Predigt im Gottesdienst zum hundertjährigen Jubiläum des Ostkirchhofs Ahrensfelde

Wolfgang Huber

„Noch am Morgen der Beerdigung war ich unschlüssig, ob ich hingehen sollte". Mit diesem Satz beginnt eine 1982 entstandene Novelle des Schriftstellers Christoph Hein. Claudia, eine junge Ärztin in Ostberlin, hat sich in ihrem alltäglichen Klinikjob und in ihrer Wohnung eingerichtet. Eines Tages stolpert Henry, ihr Nachbar, regelrecht in ihr Leben hinein. Es hat sich so ergeben, dass sie ein Verhältnis miteinander eingehen. Aber nun ist er tot.

Claudia und Henry verbrachten höchstens zwei Tage pro Woche miteinander und manchmal die Wochenenden. Sie fuhren dann weg oder gingen ins Theater. Claudia möchte vermeiden, dass Alltagstrott in die Beziehung einkehrt. Sie denkt nie an die Zukunft. Claudia kann nicht sagen, was Henry ihr bedeutet. Sie hat bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich.

„Noch am Morgen der Beerdigung war ich unschlüssig, ob ich hingehen sollte". Als sie am Friedhof ankommt, sieht sie zwei Trauergesellschaften. Sie, die am Morgen noch etwas unschlüssig den schwarzen Mantel in die Klinik mitgenommen hatte, weiß nicht, wohin sie gehört - zu welcher Trauergesellschaft sie gehen soll. Sie kennt keinen seiner Freunde, Angehörigen oder Kollegen.

Christoph Heins Novelle über die Amputation einer Seele wurde damals in Ost und West verkauft, allerdings unter verschiedenen Titeln. Im Osten konnte man das Büchlein unter dem Titel „Der fremde Freund“ und im Westen als „Drachenblut“ lesen. Man konnte daran auch lernen, was geschieht, wenn man unter der Herrschaft des Materialismus seine Seele verliert – sei es unter dem gelehrten Materialismus des damaligen Ostens oder unter dem gelebten Materialismus des damaligen Westens.

Christoph Hein hat in seiner Novelle nicht verraten, ob Henry auf dem Ostkirchhof Ahrensfelde beerdigt wurde. Darauf kommt es auch nicht an. Mir geht bei dieser Novelle und beim Blick auf unser Leben in Berlin eine alte Frage durch den Kopf: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Wenn ich mich das selbst frage, merke ich, dass ich beim Kern meines Lebens angekommen bin. Wenn ich diese Frage einem andern stelle, so signalisiert sie ein unbändiges Interesse am Anderen. Wer so fragt, dem ist sein Mitmensch alles andere als egal. Im Gegenteil: Ich rechne damit, dass ein  Leben möglich ist, auf dem der reiche Segen Gottes ruht.

Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen (Johannes 6, 37). Unter diesem Wort wurde vor einhundert Jahren, am 30. Juni 1908, der Ostkirchhof Ahrensfelde eingeweiht, eingeweiht als ein Ort des Trostes und der Hoffnung. Angesichts des Todes in der Nähe Jesu Christi zu sein, das war von Anfang an seine Bestimmung. Dass Menschen Antworten finden können auf die Frage nach Halt und Trost im Leben und im Sterben, das war sein eigentlicher Sinn. Aber es ging dabei zugleich natürlich außerordentlich menschlich zu. Als dieser Friedhof vor einem Jahrhundert Gestalt gewann, begann dies mit dem Versuch, schon aus finanziellen Gründen die Pläne zur Errichtung dieser Musteranlage am Rande von Groß-Berlin geheim zu halten. Doch das war nur für eine begrenzte Zeit möglich. Spätestens im März des Jahres 1906 wird das Vorhaben öffentlich. Das Niederbarnimer Kreisblatt beglückwünscht die Gemeinde Ahrensfelde dazu, dass sie ihr Land nicht etwa zum Zwecke der Nutzung als Rieselfeld verkauft habe. Die geplante Errichtung eines Zentralfriedhofs nach dem Beispiel von Hamburg-Ohlsdorf dagegen wird geradezu euphorisch begrüßt. Das ist durchaus verständlich. Denn bereits im Sommer vermeldet das regionale Presseorgan bemerkenswerte Steigerungen bei den Ahrensfelder Grundstückspreisen.

Zwei Jahre später wird der „größte Friedhof der Welt“ feierlich eingeweiht. Es mag wohl sein, dass Fachleute dies heute etwas relativieren und vom damals zweitgrößten Beerdigungsplatz in Deutschland sprechen. Dennoch beeindruckt die Entschiedenheit, mit der ein ausreichender Begräbnisplatz für das wachsende Berlin vorgehalten werden soll.

Wer heute den Ostkirchhof Ahrensfelde aufsucht, entdeckt einen Ruhe und Frieden ausstrahlenden Parkfriedhof mit Jugendstilkapelle und Steinmeier-Orgel. Den beiden Gartenbauarchitekten Louis Meyer und Gustav Werner ist es gelungen, eine an Hamburg-Ohlsdorf orientierte Parkanlage zu entwerfen, die den Ostkirchhof Ahrensfelde zu einem besonderen Ort entwickelt hat. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die gesamte Anlage seit 2001 unter Denkmalschutz steht.

Die christlichen Gemeinden haben ihre Toten von Anfang an zur letzten Ruhe geleitet und die Bestattung zu den sieben Werken der Barmherzigkeit gezählt. Die Bestattung ist Ausdruck der Liebe und Achtung gegenüber dem verstorbenen Glied der Gemeinde. Sie erinnert alle, die an ihr teilnehmen, an ihr eigenes Sterben: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Am Dienstag, dem 30. Juni 1908 wird um 17.00 Uhr die Friedhofskapelle mit einem Gottesdienst  in den Dienst des Evangeliums gestellt. Es soll um Trost und Hoffnung gehen. Kirchen, auch Friedhofskapellen sind von jeher Orte des Trostes, der Hoffnung und der Sehnsucht. Pastor Koch, der erste Geistliche der Samariter-Gemeinde, predigt über dieses ergreifende Wort Jesu: Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.

Im Mittelpunkt jedes Gottesdienstes zur Bestattung steht das Evangelium von Jesus Christus, die tröstende Gewissheit, dass Jesus niemanden hinausstößt. Jeder Gottesdienst am Grab ruft uns zum Glauben an Gott. Über die Zeiten hin bekennt die Christenheit, dass Jesus Christus der Herr ist: Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei. Dieses Bekenntnis ist Halt in allen Unsicherheiten. Im Evangelium hören wir die Zusage Jesu Christi: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. So ist es möglich zu sagen: Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.

Wer über einen Friedhof geht, kann zahlreiche Namen auf den Grabsteinen lesen. In der Taufe wird unser Name zusammen mit dem Namen des dreieinigen Gottes genannt. Unsere Lebensgeschichte wird unter Gottes Geleit gestellt. Seine Barmherzigkeit ist größer und stärker als alle Verfinsterung und Entmenschlichung, die mit der Endlichkeit unseres Lebens verbunden ist. Schon nach biblischer Einsicht ist es eine bittere Folge des Todes, dass Namen vergessen werden: Ihr Andenken ist vergessen, so sagt es der Prediger Salomos (9,5). Die Kenntnis des einen Namens, der Himmel und Erde umgreift, führt uns durch grüne Auen und durch finstere Täler. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist nach dem Wort Jesu nicht ein Gott der Toten. Es geht um den lebendigen Gott. Es geht um unseren Pulsschlag, um die Gestaltung meines Lebensweges und um die Begegnungen mit dem, was mir im Antlitz meines Mitmenschen entgegentritt.

Der in der Taufe besiegelte Bund bedeutet, dass unsere Namen und die Namen unserer Mitmenschen in Gottes Namen einbezogen und bei Gott aufbewahrt bleiben: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.

Wenn ein Mensch stirbt, dann benötigen die Angehörigen eine Wegbegleitung. Es tut ihnen gut, einen Ort der Trauer zu wissen. Es ist hilfreich, wenn es einen Ort der Trauer, des Erinnerns, der Dankbarkeit und der Zuversicht gibt. Das alles kann das Grab eines mir lieben Menschen sein, das ich wieder und wieder aufsuche. Meine Trauer ist nicht ortlos. Ich kann mich in Gottes Wort bergen, in der Friedhofskapelle beten und mit anderen in ein Lied einstimmen.

Seit langem ist festzustellen, dass viele Europäer weder fähig noch gewillt sind, sich unter dem Danach des Todes etwas Konkretes vorzustellen. Hölle und Gottesgericht sind kaum noch von Bedeutung. Zugleich bleibt für viele blass, was Gott durch Jesus als Erlösung verheißt. Im Unterschied zu unseren Vorfahren können wir weder unsere Grundangst vor dem Tod an schreckliche Höllenbilder heften noch beflügelnde Hoffnung aus starken Heilsvisionen gewinnen. Wohin aber dann mit Angst und Hoffnung, so wird heute mit neuem Nachdruck gefragt. Beispielsweise fragen Journalisten so, weil sie gelernt haben, weiter zu fragen, wenn andere das Fragen aufgeben.

Wohin mit Angst und Hoffnung? Sie werden ins Diesseits verlagert. Die Menschen fürchten nicht mehr den Tod, sondern das Sterben. Sie haben Angst vor einem diesseitigen Geschehen. Wie soll man es auch nicht fürchten? Quälende Schmerzen und das Abschiednehmen sind genauso beunruhigend wie der Gedanke, man könne einsam von dannen gehen oder fremdbestimmt zum technischen Anhängsel von Maschinen werden. Dies ist das Feld, auf dem wir heute unsere Todesangst austarieren. Deshalb gab es in der vergangenen Woche wieder eine ebenso lebhafte wie ergebnislose Debatte über Patientenverfügungen.

Nicht nur unsere Ängste, auch unsere Erlösungshoffnungen richten sich, wenn überhaupt noch vorhanden, ausschließlich auf den Umgang mit diesem Leben, das Sterben eingeschlossen. Weil wir die Erlösung ins Diesseits verlegen, wollen wir alles erleben – und zwar jetzt. Und was das Sterben betrifft, lautet das dürre Angebot: Perfektionierte Sterbeperformance als Mittel gegen die Angst.

Der Heidelberger Katechismus, eines der großen Dokumente des reformatorischen Aufbruchs, hält dagegen: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Und er antwortet: Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der ... mich aus aller Gewalt des Teufels bewahrt hat und ... durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht.

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dieser Frage nachzudenken werden wir aufgefordert, wenn ein Friedhof zu einem Denk-mal erklärt wird. Denk mal! Dieser wichtigsten Frage sollten wir gemeinsam nachgehen: in Gesprächen über unsere Sterblichkeit, im öffentlichen Zulassen jener Traurigkeit, die sich angesichts des Todes trotz aller Aufklärung einstellt. Und in einer christlichen Alltagskultur, in der Angst und Hoffnung wieder zentral werden. Vielleicht ist das Wort aus dem Johannesevangelium, mit dem hier auf dem Ostkirchhof alles anfing, ein Anknüpfungspunkt: Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.

Claudia, die Freundin von Henry, die nicht weiß, wohin sie gehört, braucht einen, der sie fragt: Claudia, was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele, sowohl im Leben als auch im Sterben, nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. ... Claudia hat den Heidelberger Katechismus noch nie in der Hand gehabt. Sie weiß nicht, welche Trauergemeinde ihrem fremden Freund Henry die letzte Ehre erweisen will. Sie schützt, oder soll man sagen, sie erdrückt ihre Seele mit einem Panzer aus Alltagsroutine. Sie hat in Drachenblut gebadet, um unverwundbar zu sein. Kühl und überlegt hat sie dabei auch auf fallende Blätter geachtet. Claudias liebste Beschäftigung ist das Fotografieren von Landschaften. Landschaften sind natürlich und versuchen nicht, sich zu verstellen, im Gegensatz zu Menschen. Es sei denn, sie trauen sich zu fragen: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Hier ist ein Ort für diese Frage.

Amen.