Predigt im Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin (Psalm 48,13)

Wolfgang Huber

I.

Geflügelte Worte haben eine gewisse Leichtigkeit. Sie heben ab und verlassen ohne weiteres ihren Standort. Aus schweren Folianten, aus Zeitschriften oder Gedichten schweben sie empor wie die Fallschirmsamen einer Pusteblume. Sie bewegen sich in luftiger Höhe und bewerben sich darum, aufgegriffen zu werden. Manche dieser Worte landen einfach in einem ungewohnten Zusammenhang, um dort neu Wurzeln zu schlagen und aufzublühen.

Ex oriente lux – das ist eines dieser Fallschirmworte, die im Himmel der geflügelten Worte umherschwirren. Ex oriente lux – auf Deutsch bedeutet das: Aus dem Osten (kommt) das Licht. Ursprünglich bezog sich dieser Spruch auf den Sonnenaufgang. Das ist zunächst eine schlichte Wahrheit. „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf“. Sicher kennen Sie auch die Fortsetzung: „Im Westen  wird sie untergehn, im Norden ist sie nie zu sehn.“ Ohne Sonnenlicht gibt es kein Leben. Später wurde ex oriente lux auf den christlichen Glauben übertragen. Das Christentum kommt aus dem Osten, dem Orient, dem Morgenland. Aus dem Abendland betrachtet, liegt Jerusalem, der Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi, im Osten: Dort, wo das Licht herkommt. Deshalb sind unsere Kirchen geostet: Wer auf den Altar blickt, blickt nach Osten, nach Jerusalem, dorthin, woher das Licht der Auferstehung kommt. Meistens jedenfalls ist das so. In unserer Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist es anders: Wir sehen den auferstandenen Christus, wenn wir nach Westen schauen. Aber auch für uns steht das geflügelte Wort für eine Richtungsangabe, die deutlich macht, woher das Heil kommt.

Der christliche Glaube lebt von klaren Richtungsangaben; und er verleiht klare Orientierung, zu Deutsch: klare Ausrichtung nach Osten. Die so genannte Psalterkarte aus London ist ein Beispiel dafür. Sie ist im 13. Jahrhundert entstanden und verdankt ihren Namen der Tatsache, dass sie in einem Psalmenbuch gefunden wurde. Obwohl sie recht klein ist, besticht diese Karte durch einen bemerkenswerten Reichtum an Details. Sie bezieht sich nicht nur auf das geografische und historische Wissen ihrer Entstehungszeit; sondern sie rückt dieses Wissen in den Zusammenhang, auf den alles ankommt, in den Zusammenhang des Heils. Die Psalterkarte ist künstlerisch so gestaltet, dass Christus selbst von Osten her auf die Welt schaut, das heißt von „oben“, denn die Weltkarten des europäischen Mittelalters sind meistens geostet, nicht genordet. Mit der rechten Hand gibt Jesus seinen Segen. Aus dem Osten, kommt das Heil. Ex oriente lux.

Die Planeten umgeben die Erdscheibe; wir bewegen uns noch in der Zeit vor Nikolaus Kopernikus. Flüsse bewässern das Erdreich. Aber in der Mitte liegt Jerusalem. Auch für das christliche Weltbild ist die Stadt, die am Ende der Zeiten das himmlische Jerusalem sein wird, die Mitte der Welt. Sie ist dies ebenso wie für den Psalmbeter, dessen Worte über unserem Gottesdienst stehen. Der 48. Psalm, den wir zu Beginn gehört haben, besingt die Stadt Gottes und preist Gottes Heiligtum auf dem Zion. Der Psalm besingt die Schönheit Jerusalems und erkennt in seiner urbanen Attraktivität, ja selbst in der Anzahl der Türme, die Jerusalem schmücken, einen Hinweis auf Gottes Gnade Doch auch diese Stadt, an der sich die ganze Welt freut, weil Gott in ihr Wohnung genommen hat, ist gegen Angriffe nicht gefeit. Eine feindliche Koalition will die Stadt erobern; doch durch Gottes Schutz wird sie unüberwindlich. Die Feinde stürmen davon, so wie die größten Schiffe durch einen Sturm von Osten her zerbrochen werden können. Nicht einfach ein historisches Ereignis wird in dieser dramatischen Schilderung durch den Psalmisten abgebildet. Sondern das Vertrauen auf Gottes Nähe an dem von ihm ausgewählten Ort kommt in diesen Worten zum Ausdruck. Um dieses Vertrauen geht es in der regelmäßigen Wallfahrt zum Zion; in einer Prozession um den Tempelberg herum wird die Güte Gottes gefeiert: Ziehet um Zion herum und umschreitet es, zählt seine Türme; habt gut acht auf seine Mauern, durchwandert seine Paläste, dass ihr den Nachkommen davon erzählt: Wahrlich, das ist Gott, unser Gott für immer und ewig. Er ist’s, der uns führet.

Diese Auffassung von Mauern und Türmen, die schon der Psalm besingt, hat auch in den christlichen Kirchenbau Eingang gefunden. Sie werden errichtet, um Gott die Ehre zu geben. Sie stehen in Stadt und Dorf als Zeichen für Gottes Güte. Sie ragen in den Himmel, weil der Boden nicht alles ist. Sie sind weithin sichtbar, damit die Suchenden Orientierung finden. Ex oriente lux.

II.

Moderne Menschen haben von Orientierung andere Vorstellungen. Unsere Orientierungssysteme beruhen auf anderen technischen Voraussetzungen. Heute wird unser Planet von den ihn umkreisenden Satelliten fotografiert, vermessen und militärisch ausgespäht. Mit Hilfe des satellitengestützten Navigationssystems GPS suchen nicht nur unsere Autos den schnellsten Weg, inzwischen, wie eine freundliche Stimme ankündigt, unter Berücksichtigung von Verkehrsstörungen. Nein, mit Hilfe von GPS können Sie sich nach dem Gottesdienst ohne Probleme per Handy zu ihrem Lieblingsrestaurant leiten lassen.

Aber ist das schon Orientierung? In Zeiten einer bis in den letzten Winkel vermessenen Welt verschärft sich die Frage nach der Ausrichtung auf das Heil. Zwar können wir uns mit jedem internetfähigen Computer an den Zion heranzoomen. Doch auf die Frage, woher unser Heil kommt, finden wir so kaum eine Antwort. Ist Jerusalem der Nabel der Welt?

Ratlos lassen wir uns treiben; unsere Lebensmelodie erinnert an Zeilen von Gerhard Schöne: „Wo soll ich gehen hin, / wenn ich mir selbst nichts bin. / Ich habe Paris gesehn, / Venedig und Athen. / Ich jage über Pisten / mit anderen Touristen. / Mein ganzes Interesse / ist, dass ich mich vergesse.“

Und hoffentlich reicht es dann noch zu der Bitte, mit der Gerhard Schöne schließt: „Komm zu mir, Gott des Lebens, / Dass ich nicht leb vergebens.“ (Gerhard Schöne auf der CD „Ich bin ein Gast auf Erden“)

Und wie verhält es sich mit der geistigen Topografie Berlins? An welche Orientierungspunkte halten wir uns in dieser Stadt? Als vor genau 113 Jahren der Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einer Höhe von genau 113 Metern errichtet wurde, war er das höchste Bauwerk der Stadt. Noch vor 113 Jahren war der „Himmelsraum“ auch in Berlin den Kirchtürmen vorbehalten. Vor drei Jahren hat die Architektin Gesine Weinmiller am Reformationstag hier in dieser Kirche den Wandel beschrieben, der seitdem eingetreten ist. Ohne großen gesellschaftlichen Protest, so sagte sie, sei der einstmals den Kirchtürmen vorbehaltene Himmelsraum zum Machtbereich Einzelner und wirtschaftlicher Interessen geworden. Das wertvolle Allgemeingut des Himmels über den Städten werde von Logos großer Konzerne beherrscht und sei zum „Abbild des Wandels am Boden“ geworden. Und sie forderte uns alle dazu auf, die Kirchengebäude wieder zu „Manifesten gegen den Verlust des Himmels“ zu machen und so auch der „Ökonomisierung der Lebenswelt“ entgegenzuwirken.

Im Umgang mit der Zeit zeigt sich ein ähnlicher Konflikt wie im Umgang mit dem Raum, mit der Skyline unserer Städte. Ist das Berliner Tempo Leitbild? Geht es um möglichst viele verkaufsoffene Sonntage im Advent? Vier Sonntage bietet der Advent. Nach der Auskunft des derzeit gültigen Berliner Ladenöffnungsgesetzes sind nur verkaufsoffene Sonntage gute Adventssonntage.

Durch das Bild vom Menschen und seiner Welt, das sich in unseren Tagen entwickelt, geht unübersehbar ein Riss. Unsere Gesellschaft betreibt die Stärkung der menschlichen Autonomie und befördert zugleich die totale Verfügbarkeit des Menschen. Mich umhüllt kein paradiesischer Garten wie auf der Psalterkarte aus London, sondern mich beherrschen die undurchlässigen und durchkalkulierten Parameter von Zeit und Raum. Und woher kommt mir Hilfe? Wer bewahrt meine Freiheit und tritt für sie ein?

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ist eine Gedächtnisstütze, die uns daran erinnert, dass allein Gottes Wort meines Fußes Leuchte ist und ein Licht auf meinem Weg. Im Licht des Evangeliums erkennen wir alles neu: Gottes Güte, die Fülle des eigenen Lebens, das Antlitz des Mitmenschen, unser eigenes Spiegelbild und den Sinn unseres Daseins. Das Wort des lebendigen Gottes begegnet uns im Gottesdienst. Ein Ort ist uns anvertraut, an dem wir bekennen können: Gott, wir gedenken deiner Güte in deinem Tempel. Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm bis an der Welt Enden. Deine Rechte ist voll Gerechtigkeit. Dessen freue sich der Berg Zion, und die Töchter Juda seien fröhlich, weil du recht richtest. Ziehet um Zion herum und umschreitet es, zählt seine Türme; habt gut Acht auf seine Mauern, durchwandert seine Paläste, dass ihr den Nachkommen davon erzählt: Wahrlich, das ist Gott, unser Gott für immer und ewig. Er ist's, der uns führet.

Ob so etwas ausgerechnet von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gesagt werden könne, ist umstritten, so lange es diese Kirche gibt. Bald nach ihrer Einweihung konnte man in der Vossischen Zeitung, dem meinungsführenden Blatt der damaligen Zeit, lesen: „Die Existenz dieser Gedächtniskirche auch in der kostbarsten Form wird ... sicherlich keine Erneuerung evangelisch-protestantischen Lebens und überhaupt religiöser Gesinnung heraufführen, wohl aber kann sie, wenn so mit dem Gelde weiter gewirtschaftet wird, vielen ein Stein des Anstoßes werden und an ihrem Teile zur weiteren Entfremdung vom kirchlichen Leben beitragen.“ Zu teuer und zu kalt, so war das damalige Urteil; und ein Beobachter des kläglichen Gottesdienstbesuchs in der damaligen Zeit – vor über hundert Jahren – fühlte sich an das bejammenswerte Bild eines Brunnens erinnert, der kein Wasser gib.

Stein des Anstoßes: das galt freilich weithin in anderem Sinn. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde keineswegs von Prozessionen umzogen, sondern vom großstädtischen Verkehr umspült. Nicht nur Beter näherten sich ihren Mauern, sondern jeder, den es in den Trubel der Großstadt zog. Auch für Bomben war ihr hoher Turm ein attraktives Ziel. Genau das aber war es, was vom Jahr 1943, dem Jahr der Zerstörung, an den Sinn dieser Kirche von der Tiefe her veränderte. Zwar urteilte ein aufmerksamer Zeitgenosse schon im Jahr 1930: „Es gibt gegenwärtig in ganz Berlin keine andere Stelle, wo man den Gegensatz der Welten, die Zerrissenheit unseres Volkes und die Mission der Kirche so tief erleben kann wie an der Gedächtniskirche.“ Doch die Wahrheit dieser Aussage buchstabieren wir erst sehr allmählich nach. Der Versuch, den Himmel durch menschliche Macht zu stürmen, ist uns gründlich vergangen. Die gebrochene Pracht vergangener Zeiten ist uns ein glaubwürdigerer Wegweiser zu Frieden und Versöhnung als die strahlenden Machterweise vergangener Zeiten. Deshalb ist uns der alte Turm so wichtig geworden – nicht mehr mit den 113 Metern, zu deren Höhe er vor 113 Jahren errichtet wurde, sondern mit seinen gestutzten 68 Metern – Ergebnis der gewaltsamen Zerstörung vor 65 Jahren. Die Frage ist nur: Lassen wir uns von diesem Mahnmal auch mahnen? Suchen wir Orientierung in dem Heil, das aus dem Osten kommt? Machen wir aus dieser Kirche ein Manifest gegen den Verlust des Himmels und gegen die Ökonomisierung unserer Lebenswelt?

„Zwischen all den Tempeln des Kommerzes braucht Berlin eine Gedächtnis-Stütze. Der Hohle Zahn muss gerettet werden. Und wie immer bei Zahnreparaturen: Die Kasse zahlt nicht alles, ein bisschen Selbstbeteiligung ist gefragt. Ich mache mit - Sie auch?“ So hat es Eckardt von Hirschhausen klar und schnörkellos formuliert. Dabei geht es nicht nur um die Erhaltung eines Bauwerks. Es geht um den offenen Himmel über Berlin. Deshalb werden wir vor der Verantwortung für diesen Turm nicht türmen. Nicht nur um der Steine willen, sondern um des Evangeliums Willen haben solche Türme einen guten Sinn. Es ist richtig, sie als Orientierungspunkte zu nehmen. Und als Gedächtnisstütze dazu. Wir wissen nur allzu gut, dass unsere Stadt solche Gedächtnisstützen nötig hat.

Amen.