Predigt im Rundfunkgottesdienst am Diakoniesonntag in St. Marien zu Berlin (Hebräer 10,35-36.39)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Es gehört zu meinen bleibenden Jugenderinnerungen: die Rückkehr der Kriegsgefangenen, die erst 1955 den Weg aus der Sowjetunion in die Heimat antreten konnten. Mehr als zehn Jahre hatten sie arbeiten und warten, hungern und frieren müssen. Was musste man tun, um die Hoffnung nicht aufzugeben? Worauf sollte man in einer solchen Situation vertrauen?

Er war einer von diesen Soldaten. In der Kriegsgefangenschaft schnitzte er sich einen Holzlöffel, in dem er seinen Ehering verbarg. Er wollte nicht, dass ihm auch der noch abgenommen würde, deshalb das harmlos scheinende Versteck. Als er schließlich nach Hause kam, zerbrach er den Löffel vor den Augen seiner Familie, holte den Ring heraus und steckte ihn sich wieder an den Finger. Er passte. Das Vertrauen hatte gehalten. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der versteckte Ring, die in ihm geborgenen Erinnerungen und das in ihn eingravierte Versprechen hatten ihm Halt gegeben.

Ein schlichter Holzlöffel als Gefäß des Vertrauens. Was er alles umschloss! Die unbändige Hoffnung auf Rückkehr. Die Liebe zu der tief entbehrten Frau! Die Sehnsucht nach dem vertrauten Antlitz, in dem alles, was Bedeutung hat, aufscheint! In allen Anfechtungen hielt der Soldat an dem Glauben fest, dass auf Gottes Barmherzigkeit Verlass ist, allem Augenschein zum Trotz! Auch für einen Kriegsgefangenen, der für die falsche Sache gekämpft hat. „Werft euer Vertrauen nicht weg!“ An diese Aufforderung hielt er sich.

Das ist eine lebensnahe, ja packende Aufforderung. Sie findet sich in einem bewegenden Abschnitt des Neuen Testaments, im 10. Kapitel des Hebräerbriefs. Nachdem Gott – so heißt es da – vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, spricht er in diesen Tagen auch zu uns: Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.

Auch an uns richtet sich dieser Ruf zum Vertrauen. Von der frühen christlichen Gemeinde, die sich als wanderndes Gottesvolk bezeichnete, wurde dieser Ruf zum Vertrauen weiter gegeben von Generation zu Generation, sozusagen von Hand zu Hand. Bei Johann Hinrich Wichern kam er an, mit umstürzenden Folgen: Er widmete sein Leben den Menschen in Not. Der Kriegsgefangene klammerte sich an ihn und ließ diesen Strohhalm nicht mehr los, bis er frei war und auch seinen Ring wieder aus dem Gefängnis befreien konnte, in dem er ihn geborgen hatte. Auch uns erreicht dieser Ruf.

Aber welch andere Situation! Die im Wendejahr 1989 geborenen Kinder sind inzwischen volljährig. Die Erzählungen über leidvolle Kriegserlebnisse und erst recht die eindrucksvolle Lebensgeschichte Johann Hinrich Wicherns liegen für sie weit zurück. Doch auch sie, heute zwischen achtzehn und zwanzig, wissen aus eigener Erfahrung, wie gut Vertrauen tut. Auch sie sind schon auf Menschen gestoßen, die ihren Weg gehen, weil sie dem Vertrauen in ihrem Herzen Raum geben und es nicht mehr loslassen. Und andere sind ihnen begegnet, denen die Enttäuschung in die Seele eingeschrieben ist, weil sie über weggeworfenes oder verloren gegangenes Vertrauen gestolpert sind. Junge Menschen haben mit der Bedeutung von Anerkennung und Belohnung ihre eigenen Erfahrungen. Ob in ihnen Vertrauen wächst, hängt entscheidend davon ab, ob sie respektiert, wertgeschätzt, mit ihren Gaben gebraucht werden.

Ob auch der Glaube in ihren Überlegungen vorkommt? Viele wachsen in einer unbefragten Distanz zu Jesus Christus auf. Was könnte es für sie bedeuten, Jesus zu begegnen, der mit seinem Leben und seiner Botschaft für Vertrauen bürgt, Vertrauen weckt, Vertrauen wachsen lässt. Wir alle können dazu beitragen, dass es zu einer solchen Begegnung kommt.

Wäre weggeworfenes Vertrauen sichtbar, so würden wir manches Mal über Vertrauen stolpern, achtlos weggeworfen, zynisch verweigert, aus tiefster Enttäuschung weggestoßen. Wie oft möchte ich Menschen wieder zu dem Vertrauen hinführen, das für sie bestimmt ist und das sie doch verweigern: dem Vertrauen zu Gott, der es mit unserem Leben so gut meint, dem Vertrauen zu einem Mitmenschen, das nur verschüttet ist durch ein Missverständnis, das sich wieder und wieder in den Vordergrund schiebt. Wie oft möchte ich einem Menschen zusagen, dass die Versöhnung Gottes auch das Vertrauen neu wachsen lässt, jung und unverbraucht! Wenn weggeworfenes Vertrauen sichtbar wäre, du würdest über die angehäuften Enttäuschungen geradezu stolpern. Dann würdest du genauer auf das unerwartete Hindernis schauen und dich des auf der Straße verstreuten Vertrauens annehmen – samt all der Enttäuschungen und Hoffnungen, die dazu gehören.

Hat dein Glaube eine Antwort darauf, dass viele Menschen so gekrümmt daherkommen, weil sie ein ganzes Schleppnetz voller Sorgen und Nöte hinter sich herziehen? So fragt einer. Gerade ihnen gilt der Ruf Jesu, erwidere ich. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ So antworte ich mit Jesu eigenen Worten. Doch der Fragende hält dagegen: Das sagst du doch nur so! Das ist doch nur eine Floskel, die nicht das Papier wert ist, auf dem sie steht! Wie gern möchte ich ihm die Angst nehmen, die aufkeimende Hoffnung könnte erneut bitter enttäuscht werden.

„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Das ist keine Floskel, ohne Sinn dahergesagt. Bei Jesus ist das nicht so, der für diese Zusage sein Leben eingesetzt hat. Und in der Geschichte der Christenheit ist es auch nicht so. Immer wieder haben Menschen die Kraft gefunden, sich den Mühseligen zuzuwenden und sich zu den Beladenen herabzubeugen, damit sie das weggeworfene Vertrauen wieder finden.

Wenn mein Gegenüber dabei bleibt, all das seien doch nur leere Worte, dann würde ich ihn gern hierher in die Marienkirche einladen. Ich würde ihm von den zahlreichen Anstrengungen der Diakonie erzählen. Könnte er doch mit der Hebamme sprechen, die auf der Geburtshilfestation arbeitet. Würde er doch einer der Frauen zuhören, die Kinder und ihre Mütter oder Väter in den ersten Lebensmonaten begleiten – Känguru heißt dieses neue diakonische Projekt. Würde er sich doch von denen erzählen lassen, die bei Sterbenskranken am Bett sitzen, um sie auf dem letzten Weg nicht allein zu lassen. Würde er doch den Sportlehrer in der Berufsschule beobachten, der leidenschaftlich mit Rollstuhlfahrern Basketball spielt.

Mein Gesprächspartner sollte sich einmal zu denen setzen, die hier in St. Marien sonntags eine warme Mahlzeit bekommen. Vor vierzehn Jahren fing das an. Der Gemeinde fiel es am Anfang nicht leicht. Ein Ort der Kirchenmusik und eine Suppenküche – passt das zusammen? Zögernd und unsicher kamen zunächst dreizehn Gäste. Es waren ausschließlich Männer. Heute sind es viel mehr. Die zunehmende Armut macht auch vor den Toren dieser Kirche nicht Halt. Mehr als dreitausend Menschen werden jetzt in einem Jahr gezählt. Die Aktion „Laib und Seele“ kommt noch dazu. Und ebenso eine Notübernachtung in der kalten Jahreszeit. Man spürt die Wirklichkeit dieser Stadt: kein Alter ist von der Armut ausgenommen. Neugeborene kann man hier sehen, Erstklässler, die kein eigenes Kinderbuch besitzen, Behinderte, die sich vortasten zu einem Ort, an dem sie willkommen sind. Miteinander essen und trinken, durchatmen für wenige Stunden. Davon erzählen diejenigen, die hier regelmäßig eine warme Mahlzeit suchen. Nicht nur der Klang der Orgel oder die anspruchsvolle Predigt, nicht nur das heilige Abendmahl, sondern auch die Suppenküche bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Wirf dein Vertrauen nicht weg. Tritt nicht ein in den Orden der Nihilisten und Zyniker. Du kannst aufrecht gehen, denn das Tau zum Schleppnetz der Sorgen und Nöte ist gekappt. Die Zuwendung zu den Mühseligen und Beladenen ist keine leere Floskel. Sie findet statt – Gott sei Dank! Du kannst dabei sein.

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, spricht er in diesen Tagen auch zu uns: Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.

Amen.