Predigt im Berliner Dom (1. Thessalonicher 5,14-24)

Wolfgang Huber

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen. Diese Aufforderung des Apostels Paulus steht über dem heutigen Sonntag. Für wen sollte sie besser passen als für die Gemeinde heute und hier im Berliner Dom? Am ersten Sonntag, nachdem das goldene Kreuz wieder auf der Kuppel unseres Doms angebracht ist, feiern wir Gottesdienst und lassen uns zurufen: Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen. Wir sind fröhlich über Kugel und Kreuz über uns, fröhlich darüber, dass diese Lücke im Berliner Himmel geschlossen wurde; wir beten mit neuer Kraft und bitten Gott darum, dass das Zeichen des Kreuzes von den Menschen verstanden wird – der Hinweis auf Christus, den gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Und wir sind dankbar – auch dafür, dass dieses Vorhaben zu einem guten Ende geführt werden konnte.

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen. Dem Apostel Paulus verdanken wir diese Aufforderung, einem Kronzeugen unseres Glaubens, dessen zweitausendster Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Wissen Sie, wo er vor zweitausend Jahren geboren wurde? Manche pilgern in diesen Tagen in die kleinasiatische Stadt Tarsus, wo heute zweihunderttausend Menschen leben, vom christlichen Glauben aber leider nicht mehr viel zu sehen oder zu spüren ist. Paulus war ein Jude aus dieser kleinasiatischen Stadt, der in seinen jungen Jahren als scharfer Gegner des entstehenden Christentums hervortrat, bevor er zum Apostel der Heiden wurde. Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkündigen – so stellt er sich selbst vor. Leidenschaftlich rühmt er das Evangelium von Jesus Christus, in dessen Antlitz Gottes Güte jedem Menschen begegnen will. Wie ein Getriebener reist er durch die Lande, scheut dabei keine Gefahren und gründet Gemeinden. Wie kaum ein anderer begeistert er seine Mitmenschen für ein Leben im Horizont der Treue Gottes.

Zum 2000. Geburtstags des Völkerapostels Paulus aus Tarsus wird die Aufmerksamkeit neu auf diesen wortgewaltigen Prediger und Briefschreiber gelenkt. Am heutigen Tag achten wir auf einen Abschnitt aus dem 1. Thessalonicherbrief. Es handelt sich um den ältesten erhaltenen Brief des Paulus und damit zugleich um den ältesten Text des ganzen Neuen Testaments, um die früheste Urkunde des entstehenden christlichen Glaubens. Vermutlich im Jahr 50 nach Christus hat Paulus diesen Brief während seines Aufenthalts in Korinth geschrieben. Von einer griechischen Stadt – Korinth – in eine andere – Thessaloniki – wurde er geschickt. In ihm dokumentiert sich der Übergang des christlichen Glaubens nach Europa, ein Übergang, ohne den der christliche Glaube auch uns niemals erreicht hätte. Ohne den Heidenapostel Paulus gäbe es auch in Berlin keine christlichen Gemeinden, feierten wir heute hier keinen Gottesdienst, freuten wir uns nicht an dem neuen Kreuz. So einfach hängt das zusammen.

Die Gemeinde in Thessaloniki wird für ihren vorbildlichen Glauben gelobt. Der Apostel dankt Gott für die Aufnahme des Evangeliums in dieser nordgriechischen Stadt. Es gilt, sich zu rüsten, um nicht von künftigen Ereignissen überrascht zu werden. Deshalb empfiehlt der Brief, dass sich die Christen mit dem Brustpanzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung kleiden sollen. Dann sind sie auf die kommenden Dinge ebenso gut vorbereitet, wie sie es in der Vergangenheit waren. Denn auch in Zukunft sollen sie sich in der Treue bewähren, die sie schon bisher ausgezeichnet hat. Gegen Ende des Briefes heißt es:

Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder (und Schwestern): Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach, untereinander und gegen jedermann. Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch. Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt. Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun.

Weist zurecht, tröstet, tragt, seid geduldig, jagt dem Guten nach, seid fröhlich... Vierzehn Imperative, vierzehn gutgemeinte Handlungsideen sollen die Christen in Thessaloniki stärken und unterstützen.

Lauter Imperative, immer wieder diese Befehlssprache! Solche Imperative sind nicht die beliebteste Form, in der wir heute angesprochen werden wollen. Oder doch? Ein Blick auf die Bestseller in der Ratgeberliteratur zeigt da erstaunlich wenig Scheu. Besonders erfolgreich ist beispielsweise Werner Tiki Küstenmacher mit seinem Imperativprogramm „Simplify Your Life“: „Vereinfachen Sie ihr Leben! Räumen Sie ihren Schreibtisch auf! Pflegen Sie ihre Partnerschaft und ihre Beziehungen!“ Da ist er, der moderne Versuch, den Lesern wohlwollende Ratschläge zu geben, die ihnen bei der Bewältigung ihre Lebenssituation zu helfen. Keine Zeit haben und trotzdem fit bleiben – ein Buch mit diesem Titel bekam ich gerade geschenkt (Sie merken schon, ich hatte Geburtstag). Und wieder ein Vorwort von Küstenmacher, in dem zu lesen war, auch dies sei nur ein Baustein zu dem Imperativ: Vereinfache Dein Leben. Dann doch lieber: Seid fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen.

Wen wirst du fragen, wenn du eine Entscheidung treffen musst, die dein Leben verändern wird? Mit wem redet die junge Ärztin, wenn sie entscheiden muss, ob sie als Allgemeinmedizinerin in die Uckermark gehen oder doch bei der Pharmafirma in Leverkusen anfangen soll. Und woher hat der Kollege die Kraft genommen, gegen eine erdrückende Mehrheit bei seiner Auffassung zu bleiben? Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach, untereinander und gegen jedermann. Das ist wesentlich konkreter als die Aufforderung, ein einfacheres Leben zu führen.

Der Apostel will uns die Güte Gottes als tragenden Grund für unser Leben so nahe bringen, dass dies unseren Alltag prägt. Dafür ist der Imperativ die kürzeste und klarste Form. Sagt euren Mitmenschen, wie ihr die Dinge seht. Tut ihr das nicht, so enthaltet ihr ihnen etwas Wichtiges vor. Habt Verständnis für die eher ängstlichen Freunde und schenkt ihnen Rückenwind. Tragt die Schwachen in der Familie oder im Kollegenkreis mit. Seid geduldig. Legt die Waffen ab und verletzt Euch nicht mit schneidender Zunge. Jagt allezeit dem Guten nach, untereinander und gegen jedermann.

Es geht um alles andere als um Ratgeberliteratur. Es geht um das Evangelium Gottes, das uns im Antlitz Jesu Christi entgegentritt. Hier gibt es Halt und Geborgenheit. Es gibt eine Lebensperspektive, die trägt und selbst im finsteren Tal der Krankheit da ist, so, wie das von unzähligen Menschen in dieser Stadt ersehnt wird. Darum geht es!

Barbara Lee, eine kalifornische Abgeordnete im amerikanischen Repräsentantenhaus, stimmte am 14. September 2001 als einzige gegen die Resolution, die Präsident Busch weitgehende Möglichkeiten im Kampf gegen den Terrorismus einräumte. Sie sagte damals: „Ich habe lange mit mir gerungen. Meine Entscheidung fiel heute während des ebenso schmerzhaften wie schönen Trauergottesdienstes Um es mit den Worten eines der Geistlichen zu sagen, die zu uns sprachen: Jetzt, da wir im Begriff sind zu handeln, lasst uns nicht zu dem Bösen werden, das wir beklagen.“

Oder ein anderes Beispiel vom Lande: „Ein Bauer trifft den Herrn Schulmeister auf einem Feld und spricht ihn an: Ist es euer Ernst, Schulmeister, was ihr gestern den Kindern beigebracht habt: ‚Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar’? Der Schulmeister antwortete: Ich kann nichts davon und nichts dazu tun. Es steht im Evangelium. Also gab ihm der Bauer eine Ohrfeige und die andere auch, denn er hatte schon lange einen Verdruss auf ihn. In der Ferne ritt aber der Edelmann mit seinem Jäger vorbei und sagte: Jäger, schau doch nach, was die zwei dort miteinander haben! Als der Jäger bei den beiden Männern ankam, war der Schulmeister, der ein starker Mann war, damit beschäftigt, dem Bauern auch zwei Ohrfeigen zu geben. Dazu rief er: ‚Es steht auch geschrieben: mit welcherlei Maß ihr messt, wird euch wieder gemessen werden’ und zu dem letzten Sprüchlein gab er ihm noch ein halbes Dutzend Ohrfeigen drein. Da kam der Jäger zu seinem Herrn zurück und sagte: Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr, sie legen einander nur die Heilige Schrift aus“ (nach Johann Peter Hebel, Der rheinische Hausfreund).

Ganz so handgreiflich braucht es ja nicht zuzugehen, wenn wir einander die Heilige Schrift auslegen. Aber dass wir die Güte Gottes in unser Leben hineinziehen, darauf kommt es an. Kaum eine Aufforderung ist dafür wichtiger als der doppelte Imperativ: Prüfet alles und das Gute behaltet. Uns wird ein eigenständiges Urteil zugetraut – aber ein Urteil im Licht der Güte Gottes.

Gestern verbrachte ich den Tag mit Menschen westlich der Elbe, die sich seit dreißig Jahren mit der Frage beschäftigen, ob es rechtens ist, dass der Atommüll des ganzen Landes bei ihnen, nämlich in Gorleben, gelagert werden soll. Sie haben Zweifel, ob der Salzstock von Gorleben so sicher ist, wie behauptet wird. Sie werben dafür, dass auch andere Standorte geprüft werden. Und zugleich treten sie für den Frieden ein – jedes Mal wieder, wenn ein Castortransport in das idyllische Wendland kommt, das sich dann wieder für ein paar Tage in eine belagerte Festung verwandelt. Dann wehren sie nach beiden Seiten hin der Gewalt. Dazu brauchen sie viel Kraft, die Kraft des Glaubens.

Wenn Gottes Güte in unserem Leben Gestalt annehmen soll, müssen wir einander beistehen. Wir brauchen leidenschaftliche Gespräche; wir brauchen aufrichtige Freundesbriefe. Du hast die Neugier, die Leidenschaft und den Enthusiasmus eines Paulus nötig, wenn es darum geht, Gottes Güte zu rühmen. Deshalb erinnern wir uns in diesem Jahr ganz besonders an diesen Apostel für uns Heiden, der vor zweitausend Jahren geboren wurde. Und mit ihm bekennen wir: Treu ist Gott, der uns ruft; er wird's auch tun.

Amen.