Predigt im Gottesdienst in Garz (1. Petrus 2,1-10)

Wolfgang Huber

1.

Wie muss es wohl sein, wenn du einige Minuten vor Spielbeginn in den Katakomben des Stadions stehst und weißt, dass es gleich losgeht? Jens Lehmann könnte es uns verraten. Eines ist jedoch klar. Es ist keine Zuschauerperspektive. Du selbst stehst auf dem Platz. Es geht um das eigene Handeln und nicht um die Frage, ob das Bier schon kaltgestellt ist, damit ich nachher ungestört zuschauen kann.

Der Predigttext für den heutigen Tag aus dem Ersten Petrusbrief spricht uns als Akteure unseres Lebens an. Das ist keine Zuschauerperspektive. Du selbst stehst auf dem Platz.

So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede und seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist. Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus. Darum steht in der Schrift: »Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.« Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist »der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses«; sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst »nicht ein Volk« wart, nun aber »Gottes Volk« seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.

Milch, Steine, Priester. Willkommen in der Bildergalerie des Ersten Petrusbriefes. Er stellt die Bilder aus, in denen das Volk Gottes zu Hause war. Lassen Sie sich auf den Augenschmaus ein. Drei Bilder möchte ich mit Ihnen betrachten.

2.

Das erste Bild zeigt den Hunger eines Säuglings. Er ist mit Milch zufrieden, er braucht nichts anderes. Mehr noch, ein Baby verträgt auch nichts anderes. Aber darüber reden? Gehört sich das? Ein Säugling an der Brust – das ist erhofftes Leben, gestillte Sehnsucht, hautnahes Glück. Auch für die Mutter. Den Vater. Die anderen Kinder. Und jeder weiß, wie verheerend es ist, einem Kind etwas anderes zu geben als das, was ihm bekommt. Es zu vernachlässigen, ihm die lebensnotwendige Zuwendung zu rauben. Dagegen empören wir uns. Warum aber nicht gegen unsere bösen Taten gegen andere, unser verächtliches Wort, unsere rücksichtslose Hartherzigkeit? Wieso soll das weniger schlimm sein. Hartherzigkeit ist nicht weniger schlimm als das harte Brot für ein Kind, das noch nicht essen kann und nichts anderes braucht als Milch.

Nicht, dass erwachsene Menschen noch einmal zu Säuglingen werden könnten. Aber was brauchen wir? Was vertragen wir? Was reicht? Die Angst, auf ein Minimum zurückgestoßen zu werden,  ist unbegründet. Im Gegenteil! Die Milch steht für das Paradies. Hier gibt es nicht nur einen Baum mit Früchten, die Menschen den Tod bescheren. Es ist auch das Land, in dem Milch und Honig fließen. Erstaunlich, dass auch bei der Beschreibung des heiligen Landes, zu dem die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten unterwegs waren, nur der Honig noch zur Milch hinzugefügt wird – mehr nicht. Die Bilder des Ersten Petrusbriefs sind durchscheinend dünn wie fein gewebte Seide. Die vernünftige und reine Milch offenbart das reine und unverfälschte Wort Gottes. Das Ziel lautet: Zunehmen! Ja, Sie haben richtig gehört. Es geht um das Wachsen, um das Großwerden.

Ähnlich elementar geht es im christlichen Gottesdienst zu. Nur ein Element wird zur Taufe gebraucht: das Wasser. Es fließt reichlich – und darf übrigens auch wirklich fließen, wenn wir taufen. Nur Brot und Wein werden gebraucht zum Abendmahl, das elementar Notwendige für die Mahlzeit und zu ihrem Beschluss. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn trauet!

Die für uns namenlosen Menschen, denen der Erste Petrusbrief gilt, werden auf solche Erfahrungen angesprochen. Sie feiern das Herrenmahl. Sie feiern im Angesicht ihrer Feinde. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn trauet!  Wie mag dieser Satz klingen, wenn Christen im Irak gemeinsam Abendmahl feiern? Oder auf der Flucht, notdürftig untergebracht in Syrien oder Jordanien? Oder vielleicht eines nicht zu fernen Tages bei uns?

3.

Wenn wir dieses erste Bild, das Milch-Bild, verlassen und etwas weiter gehen, stoßen wir auf das Bild mit den Steinen, genauer auf das Bild vom Stein. Kaum zu glauben, dass diese Bilder in der Bildergalerie des Ersten Petrusbriefs direkt nebeneinander hängen. Denn größer könnte der Kontrast nicht sein als zwischen Milch und Stein!

Steine sind das Gegenteil von dem, was lebendig ist und lebendig genannt werden kann. Steine haben keinen Hunger; und sie stillen ihn auch nicht. Steine haben es nie satt. Als hartherzig gilt, wer den Hungrigen Steine gibt statt Brot. Steine träumen nicht. Sie stehen für Festigkeit, für den Status quo. Steinern ist der eingerichtete Ort. Die einzelnen Steine, erst einmal aufeinander geschichtet und mit Mörtel verbunden, können nicht einmal ihr Eigenleben führen. Nur zusammen sind sie stark. Hier können sie einen bergenden Raum schaffen, dort einen Schutzwall. Hier können sie den bewundernden Ausruf „Grandios!“ hervorlocken und sich dort „Bruchbude“ nennen lassen. Lebendige Steine? Das ist eine paradoxe Vorstellung. Aber genau dieses Bild verwendet unser Brief. Der Erste Petrusbrief verbindet, wie in der frühen Kirche eingeübt, Festigkeit mit Lebenschancen, Beharrlichkeit mit Dynamik,  Treue mit Auferstehung.

Seinen Grund hat das in dem einen Stein: von den Fachleuten als Ausschuss aussortiert – von Gott erwählt. Nicht als Schlussstein wird Jesus Christus bezeichnet, der in der Kuppel das Bauwerk zum Abschluss bringt. Sondern er ist der Eckstein, der das Fundament zusammenhält. Ist er gelegt, kann das Gebäude wachsen. Ohne diesen ersten Stein wird es auch keinen letzten geben. Tief ist dieses Bild in den Schriften Israels verankert. Beim Propheten Jesaja heißt es: Darum spricht Gott: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, der fest gegründet ist. Wer glaubt, der flieht nicht.

Eine miteinander verbundene Gemeinschaft ist nicht ortlos. Eine in Christus gegründete Gemeinde braucht eine Beheimatung in der eigenen Kirche, sei es in der Stadt oder auf dem Dorf. Sie benötigt den gemeinsamen Friedhof für ihre Toten. Die einzelnen Häuser der Familien sind ebenso wichtig wie das gemeinsame Dach über dem Kopf für Gottesdienste über das Jahr, für die Stationen auf dem Lebensweg zwischen Taufstein und Grab, für die gemeinsame Christvesper am Heiligen Abend. „Die Kirche soll im Dorf bleiben.“ Bei uns in Brandenburg ist das inzwischen zur Parole geworden, landauf landab. Und ich finde es empörend, dass die öffentliche Berichterstattung das noch immer nicht angemessen würdigt, sondern lieber über die Schließung von Kirchen berichtet als über ihre Öffnung, sich stärker den Vorgängen zuwendet, bei denen Kirchen aufgegeben werden – übrigens im Westen Deutschlands häufiger als im Osten – und sich so der Freude verschließt, die mit de3m Wiedergewinnen jedes Kirchengebäudes verbunden ist.

Mich wundert nicht, dass wir angefangen haben, neu auf die Steine zu achten, aus denen unsere Kirchengebäude bestehen, und uns wieder darum bemühen, dass unsere Dorfkirchen unter Dach und Fach kommen. Es ist ein Glück, wenn man sich an einer wieder zum Leben erweckten Dorfkirche freuen kann wie hier in Garz. Aber die Steine, aus denen diese Gebäude bestehen, tragen Hinweischarakter. Sie verweisen auf den Eckstein, auf den es ankommt und ohne den das stabilste Kirchengebäude zusammenbricht wie ein Kartenhaus: auf Jesus Christus, Grund und Ziel unseres Glaubens. Und diese Gebäude wollen dem Haus aus lebendigen Steinen dienen, der Gemeinde, zu deren Leben jeder das Seine beiträgt, je nach seinen Gaben.

4.

Damit sind wir schon beim dritten Bild, das ohne das zweite nicht verstanden werden kann. Alle getauften Glieder der Gemeinde geraten als die lebendigen Steine in den Blick. Es geht um das Priestertum aller Getauften.

Ein befremdliches Bild – denn wer will schon Priester sein? Priester sind ausgesondert, vom Volk unterschieden, einem besonderen Stand zugeordnet. Und nun sollen plötzlich alle Priester sein? Ausgesondert aus dieser Welt wie Christus, der deshalb sogar als Hohepriester bezeichnet wird? Die Aufgaben des Priesters im Opferdienst des Tempels werden freilich durch eine andere Aufgabe ersetzt. Wir sollen geistige Opfer darbringen. Unser Bekenntnis zu Gott ist damit gemeint. Unsere Verpflichtung, den uns anvertrauten Glauben als eine Kostbarkeit zu würdigen und ihn deshalb an die nächste Generation weiterzugeben.

Es geht um Dankgebete für den Segen, der auf unserem Leben liegt; es ist unsere Aufgabe, uns mit den Fröhlichen zu freuen. Es geht darum, dass wir mittragen, was den Mühseligen und Beladenen zugemutet wird; unsere Aufgabe ist das Mitgefühl, das Gebet und auch das miteinander Schweigen, wenn die Worte an ein Ende kommen.

Ein Priestertum ist das, für das wir unseren Verstand nicht aufopfern müssen. Er gehört zu dem Reichtum, mit dem Gott uns beschenkt. Auch über beruflichen Erfolg müssen wir uns nicht schämen. Auch er gehört zu den Gnadengaben, die Gott Dir anvertraut. Mit dem, was Dir gelingt, kannst Du andere stützen, die es schwerer haben.

Man kann das Bild vom Priestertum auch einfach übersetzen: Der Dank an Gott für das, was uns anvertraut ist, das füreinander Einstehen, die Verantwortung für die Weitergabe des Evangeliums – darum geht es in aller christlichen Existenz. Lebendige Steine, geistliches Haus, heilige Priesterschaft: die Kraft dieses Bildes will uns in Bewegung setzen. Und diese Bewegung brauchen wir gerade heute. Denn es ist unsere Aufgabe, uns und andere davor zu bewahren, dass wir uns in den Fallen der Diesseitigkeit verfangen.

5.

Milch, Stein, Priester. Drei Bilder, einfach und kraftvoll zugleich. Sie zeigen uns Menschen auf der Suche: nach Nahrung, einem festen Haus, einer tragenden Gemeinschaft. Auch in unserer Mitte gibt es Menschen, denen das alles fehlt. Äußere oder innere Unruhe treibt sie ziellos umher. Und es gibt Menschen auf der Flucht. Die Christen aus dem Irak sind ein Beispiel dafür. Nicht das einzige, aber ein besonders bedrängendes.

Der Erste Petrusbrief schildert uns ein Panorama, in dem Menschen unterwegs sind, die kein Zuhause mehr haben. Steine auf dem Weg. Ruinen. Disteln und Dornen. Erwählung in der Bedrängnis, Heiligkeit in der Anfechtung: an diese Erfahrungen des Volkes Israel erinnert der Brief die junge christliche Gemeinde. Milch, Steine, Priesterschaft. Ohne dass Israel etwas genommen würde, werden die angefochtenen christlichen Gemeinden um Jesu Willen in den Familienverbund aufgenommen. Sie werden adoptiert in die Geschichte Gottes mit seinem Volk hinein.

Welch ein Wunder, dass diese Geschichte weitergeht bis zum heutigen Tag und über diesen Tag hinaus. Trotz aller Abbrüche, die unsere Geschichte erlebt hat. Trotz aller platten Diesseitigkeit. Trotz unserer Glaubensvergessenheit. Zu einem Neuanfang ist es nicht zu spät. Milch, Steine, Priester. Wir sind berufen und reich gesegnet. Wir gewinnen Heimatrecht. Wir tragen Verantwortung und können der Willkür widersprechen. Milch, Steine, Priesterschaft. Gott meint es gut mit uns, er gibt uns in Christus einen festen Halt für unser Leben, er ruft uns in die Verantwortung.

Amen.