Predigt im Berliner Dom

Wolfgang Huber

Wenige Wochen ist es erst her. Ein Junge steht in der Schlange der Erwachsenen an der Kasse im Kaufhof. In seinem Korb stapeln sich Hefter, Schreibblöcke, Tuschkasten und Buchumschläge. In der Schreibwarenabteilung herrscht ein ungewöhnlicher Andrang. Doch wen wundert das schon am Abend des ersten Schultags? Die Abendsonne meint es gut mit den Menschen, die auf dem Heimweg über den Alexanderplatz strömen. Wie schön ist das Leben doch Ende August! Über den Alexanderplatz eilen zielstrebige Pendler dahin. Andere sitzen in der Abendsonne und genießen den Augenblick. Selbst das lange Warten an der Kasse in der Schreibwarenabteilung führt nicht zu den üblichen Gereiztheiten. Der Junge, er mag elf oder zwölf Jahre alt sein, räumt den Inhalt seines Einkaufskorbs auf den Kassentisch.

Offensichtlich begleitete ihn seine Großmutter. Sie hatte während des Anstehens mit ihm auf Russisch gesprochen. Der Mann hinter dem Jungen in der Schlange schaut auf die Uhr. Gern würde er den nächsten Regionalexpress schaffen. Seine Tochter hatte ihn gebeten, einen Block und zwei Buchumschläge mitzubringen. Nun wird die Zeit knapp. Aber die Kassiererin ist noch damit beschäftigt, die Schreibwaren des Jungen einzuscannen. Endlich ist sie so weit. Der Junge mit der russisch sprechenden Großmutter  legt sein Geld auf den Tisch. Doch die Kassiererin sagt: Das reicht leider nicht. Der Junge antwortet in fließendem Deutsch: „Ich brauche das aber alles. Die Lehrerin hat uns einen Zettel gegeben.“ Die Großmutter des Jungen steht zwanzig Meter weiter weg an einem Regal. Sie hält sich heraus. Wahrscheinlich kann sie ihrem Enkel weder sprachlich noch finanziell helfen. „Es fehlen aber noch sechzehn Euro. Du musst jetzt entscheiden, was du hierlassen willst.“ Die Frau an der Kasse schaut ihn traurig Augen an. „Wie viel fehlt genau? Sechzehn Euro? Ich bezahle das mit.“ Der Mann in der Schlange hinter dem Jungen zieht einen zwanzig Euro-Schein heraus. Die Kassiererin atmet auf. „Gut, dann können wir alles einpacken.“ Und zu dem Mann: „Das ist aber nett von ihnen!“ Weiter hinten in der Schlange sagt eine Frau zu ihrer Freundin: „Da sollten wir uns gleich anmelden. Mit dem Herrn würde ich auch gern einkaufen gehen.“ Die Leute lachen, der Mann bezahlt schnell seine Kleinigkeiten und eilt zum Bahnhof. Vielleicht schafft er ja den Zug noch. Die Großmutter nähert sich wieder ihrem Enkelsohn. Er packt erleichtert und konzentriert seine sieben Sachen ein. Dann verlassen sie das Kaufhaus. Draußen auf dem Alex flutet die Abendsonne das Leben mit Licht.

Der Predigtabschnitt für den heutigen Sonntag steht im ersten Johannesbrief im 2. Kapitel. In diesem Abschnitt heißt es:

Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet. Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennt den Vater. Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.

Nächstenliebe ist das große Thema des Johannes. Er preist sie in den höchsten Tönen. Aber ganz alltäglich kann es mit ihr zugehen, mit der Nächstenliebe. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“ So alltäglich kann es zugehen wie auf dem Alexanderplatz. Ein Vater weiß es – und er übt die Liebe gegenüber einem Kind, das gar nicht seines ist. Die Großmutter weiß es – aber aus Angst sich zu blamieren, hält sie sich vom eigenen Enkelkind fern. Aber es geht noch einmal gut; und wir wissen: Wer einem Kind Hoffnung gibt, arbeitet an der Zukunft unserer Welt. Wer Liebe übt, bringt Licht in das Dunkel.

Eine Handbreit nur sind Licht und Finsternis voneinander entfernt. Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. Hass und Finsternis liegen ganz dicht beieinander, ja eigentlich sind sie dasselbe. Hass, das ist eine innere Verfinsterung, die sich aus der Ablehnung des Mitmenschen und der tiefen Abneigung gegen ihn ergibt. Dunkel wird es in uns, weil wir uns von unseren Mitmenschen abwenden. Hell wird es in uns, wenn wir für unsere Mitmenschen ein offenes Auge haben. Die Welt verführt uns dazu, nur uns selbst zu sehen. Die Liebe hilft uns dabei, den anderen wahrzunehmen. Folgen wir der Verführung durch die Welt, wird es finster in uns. Folgen wir dem Weg der Liebe, dann fällt Licht in unser Leben.

Klar werden diese beiden Möglichkeiten voneinander unterschieden. Dass sie so klar zu unterscheiden sind, zeigt unsere alltägliche Lebenserfahrung – die Erfahrung im Kaufhof nebenan und in vielen Situationen unseres Alltags. Dass es so ist, zeigt sich aber auch in großen geschichtlichen Ereignissen.

In diesen Wochen haben wir uns an einen bedeutenden englischen Bischof erinnert, der vor fünfzig Jahren, am 3. Oktober 1958, starb. George Bell, der Bischof von Chichester, war ein enger Freund des deutschen Theologen und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer. Das half ihm, Vertrauen in den deutschen Widerstand gegen das Hitlerregime zu fassen. So warb er während des Krieges in Großbritannien dafür, dass man über allen Gräueln der Hitlerherrschaft das andere Deutschland nicht vergessen solle, auf das man nach dem Krieg angewiesen war. Ebenso mutig trat er den Flächenbombardements gegen deutsche Städte entgegen. Nach dem Krieg war er einer der ersten, die Deutschland wieder besuchten. Schon im August 1945 predigte er inmitten unserer zerstörten Stadt in einem Gottesdienst hier nebenan in der Marienkirche. Darauf konnte dann der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland mit der Stuttgarter Schulderklärung antworten, in der es im Blick auf das Versagen von weiten Teilen der evangelischen Kirche hieß: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ So kann der Weg aus dem Dunkel ins Licht beginnen. Dieser Weg ist denkbar und möglich, weil Gott in Vorleistung gegangen ist und unser Leben ins Licht gerückt hat. Das gibt uns die Kraft zum Bekenntnis der Schuld, wie wir es in jedem Gottesdienst aussprechen.

Schuld und Finsternis sind uns nicht nur aus der Geschichte vertraut. Sie sind auch ein großes Thema dieser Tage. Ja, sogar das starke Wort, mit dem unser Predigtabschnitt endet, hören wir mit neuen Ohren: Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit. Viele Generationen haben das als eine Absage an Lust und Leidenschaft gehört; sie haben ihre Freude an sexueller Gemeinschaft versteckt und gedacht, dazu dürfe man sich nicht bekennen – denn das sei doch „die Welt mit ihrer Lust“. Inzwischen hat sich das ins Gegenteil verkehrt; in vielfältiger Form wird Sexualität zur Ware gemacht und damit der Mensch selbst zum Gegenstand: das ist dann wirklich „verkehrte Welt“, die mit dem Willen Gottes nichts zu tun hat.

Aber es sollte kein Missverständnis aufkommen: Wer vorschnell Sexualität als des „Fleisches Lust“ und die Freude an den Schönheiten unserer Welt als „der Augen Lust“ oder das Genießen eines guten Essens mit passendem Rotwein als „hoffärtiges Leben“ ansieht, dem ist noch nicht deutlich geworden, worum es geht.

Es geht darum, ob Jesus Christus in dieser Welt Raum hat oder ob er aus ihr verdrängt wird. Wenn wir Gott aus unserem Leben ausklammern und nicht mehr mit seiner Gegenwart rechnen, dann entfaltet sich der Skandal der Lieblosigkeit. Eine Welt, in der die Barmherzigkeit verloren geht, müssen wir nicht lieben. Eine Welt, in der Schulkinder nicht genug Geld haben, um sich Schulhefte kaufen zu können, müssen wir nicht verklären. Vielmehr kann alles in dieser Welt verkehrt werden – der Umgang mit der Sexualität, mit der Schönheit der Natur, mit gutem Essen, auch mit dem Geld als solchem.

Denn was geschieht, wenn das Geld zur Droge, ja zum Götzen wird, das hat uns in den letzten Wochen und Monaten in Atem gehalten. Wir erleben genau, was gemeint ist, wenn es heißt: Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Für die Gier nach Gewinn wurden Anreize geschaffen, die für die damit verbundenen Risiken blind machten. Neue Finanzprodukte wurden geschaffen, hinter denen keine realen Werte standen. Menschen wurden dazu verleitet, Schulden zu machen – ohne jede Aussicht, sie bezahlen zu können. Nun übernimmt der Staat schlechte Kredite; im Zweifelsfall werden sie also von allen Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam bezahlt. Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit. Die Warnung Jesu, man könne nicht Gott dienen und dem Mammon, wurde immer wieder zum Gespött gemacht. Aber jetzt liegt ihre Wahrheit am Tage. Die Vergötzung des Geldes verführt zum Verlust aller Maßstäbe. Der Tanz um das Goldene Kalb lässt die zehn Gebote vergessen.

Das ist der große Zusammenhang, an dem wir erfahren, wie das ist, wenn Finsternis sich breit macht, wenn die Eigensucht überhand nimmt, wenn es an klarer Orientierung fehlt. Aber was wir im Großen sehen, trifft auch im Kleinen zu. Es gibt keinen Grund dazu, mit erhobenem Zeigefinger auf andere zu zeigen. Wir kennen Lieblosigkeit und Eigensucht, wir kennen den Götzendienst des eigenen Vorteils auch aus unserem eigenen Alltag.

Gibt es einen Ausweg? Der Ausweg heißt Vergebung – so sagt es uns dieser Sonntag. Vergebung hilft zu einem veränderten Leben. Der Anfang ist gemacht. Gott ist in Vorleistung gegangen. Gott bestätigt uns in Jesus Christus, dass wir Erlöste des Herrn sind. Er stellt uns auf den festen Grund, auf dem ein Leben in der Liebe, ein Leben im Licht sich entfalten kann.

Gott hat Tatsachen geschaffen. Unsere Sünden hat er weggeworfen und von uns fortgeschleudert. Die Sünde ist gelöscht – und zwar wirksam und endgültig, nicht mit jener Halbherzigkeit, mit der Computer Löschbefehle ausführen: irgendwo im Labyrinth der Festplatte bleibt ja fast immer eine Spur erhalten, mit deren Hilfe der Fachmann alles wieder zum Vorschein bringen kann. Gottes Vergebung ist unumkehrbar. Dagegen sind menschliche Schuldexperten machtlos.

Deshalb – so sagt es das lebendige Wort Gottes – können wir aufrecht und froh unseren Weg gehen.

Hin und wieder können wir der Verfinsterung entgegentreten. Wir können am Volksbegehren „Pro Reli“ teilnehmen und für die Gleichberechtigung des Religionsunterrichts kämpfen. Damit treten wir für das hohe Gut der Wahlfreiheit ein. Mit demokratischen Mitteln gestalten wir so die Zukunft Berlins.

Der Junge, der im Kaufhaus am Alex seine Schulausstattung gekauft hat, wird das besondere Licht dieses Sommerabends nicht vergessen. Vielleicht bekommt er ja in seiner Schulzeit noch die Chance auf eine freie Wahl zwischen Religionsunterricht oder Ethikunterricht. Ich wünsche ihm das sehr.

Amen.