Predigt im Rundfunkgottesdienst (Hebr.13, 15f), Johannesstift, Berlin

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

I.

Eine uralte Geste geht mir an diesem Tag durch den Sinn. Bilder meiner Kindheit kehren zurück. Ich atme die Weite der Landschaft. Die goldgelben Felder sind abgemäht. Feuchter Staub liegt auf den Sensen. Sie haben ihren Zweck erfüllt und stehen nun an der Scheune. Die Ernte ist eingebracht. Das Wetter hat – Gott sei Dank – gehalten. Die Hofgemeinschaft sitzt erschöpft und doch erleichtert um den Tisch. Gemeinsam wollen sie das Vesperbrot verzehren. Der Bauer spricht ein Dankgebet. Von den Kindern bis zu den Großeltern, sie alle stimmen in das Amen ein. Ehe die Mutter für das Brot aufschneidet, ritzt sie ein Kreuz in den Brotlaib. Dann verteilt sie die Scheiben von dem frisch angeschnittenen Laib.

Mit dem Brot gibt sie die uralte Erfahrung weiter, dass wir von den Segensgaben leben, die Gottes gute Schöpfung für uns bereithält. Diese Gaben werden geteilt, wie Christus sich selbst dahingab. Deshalb das Kreuz. Gottes gute Gaben werden uns in die leeren Hände gelegt. Sie sind uns anvertraut.

Aus der Freude über die Segensgaben aus Gottes guter Schöpfung erwächst der Wunsch, die Arbeit durch ein Fest zu unterbrechen. Erntedank kann nur fröhlich und üppig gefeiert werden. Mit Inbrunst singen Frauen und Männer in der Großstadt, auch wenn sie höchstens zwei Blumenkästen auf dem Balkon haben, „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“ singen sie, auch wenn nur noch die wenigsten den Samen auf das Land ausbringen.

Wer neugierig geworden ist, mag es am kommenden Sonntag in der eigenen Kirchengemeinde ausprobieren. Äpfel, Honig, Kürbisse und Kartoffeln, Sonnenblumen, Hopfen und Most, Trauben und Ähren sorgen für Augenweide, Nasenkitzel und Gaumenfreuden. Aber wer jetzt schon Erntedank ganz groß feiern möchte, der ist heute im Berliner Johannesstift richtig. Heute kommt zusammen, was zusammengehört. Zu den Früchten des Feldes gesellt sich die Frucht der Lippen – das Dankgebet und das fröhliche Lied.

Um diesen großartigen Zusammenklang geht es, wenn wir Erntedank feiern. Die Früchte des Feldes und die Antwort der Lippen sind aufeinander bezogen. Diese Einheit begegnet uns auch im Neuen Testament in einem Abschnitt aus dem Hebräerbrief, der unserem Feiern heute die Richtung gibt:

So lasst uns nun durch Jesus Christus Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.

II.

„Allezeit“ sollen wir Gott loben. So sagt es der Hebräerbrief. Jeder Tag zählt – so sagen wir mit dem Evangelischen Johannesstift, das in diesem Jahr sein 150jähriges Jubiläum feiert. 150 Jahre – das sind 54.787 Tage. Und jeder Tag zählt. So sagt es das Motto für dieses Jubiläumsjahr. Seit 150 Jahren loben Menschen Gott und vergessen nicht, mit anderen zu teilen. Seit 150 Jahren verfolgen Menschen, die sich zu Jesus Christus bekennen, Tag für Tag ihre Mission. Sie wollen an jedem Tag die Schwachen stützen und die Hilfsbedürftigen begleiten. Tag für Tag setzen sie sich dafür ein, dass die starken Schultern die weniger robust gebauten Mitmenschen entlasten. Das braucht innere Kraft und die äußere Bereitschaft, sich dem Mitmenschen zuzuwenden. So wird Helfen zum Beruf. „Solche Opfer gefallen Gott.“

Das von Johann Hinrich Wichern gegründete Evangelische Johannesstift ist heute eine moderne diakonische Einrichtung. Sie richtet sich an den Bedürfnissen der Schwachen aus. Der gute Ruf einer solchen Einrichtung muss Tag für Tag bewährt werden. Denn es geht um Menschen. Das ist wirklich ein Langstreckenlauf. So ähnlich wie beim Berlin-Marathon.

Das Marathonthema des Johannestifts lautet in seinem Geburtstagsjahr: „Jeder Tag zählt.“ Worum es an jedem Tag geht, gibt uns das biblische Wort eindeutig vor: Lobt Gott! Und: Vergesst nicht Gutes zu tun und mit anderen zu teilen, denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen.

III.

Das Erntedankfest ist ein Widerhaken gegen unsere Vergesslichkeit. Das Kreuz auf dem frischen Brot erinnert mich daran, dass auf meinem Tisch eine Segensgabe liegt. Die Stiftskirche, hier mitten auf dem Gelände des Johannesstifts, erinnert mich daran, dass Christus uns zur Hilfe für unsere Nächsten ruft und uns bei unserem helfenden Handeln stützt. Wir sind reich beschenkt; deshalb können wir teilen. Daran erinnert dieser festliche Tag, mit seinem Gottesdienst, seinem Festumzug, seinen vielfältigen Angeboten und schließlich dem besinnlichen Lichterumzug am Abend. Fragen Sie sich am Ende dieses Tages, wem Sie gedankt und mit wem Sie geteilt haben. Als Kinder Gottes sind wir reich beschenkt. Wir brauchen nicht alles für uns selbst zu behalten.

Viele gute Gaben werden im Lauf dieses Tages gezeigt. Viele guten Gaben kann man sehen. Doch es gibt eine Gabe, die über alles hinausgeht, was wir mit Händen greifen können. Sie ist nur schwer in Worte zu fassen. Denn sie trägt das Geheimnis des von Gott geschenkten Lebens in sich. Nicht nur die Lebensmittel sind uns anvertraut, mit denen wir unser Leben fristen. Anvertraut ist uns vor allem unser Leben selbst. Die kostbarste Gabe, die wir empfangen, sind wir selbst – mit allem, was zu uns gehört, in der Verbindung mit den Liebsten, von denen wir nicht lassen wollen, begabt mit einer unverlierbaren Würde, uns selbst geschenkt als Gottes Kinder und als sein Ebenbild. Aus unerschöpflicher Freiheit ruft Gott uns ins Leben und gibt uns an seiner Freiheit Anteil. Vielfältige Gaben vertraut er uns an und begleitet uns mit dem Vertrauen, dass wir von diesen Gaben den rechten Gebrauch machen. Im Glauben machen wir uns dieses göttliche Vertrauen zu Eigen. Nicht nur die sichtbaren Gaben, die Gott uns anvertraut,  bedenken wir an Erntedank, sondern ebenso die unsichtbaren: unsere Würde, unsere Freiheit, unsere Fähigkeit zu vertrauen.

Würde, Freiheit und Vertrauen – ohne sie kann unser Leben nicht gelingen. Denn wo einem Menschen die Würde geraubt ist, wird er innerlich beschädigt. Wo Menschen nicht in Freiheit leben können, ist das Zusammenleben gefährdet. Wer nicht aus dem Vertrauen lebt, wer deshalb kein Zutrauen zur Zukunft hat, der verkriecht sich in sich selbst.

IV.

Nicht Erntegier und auch nicht Erntestolz, sondern Erntedank heißt das Fest, das wir heute feiern. Nicht Gier bestimmt die Gaben, die wir heute darbringen. Erntedank ist ein Zeichen gegen die hemmungslose Gier, die in der Steigerung von Rendite und Profit kein Halten kennt. Doch wo die Erwartungen ins Maßlose gesteigert werden, ist der Absturz entsprechend tief. Das erleben wir in diesen Tagen bei den schwersten Erschütterungen, die seit achtzig Jahren über die Finanzmärkte der Welt gekommen sind. Der Tanz ums Goldene Kalb fand nicht nur in der Wüste des Sinai statt. Heute werden diesem Goldenen Kalb ungleich größere Opfer gebracht. Nur ein einziges Gegengewicht gegen die Maßlosigkeit dieses Tanzes kann ich erkennen. Die Dankbarkeit ist das Gegengewicht. Dass wir Gott loben und mit unseren Nächsten teilen – das ist die Alternative zum Tanz um das Goldene Kalb. Warum nur einer von den zehn vom Aussatz geheilten Menschen umgekehrt ist, um Gott zu danken und ihn zu loben, fragt Jesus. Wo sind die anderen neun? Wo sind wir?

Nicht Erntegier und auch nicht Erntestolz! Auch nicht der Stolz auf das, was wir selbst geschafft haben, bestimmt diesen Tag; er ist bestimmt von dem Dank dafür, dass wir geschaffen sind. Wir können nicht zulassen, dass der Dank gestrichen wird und nur noch von einem Erntefest die Rede ist. Der Dank nimmt wahr, was wir empfangen, ohne es selbst herstellen können: ein Leben in Würde, Freiheit und Vertrauen. Nicht nur für unser persönliches Leben ist das wichtig. Auch unsere Gesellschaft, unsere Demokratie lebt davon.

Wir wollen, dass auch Kinder und Jugendliche Zugang zu einer solchen Lebenshaltung finden, zu einer Haltung der Dankbarkeit. Deshalb treten wir für einen ordentlichen Religionsunterricht ein – auch an den Schulen Berlins. Nicht nur in den Schulen in kirchlicher Trägerschaft, wie hier im Johannesstift, sollen Schülerinnen und Schüler die christliche Prägung unserer Wertordnung kennen lernen, sondern an allen Schulen. Seit einer Woche wirbt die Initiative Pro Reli um Unterschriften. Auch dafür gilt: Jeder Tag zählt. 170 000 Unterschriften sollen es werden – je schneller, desto besser.

Immer mehr Menschen fragen, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen wird. Sie fragen, wie Würde, Freiheit und Vertrauen unsere gemeinsame Zukunft prägen. Und sie merken: Das Danken macht zukunftsfähig. Es erinnert an das Lebensnotwendige. Es hilft uns dabei, nicht nur an uns selbst zu denken. Es ruft dazu auf, die Würde des anderen zu schützen, für die Grundlagen der gemeinsamen Freiheit einzutreten und ein Vertrauen zu wagen, das verbindet.

Der Erntedank-Blick ist für jeden Dialog über die Zukunft nötig. Das lässt sich hier im Johannesstift lernen. Dieser Blick richtet sich auf die Grundlagen, auf denen wir ein Leben in der Verantwortung vor Gott und den Menschen führen können. Dass diese Grundlagen sich erneuern, darauf kommt es an. Dafür ist die Dankbarkeit der erste Schritt. Deshalb sagen wir an diesem Tag: „Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Wir singen miteinander das Lied „Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag.“