Predigt im Gottesdienst im Brandenburger Dom (Genesis 18,20-33)

Wolfgang Huber

I.

Die Bibel ist ein Buch großer Erzählungen. Jede Generation wird eingeladen, sich in diesen Erzählstrom hineinnehmen zu lassen. Die Bibel beginnt sogleich mit der großen Welterzählung schlechthin, der Erzählung vom Anfang aller Anfänge, die dann mit Abraham in die Erzählung von den Anfängen des Volkes Israel übergeht.

Ineinander verwoben sind die einzelnen Erzählstränge im ersten Buch Mose. Faszinierend, fremd und voller Zumutungen versetzen sie demjenigen, der sich auf sie einlässt, manchen Nackenschlag. Anmutig erzählt, wecken sie zugleich Bilder der Hoffnung auf die Menschlichkeit unter den Menschen. Denken Sie an den Garten Eden oder an den Brudermord auf dem Feld. Denken Sie an die steigenden Wasser der Sintflut oder an die zur Arche zurückkehrende Taube, einen grünen Zweig im Schnabel. Wenn du dann auf einer Wanderung in den Ferien einen Regenbogen am Himmel bemerkst, weißt du, das sind auch deine Geschichten.

Und dann, nach dem Anfang aller Anfänge, der Aufbruch aller Aufbrüche: der Aufbruch Abrahams: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“

Im Gang dieser Aufbruchsgeschichte wird uns geschildert, wie Abraham und Sara ihr Zelt im Eichenhain von Mamre aufgeschlagen haben. An diesem Ort erscheint ihnen Gott in Gestalt dreier Boten. Abraham und Sara erhalten die verwirrende und wunderbare Nachricht, dass sie ein Kind bekommen werden. Sara lacht, die Sonne taucht den Horizont und die Eichen in ein goldgelbes Licht.

Nicht weit entfernt von diesem Eichenhain und der ihn umgebenden Landschaft befinden sich zwei Städte. Die Boten Gottes nehmen Abschied von Abraham und Sara. Sie ziehen nach Sodom und Gomorra. Im 18. Kapitel des 1. Buchs Mose heißt es:

Da sprach der HERR: Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will, da er doch ein großes und mächtiges Volk werden soll und alle Völker auf Erden in ihm gesegnet werden sollen? Denn dazu habe ich ihn auserkoren, dass er seinen Kindern befehle und seinem Hause nach ihm, dass sie des HERRN Wege halten und tun, was recht und gut ist, auf dass der HERR auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat. Und der HERR sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, dass ihre Sünden sehr schwer sind. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob's nicht so sei, damit ich's wisse. Und die Männer wandten ihr Angesicht und gingen nach Sodom. Aber Abraham blieb stehen vor dem HERRN und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? Der HERR sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin. Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben. Und er fuhr fort mit ihm zu reden und sprach: Man könnte vielleicht vierzig darin finden. Er aber sprach: Ich will ihnen nichts tun um der vierzig willen. Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, dass ich noch mehr rede. Man könnte vielleicht dreißig darin finden. Er aber sprach: Finde ich dreißig darin, so will ich ihnen nichts tun. Und er sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden. Man könnte vielleicht zwanzig darin finden. Er antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen. Und er sprach: Ach, zürne nicht, Herr, dass ich nur noch einmal rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen. Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden; und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort.

II.

Ein penetrantes Gespräch. Abraham liegt Gott in den Ohren. Wäre er unser Zeitgenosse, wäre das Gespräch möglicherweise noch weiter gegangen. Der Ton wäre vielleicht ein anderer gewesen: Götter, die für Gesetz und Ordnung ganze Städte vernichten, weil die Bösen darin angemessen bestraft werden müssen, würden wir nicht nur um Milde bitten. Wir würden ihr Vorgehen als solches in Frage stellen. Vernichtungsdoktrinen, aus welchen Gründen auch immer, erwarten wir eher bei Staatsideologen oder Terroristen als bei Gott. Soll sich Gottes Gerechtigkeit in unterschiedsloser Vernichtung Ausdruck verschaffen, vermuten wir dahinter eher einen Götzen. Die Vorstellung, es gebe eine Stadt mit einer durchweg todeswürdigen Bevölkerung, will uns nicht in den Sinn. Um die Redeweise, irgendwo gehe es zu wie in Sodom und Gomorrha, ist es still geworden. Ein Gott, der keine zehn Gerechten unter Tausenden findet, muss sich irren. Ein Gott, der sich für seine Besuche auf der Erde mit Feuer und Schwefel rüstet, scheint ein religiöser Irrtum zu sein.

Wem wurde dieses eindrückliche und befremdliche Gespräch zwischen Abraham und Gott zuerst erzählt. Mutmaßlich den Israeliten, die aus dem babylonischen Exil in die Heimat zurückkehrten. Wanderer sie selbst, erzählten sie die große Wanderungsgeschichte ihrer Urväter weiter, Abrahams, Isaaks und Jakobs Wanderung und dann schlielßlich die Geschichte von der großen Heimkehr aus der Sklaverei in Ägypten. Ihre Hoffnung auf Überleben legten sie in diese Geschichten hinein, beim Erzählen wie beim Hören. Welche Überlebenslehre aber wurde den aus dem Exil zurückgekehrten Israeliten angeboten? Was trägt? Gibt es ein Rezept, das den mühsamen Neuanfang in Jerusalem rechtfertigt? Lohnt es sich, die Disteln und Dornen zu beseitigen, die Trümmer zu sortieren und neu zu beginnen? Oder ist jeder Heimkehrende in der Rolle des Sisyphus, dem es nie gelingen wird, den Stein bis ganz nach oben zu wuchten? Wir pflanzen Bäume und machen Pläne - und die Tage unserer Stadt sind bereits gezählt. Wer soll das aushalten?

Die Abrahamserzählung gibt eine klare Antwort: Der Glaube rettet! Sonst nichts! Der Glaube besteht in der Orientierung des eigenen Lebens und Handelns an Gottes Zusage und Weisung. Auf diesem Weg allein ruht sein Segen. Die Überlebenslehre lautet: Vertraue auf Gott. Wage den Neubeginn inmitten der Disteln und Dornen. Richte dich nach Gottes Wegweisungen. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen. Erinnere dich an den Irrweg, der sich aus der Sünde ergibt: ein Weg nach Babylon. Wenn Jerusalem der Sünder wegen vernichtet werden musste, kann dann nicht die gesamte Bevölkerung einer Stadt um weniger Gerechter willen verschont bleiben? Kann nicht jeder Mensch etwas dazu tun, dass sich in der Stadt auch Gerechte finden?

III.

Mit unseren Vokabeln gefragt: Wie viele „Gewinner“ müssen mindestens in einem Gemeinwesen leben, damit das soziale System nicht zu kippen droht? Wie viele „Verlierer“ sind eigentlich auszuhalten? Wo und wann ist die Grenze erreicht, bei der jede Effizienzrechnung belegt, dass du nur noch die Reißleine ziehen kannst? Wenn das Leben unerträglich wird in Sodom, wenn sich die Zukunft verdunkelt, wenn der Mob über die Straßen tobt, wenn es aus allen Löchern nach Schwefel stinkt, dann lautet für gewöhnlich die Parole: Nichts wie weg! Doch nicht jedem stehen dann zwei Engel fromm zur Seite, rüsten ihn aus mit Pässen und Reisegeld und geleiten ihn sicher über die Grenze. Manch einer bleibt, muss bleiben und mit Sodom untergehen. Und was dann, wenn sich Sodom über den ganzen Planeten ausbreitet, total globalisiert, und nirgends mehr ein sicherer Ort zu finden ist?

Abraham hat Mitgefühl mit den Menschen in Sodom. Ein Fürsprecher tritt auf. Er bittet Gott, nicht alles verloren zu geben. Er wird zum Anwalt der Hoffnung auf Gottes Gnade. Solche Anwälte sind selten, vor allem in Zeiten der Gefahr. Dann meldet sich die Frage nach der eigenen Sicherheit lauter als die Fürsprache für andere. Wir kennen das auch aus diesen Wochen. In Krisenzeiten, so sagt es der Volksmund, versucht jeder, das eigene Schäfchen ins Trockene zu bringen. Aber wir kennen auch den Abraham in uns selbst. Wir setzen uns für andere ein und wollen, dass sie verschont bleiben. Solche Engagierten ernten hin und wieder Unverständnis. Wenn unser Engagement nichts nutzt, kehren wir resigniert in den eigenen Eichenhain zurück und leiden an der Idylle.

Dann kommt das Grübeln: Vielleicht war ja der Ansatz völlig falsch. Diese ganze Erbenzählerei. Dieses Rechnen mit Gottlosen und Gerechten oder das Aufteilen der Menschen in „Gewinner“ und „Verlierer“. Dieses Handeln um den Preis, wie auf dem Basar. Dieses Feilschen um Menschen und um ihren Wert - und um die „Werte“! Aber was sonst? Was hätte ich sagen sollen? Was wäre zu machen gewesen?

Gott geht nach Sodom. Das ist das Evangelium Gottes. Gott geht nach Sodom, um mit den Menschen dort zu leben und wenn es sein muss auch um mit ihnen zu leiden – auch an ihnen und unter ihnen zu leiden, wie sich dann im Fortgang der Geschichte zeigt, bis hin zum Tod am Kreuz. Gott stirbt in Sodom, Gott stirbt an Sodom. Gott stirbt mit Sodom. Sie nehmen ihn und machen ihn kaputt.

Das spricht den Mob in Sodom nicht gerecht. Es rechtfertigt nicht die Gräuel in der Stadt. Das schönt und entschuldigt auch nicht die Bosheit, die dort herrscht. Es deckt nicht ein einziges der Verbrechen zu, denen die Stadt ihren traurigen Ruhm verdankt. Und vor allem: Es wendet ihren Sturz nicht ab, den selbstgesuchten, selbstgewollten und selbstgemachten Untergang. Doch Gott hält das Leben fest, auch durch den Untergang hindurch. Er nimmt den Tod auf sich, weil er das Leben will, ja weil er das Leben ist – der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer weiß, vielleicht können selbst in Sodom eines Tages wieder Menschen miteinander leben und einander lieben. Und ein Gerücht macht die Runde: Gott lebt in der Stadt.

DU
der den triumphen
des bösen/ über das gute
so häufig untätig zuschaut
uns aber vorhält/ dass wir es sind
die den triumphen/ des bösen
so häufig/ zu häufig/ untätig zuschauen

dichtet Kurt Marti. Und in Prosa fügt er hinzu: „Er hat nie aufgehört, die Welt, die Menschen, und selbst den vermeintlich so listigen Teufel zu überraschen. Auf den Lauf der Welt ist wenig Verlass, wohl aber auf die Überraschungen Gottes, deren bezeichnendste die Auferweckung Jesu Christi von den Toten war.“

Amen.