Bibelarbeit zum Gospelkirchentag in Hannover

Wolfgang Huber

I.

„All eure Sorge werft auf Gott; denn er sorgt für euch.“ Das ist der Grundton der Woche, in der dieser vierte Gospelkirchentag hier in Hannover stattfindet. Diese Freiheit von der Sorge klingt in der begeisternden Musik des Gospel auf. Diese Freiheit hat Nire Weth eben besungen: „I sing because I’m happy, I sing because I’m free“. Diese Freiheitsbotschaft der Gospelgesänge reißt uns mit. Der Rhythmus des Gospel atmet Freiheit. Denn diese Musik geht auf Menschen zurück, die Sklaverei erlebt und zur Freiheit gefunden haben. Die Gospel besingen die Freiheitsgeschichten der Bibel – vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten – „When Israel was in Egypt’s Land“ – bis hin zum Evangelium von Jesus und unserer Antwort darauf: „I sing because I’m happy, I sing because I’ m free“.

Diesen unbändigen Freiheitsdrang bringen die Tage hier in Hannover zum Ausdruck. Hannover ist eine kirchentagserfahrene Stadt – und deshalb ist auch der Gospelkirchentag hier am richtigen Ort. Nicht nur in dieser Halle, sondern in zahlreichen Kirchen und auf den Bühnen in der Stadt ist das Lied der Freiheit aus dem Glauben an Gott zu hören. Und dieses Lied ist ansteckend. Das zeigt die große Zahl der Sängerinnen und Sänger, die sich in diesem Jahr nach Hannover aufgemacht haben. So viele Menschen waren noch bei keinem der drei vorausgehenden Gospelkirchentage. Das ist ein Aufbruch zu neuen Ufern.

Daran zeigt sich, welche Rolle die Gospelbewegung inzwischen in unserer Kirche spielt. Ich bin begeistert davon, dass so viele diese Weise des Singens aufnehmen. Wir Deutschen, in Norddeutschland zumal, gelten eher als etwas spröde. Bis die Musik unsere Körper in Bewegung setzt, dauert es etwas länger als in anderen Ländern. Aber wir spüren, dass auch uns das gut tut. In jeder Woche entstehen neue Gospelchöre. Sie bringen einen jungen Sound in unsere Kirche und verbinden gerade so die Generationen miteinander. In zahlreichen Städten sind wie auch hier in Hannover Gospelkirchen entstanden. In ihnen werden Gospelgottesdienste gefeiert, die ausstrahlend sind und eine große Anziehungskraft entwickeln. Es ist begeisternd, Gospel zu hören; noch stärker begeistert es, selber mitzusingen. Auch für Menschen, die glaubensungewohnt und kirchenungeübt sind, erschließt sich auf diese Weise ein neuer Zugang zum Evangelium, zur Botschaft von Freiheit und Glück: „I sing because I’m happy, I sing because I’m free.“

Wer sich in diese Musik hineinziehen lässt, der lässt die Sorgen hinter sich. So klebrig Sorgen auch sein können: Christen lernen es, die Sorgen von sich weg zu werfen; Christen sind Experten im Sorgen-werfen. „All eure Sorge werft auf Gott, denn er sorgt für euch.“

II.

Das Lied, das diesen Tag eröffnet hat, führt uns auf eine Spur, der wir nachgehen wollen. Es führt uns zu einem Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium, wenn es in diesem Lied heißt: „His eye is on the sparrow. I know He watches me“: Sein Auge wacht über dem Sperling. Ich weiß: Er achtet auf mich.

Der Ursprungstext aus der Bergpredigt Jesu lautet so: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr als sie?“ (Matthäus 6, 26). Unter den Augen Gottes zu leben, heißt, dass die Sorge nicht über uns herrscht. Weder die Sorge um das tägliche Brot noch die Sorge um das Heil unserer Seele. Denn das eine wie das andere wird uns geschenkt. Wir brauchen nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, wie gut Gott es mit uns meint. Nur auf die Vögel unter dem Himmel brauchen wir zu achten, die auf wunderbare Weise das ganze Jahr über Nahrung finden, im Winter wie im Sommer.

Wenig später verdeutlicht Jesus das an den Lilien, die schon immer als eine der schönsten, ebenmäßigsten Blumenarten galten. „Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht“, aber sie wachsen trotzdem. Wie interessant: Ausdrücklich wird da gesagt, dass „arbeiten“ und „spinnen“ nicht das Gleiche sind. Wer arbeitet, spinnt nicht; und wer spinnt, der arbeitet damit noch nicht. Es lohnt sich, beides auseinander zu halten: „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.“

Diese aufmunternden Worte richtet Jesus an Leute, die alles aufgegeben haben, um ihm nachzufolgen. Sie haben Grund, sich zu sorgen. Es geht nicht um den Luxus, den man sich gern auch noch leisten möchte: die Ferienreise, den Computer, die Musikanlage, den fahrbaren Untersatz. Nein, das sind Leute, die im nächsten Dorf einen suchen, den sie um ein Mittagessen bitten können. Denn sie haben kein Proviant dabei; und ihren dauernden Wohnsitz haben sie aus freien Stücken aufgegeben, um mit Jesus unterwegs zu sein. Denen sagt Jesus: Sorgt euch nicht. Sie halten ihm entgegen, wie es um sie steht: „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns dafür gegeben?“ (Mt 19, 27). Jesus weist nur darauf hin, dass es ihm auch nicht anders geht: „Die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 18, 20).

In einer solchen Lage ist es nicht so einfach, sich keine Sorgen zu machen, nicht nur um Nahrung und Kleidung, sondern um das Leben überhaupt. Wohin wird der Weg mit Jesus führen? Was ist das mit dem Reich Gottes, das Jesus verkündigt, und mit seiner Gerechtigkeit? Lohnt sich der Einsatz? Jesus nimmt die Natur, Gottes Schöpfung, für das Vertrauen in die Zukunft in Anspruch. Was sie uns vor Augen stellt, wird zum Gleichnis für die Zukunft, die Gott für uns bereit hält. Die Zuversicht, dass Gott es gut mit uns meint, kann uns beflügeln – an jedem Tag von neuem. Deshalb: Sorgt euch nicht!

III.

Jesus verwendet eine bilderreiche Sprache; Tiere und Pflanzen nimmt er dafür in Anspruch. Aber er knüpft an Erfahrungen an, die wir alle kennen. Wir alle wissen, dass Freude uns beflügelt; Angst aber lähmt. Jeder Schüler kennt die Erfahrung, dass Angst vor einer Klassenarbeit das Ergebnis nur schlechter macht. Jeder Student weiß, dass er die Prüfungsangst überwinden muss, bevor das Examen beginnt. Denn die Sorge, es könne schief gehen, führt dazu, dass es auch tatsächlich schief geht. Dann ist es wichtiger, durch Gottes schöne Natur zu laufen, den Vögeln nachzuschauen und an Blumen zu riechen, als noch mehr Stoff in den Kopf zu pressen, der einfach nichts mehr aufnehmen will – aus lauter Angst. Die Freiheit von der Sorge ist lebenswichtig. Aber wir können sie uns nicht selber verschaffen. Wir brauchen eine Zuversicht, die nicht nur an unseren eigenen Fähigkeiten hängt. Wir brauchen das Vertrauen auf Gott. Deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber wieder reden – und dass wir davon singen.

Die Jünger Jesu waren arm – wirklich arm. Sie nahmen das freiwillig auf sich. Die Nachfolge Jesu war ihnen wichtiger als Hab und Gut. Gerade so fühlten sie sich frei. Ganz leicht fällt es uns nicht, uns in ihre Situation zu versetzen. Denn solche Armut ist in einer Wohlstandsgesellschaft selten. Armut gibt es auch unter uns, schreckliche Armut, sogar in wachsendem Maß. Sie ist in aller Regel nicht freiwillig übernommen. Obdachlose trifft man in jeder größeren Stadt; sie haben sich dieses Schicksal in aller Regel nicht gewählt. Wer bei uns dagegen Freiheit verspürt, hat in aller Regel ein Dach über dem Kopf und keine Angst vor der Frage, was er morgen essen soll.

Aber die Armen unter uns wie diejenigen, die eine sichere Wohnung und einen sicheren Arbeitsplatz haben – die einen wie die anderen wissen oft nicht, was sie von Jesus erwarten können, welche Botschaft er uns bringt. Dabei ist diese Botschaft einfach und klar: „„Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr als sie?“ Wenn wir nur noch die Sorge um Besitz und Fortkommen gelten lassen, haben wir diese Botschaft schon verlassen. Schlimmer: wir haben vergessen, dass wir Menschen sind. Obwohl wir mehr sind als Vögel und andere Tiere, lassen wir uns in eine Sorge hineinziehen, die ihnen ganz fremd ist. Wir führen unser Leben unter ihrem und damit erst recht unter unserem eigenen Niveau.

Die Verführung dazu ist groß. Denn wir sind von einer Welt umgeben, in der nur zählt, was sich rechnet. Die Frage liegt nahe, ob sich das Eintreten für Gerechtigkeit dann noch wirklich lohnt. Wir können doch sowieso nichts ausrichten! Was sollen wir denn machen, wenn das Klima auf unserem Globus ansteigt und die brutale Machtpolitik wieder fröhliche Urstände feiert, wie der Kaukasus uns in diesen Tagen vor Augen führt. Und sind wir nicht alle schon durch diese Art von Machtpolitik angesteckt, ja verdorben? Haben wir noch den klaren Blick, der sich auf die Menschen richtet, auf jeden einzelnen, und das Machtkalkül der Großen dahinter zurückdrängt? Seid ihr Menschen nicht viel mehr als die Vögel? Dann könnt ihr einander doch nicht zu Kanonenfutter machen!

Jesu Botschaft an seine Jünger heißt: Wenn ihr euch Sorgen macht, wie es mit dem Lebensnotwendigen auf dem Weg der Nachfolge werden wird, dann sage ich euch: Für euch wird gesorgt. Wer sich für Gottes Gerechtigkeit einsetzt, der kann darauf vertrauen, dass Gott ihn im Blick hat. Gott wird sein Reich schaffen. Da wird er doch wohl, gleichsam als Zugabe, seinen Jüngern Speise und Kleidung schenken.

„His eye is on the sparrow and I know He watches me“, singt der Gospelsong. Er antwortet auf die Frage, mit der Jesus seine Jünger entlässt: “Seid ihr nicht viel mehr als sie?” Wenn Gott sogar den kleinen Spatz im Blick hat, wie viel mehr dann dich! Wenn er für das Leben eurer Mitgeschöpfe sorgt – wie sollte er das nicht für euch tun? „I know He watches me“, aus diesen Worten spricht die Gewissheit des Glaubens, Wir können uns an Gott ausrichten, weil er schon vorher auf uns schaut. Er schaut mit den Augen Jesu – ganz menschlich und ganz nah.

In immer neuen Bildern und Gleichnissen hat Jesus Gott als den vorgestellt, der vertrauenswürdig ist. Die vertrauensvolle Anrede „Abba“, „Vater“, die Jesus selbst gebraucht und an seine Jünger im Vaterunser weitergibt, drückt dies am stärksten aus: „Euer Vater weiß, was ihr nötig habt, bevor ihr ihn bittet“ (Matthäus 6, 8). Oder: „Wenn schon ihr euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn darum bitten!“ (Matthäus 7, 11). Jesus lädt seine Jüngerinnen und Jünger zum Gottvertrauen ein. Er malt ihnen Gott vor Augen, damit sie ihr Herz an ihn hängen, der allein vertrauenswürdig ist.

IV.

Unser Jesuswort gehört zur Bergpredigt Jesu. In ihr geht es um das Leben in der Nachfolge Jesu, um das Tun des göttlichen Willens, um die Gerechtigkeit. Es geht um das Handeln des Menschen, das Gott will und das seinem kommenden Reich schon jetzt entspricht.

Zu den stärksten Zumutungen, die Jesus in diesem Zusammenhang ausspricht, gehören die Feindesliebe und der Verzicht auf Vergeltung. Vor hundert Jahren sagte man, mit der Bergpredigt könne man keinen Staat machen. Die Alternative, die man wählte, war die Politik von Macht und Gewalt. Zwei Weltkriege waren die Folge. Heute sagt man herablassend, eine solche Haltung der Feindesliebe und des Verzichts auf Vergeltung zeige ein blauäugiges „Gutmenschentum“. Was spricht eigentlich gegen blaue Augen? Und ist denn ein „Schlechtmenschentum“ besser als ein „Gutmenschentum“? Wer Jesu Weg bis hin ans Kreuz verfolgt, kann ihn bestimmt nicht einen naiven Träumer nennen. Warum soll das bei denen anders sein, die – zugegeben: oft nur schlecht und recht – versuchen, auf seiner Spur zu bleiben?

Unterwegs mit Jesus umfängt die Jüngerinnen und Jünger Gottes Fürsorge. Dieses Grundvertrauen will Jesus wecken und fördern. Aus diesem Vertrauen heraus wächst die Kraft, sich nicht entmutigen zu lassen. Erwächst die Beharrlichkeit, nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit zu trachten. Erwächst unser Eintreten für Frieden und Versöhnung. Das ist eine Bewegung, die Fremde einschließt und allem Fremdenhass entgegentritt. Sie achtet die gleiche Würde jedes Menschen, sie nimmt Partei für die Würde der Gedemütigten – so wie uns diese Würde der Gedemütigten in der Gospelmusik derer entgegentritt, die sich aus der Sklaverei zur Freiheit emporrecken. Aus diesem Geist der Freiheit und der Versöhnung, aus dieser Kraft einer Würde, die Gott schenkt, lebt die Gospelmusik. Ihr großes Thema ist Gottes neue Welt und die Hoffnung, für sie schon jetzt Spuren zu finden und zu legen.

Natürlich gibt es Gegenerfahrungen. Jeder verhungerte Sperling widerlege Jesus, umso mehr Krieg und Not, hat jemand unserem Bibeltext entgegengehalten. Doch die Gewissheit, dass Gott es gut mit seinen Geschöpfen meint, zerbricht an Hunger und Friedlosigkeit nicht; sondern sie motiviert zum Widerstand, sie gibt Kraft zur Nächstenliebe, sie stachelt zur Arbeit für den Frieden an.

Dabei hilft der Blick auf die Wurzeln des Gospel. Am Anfang stehen die Lieder der schwarzen Sklaven. Nichts konnten sie mitnehmen, als sie von Afrika nach Nordamerika verschleppt und zum Sklavendienst gezwungen wurden – außer ihrer Kultur und ihrer Musikalität. Mit Waffengewalt wurden sie zur Arbeit gesungen. Aus dieser Demütigung erhoben sie sich durch ihr Singen und Tanzen. Sie zeigten eine Freiheit, die von innen kam; und sie erlangten schließlich auch äußere Freiheit.

„Der Glaube ist der Vogel der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist“, hat der indische Dichter Tagore gesagt. Gospelmusik nimmt die Befreiung durch Gott hoffnungsvoll vorweg. Im Lied klingt schon auf, was für die Zukunft erhofft wird. Das Lied bringt unser Vertrauen zum Klingen; es verleiht unserer Hoffnung Flügel.

In einem Gospel, der vermutlich auch in diesen Tagen gesungen wird, heißt es „I’m coming back to the heart of worship. And it’s all about you, Jesus.“ In ihm, in Jesus, hat unser Gotteslob sein Herz und unser Glaube seine Mitte. Für das, was er sagt, steht er mit seinem Leben und mit seinem Sterben ein. Es ist der Blick auf ihn, der uns singen und hoffen lässt. Es ist seine Spur, der wir folgen, wenn wir für Gerechtigkeit und Frieden eintreten. „It’s all about you, Jesus“. Diesen Geist wünsche ich dem Gospelkirchentag in Hannover. Wie gut, dass ihr da seid!