Predigt am Reformationstag 2008 (Philipper 2, 12-13) im Berliner Dom

Wolfgang Huber

„Freunde und Gegner haben Martin Luther zum Nationalhelden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer neuen Kirche machen wollen. Er ist das alles nicht gewesen. Die Frage nach dem Zweck und Ziel menschlichen Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit des Gewissens – sie war das einzig Treibende in seinem Leben.“ Mit diesen Worten kennzeichnete der Berliner Theologe Adolf von Harnack vor einem Jahrhundert die Glaubensglut der Reformation.

Wie ist das heute? Die Warnung, Martin Luther zu vereinnahmen, wird zu Recht erneut laut. Eine Erinnerung an die Reformation muss heute berücksichtigen, dass Luther der einen Kirche, der Kirche Jesu Christi dienen, nicht eine neue Kirche gründen wollte. Wer wissen will, warum Martin Luther eine weltgeschichtliche Bewegung auslösen konnte, dem kann es nicht genügen, die klar erkennbaren Errungenschaften der Reformation aufzuzählen: die Formung der deutschen Sprache, die neue Gestalt der evangelischen Kirche, den Abschied vom Zölibat, die Erfindung des Pfarrhauses, die Reform der Universität, die Gründung neuer Schulen, die Anbahnung neuzeitlicher Gewissensfreiheit oder die neu bestimmte Grenze zwischen Kirche und Staat. So wesentlich diese Aspekte auch sind, sie sind nicht das Entscheidende. Sie sind Folgen der reformatorischen Entdeckung, sie sind nicht die Ursache.

Entscheidend ist: Es geht um den Glauben selbst, um das Ende der Angst, um eine neues Vertrauen auf Gott. Es geht um das Wort vom Kreuz. Es geht um den neuen Ton, in dem das Evangelium sich mitteilt, um den neuen Glanz, in dem der Ruf Jesu Christi aufstrahlt. Deshalb der reformatorische Aufbruch. Deshalb sind wir seitdem eine Kirche im Aufbruch.

Doch wie beschreibt man die Kraft, den Ton und die Farbe einer Kirche im Aufbruch? Etwa mit den beiden Sätzen aus dem Brief Paulus an die Gemeinde in Philippi, die uns heute für die Predigt vorgegeben sind?

Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit - schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Appelliert da einer an Fügsamkeit? Weil die Christen in Philippi sich schon im Kleinen dem Apostel angeschlossen haben, sollen sie es jetzt auch im Großen tun: nicht nur in den alltäglichen Verabredungen, die anstanden, als Paulus selbst in Philippi war, sondern in den Fragen, in denen es um das Heil ihrer Seelen geht? Doch die Forderung schlägt in eine Gabe um: Was ich mit Furcht und Zittern zustande bringen will, ist in Wahrheit schon geschehen. Dass wir selig werden, schaffen wir in Wahrheit gar nicht selbst. Es ist schon geschafft: Gott bewirkt, wenn es darum geht, unser Wollen wie unser Vollbringen.

Deshalb ist uns dieser kleine Abschnitt am Reformationstag zugedacht. Er bringt Ruhe in unser rastloses Schaffen. Er bringt unsere Furcht und unser Zittern ans Ziel. Betriebsamkeit und Angst lässt er zur Ruhe kommen in Gottes Güte.

Manchmal ist diese Gelassenheit leicht. Manchmal ist sie erstaunlich. Gestatten Sie mir einen Ausflug in die Augusttage des Jahres 1989. Während die DDR unaufhaltsam auf die Ereignisse des Herbstes zutrieb, freute sich ein junges Brautpaar auf sein Hochzeitsfest. Damals hofften die einen auf Glasnost und Perestroika. Sie träumten von einer sozialistischen DDR mit menschlichem Antlitz. Andere hatten für sich entschieden, dass ihre Kompassnadel unnachgiebig nach Westen zeigen sollte. Sie flüchteten über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik. Aber dieses Paar heiratete in Eisenach, mit einem Pfarrer aus dem Westen, aber mit einem Patenonkel, der geblieben war – wie das junge Paar auch.

Der Patenonkel der Braut dichtete im letzten Augenblick ein Lied für die Trauung. Das sollte sein persönliches Hochzeitsgeschenk sein, vom Vater der Braut kurzfristig erbeten. Doch das von Klaus-Peter Hertzsch gedichtete Hochzeitslied entfaltete eine Wirkungsgeschichte weit über jene Hochzeit hinaus. Ähnlich wie Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ trat es aus dem persönlich-familiären Kontext heraus. Seit jenem Hochzeitsfest lieh es vielen Menschen Worte und Töne in einer Schwellensituation.

Vor allem aber: Es entstand 1989. Es wurde zur Deutung seiner Entstehungszeit. Es verband die Umbrüche jenes Jahres mit einem klaren Klang. Es verhalf der gewaltlosen Revolution des Herbstes 1989 zum Wort. Hoch politisch klang es deshalb, als es in jenem Herbst, zum Beispiel während der Friedensdekade, gesungen wurde; denn es drückte sehr unmittelbar aus, was die Menschen bewegte. Vor allem natürlich wegen seiner letzten Strophe: „Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“

Klaus-Peter Hertzsch selbst kommentierte das im Rückblick so: „Die Unruhe und die Aufbruchstimmung, die Befürchtungen und Hoffnungen dieses Wendejahres bewegten uns natürlich schon in seinen Sommerwochen und haben sich [...] auch in diesem Trauungslied mitgeteilt. Da es für die Hochzeitsgäste zum Mitsingen auf abgezogenen Blättern ausgeteilt worden war, nahmen es viele von ihnen in ihre Gemeinden mit, so dass es in den nächsten Wochen und Monaten an verschiedenen Orten gesungen wurde. Auf diesem Weg kam es auch der Gesangbuchkommission zur Kenntnis, die es [ich füge hinzu: durch unseren Berliner Theologen Jürgen Henkys angestiftet] als allerletztes noch ins Gesangbuch aufgenommen hat.“

Gemeint ist das Evangelische Gesangbuch, das am Reformationstag 1993, heute vor fünfzehn Jahren, hier im Berliner Dom für den Bereich unserer Kirche eingeführt wurde. Wenige Tage später sang unsere Landessynode das Lied zusammen mit mir als Dank- und Segenslied nach meiner Wahl zum Bischof. Ich wurde dabei fotografiert; so kreisrund war mein Mund sonst nie geöffnet – voll dankbarer Erwartung.

Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Es mag wohl sein, dass Martin Luther mit Furcht und Zittern nach Worms gereist ist. Wir erinnern heute den tapferen Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen“. Es mag wohl sein, dass viele der im Herbst 1989 engagierten Christen Angst empfanden, als sie die aneinander gereihten LKWs von Polizei und Kampfgruppen sahen. Es mag wohl sein, dass manche auch am heutigen Abend von schweren Sorgen umgetrieben sind, wenn sie an das katastophale Desaster der Finanzmärkte und seine Folgen für das wirkliche Leben denken. Auch heute ist es nicht selbstverständlich, wenn wir in die Zeilen einstimmen: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt.“

Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.  Und vergesst nicht: Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Das Hochzeitslied vom August 1989 hat drei Strophen. Die erste Strophe ist von der Bewegung des Aufbruchs bestimmt, des Sich-auf-den-Weg-machens. Die Stichworte Weg und Land weisen auf die räumlichen Dimensionen dieses Aufbruchs. Wir werden hineingenommen in die Gotteserinnerungen unserer biblischen Urmütter und Erzväter. Es geht um die Wege, auf die der Herr uns weist. Das Motiv des gelobten Landes führt die singende Gemeinde gleichsam ans Ufer des Schilfmeeres und nimmt sie hinein in die Auszugserfahrungen Israels. Diese Erfahrungen weisen zurück auf Gottes Treue, die sich grundlegend im erneuerten Bund Gottes mit Noah nach der Katastrophe der Sintflut zeigt. Für sie ist der Regenbogen zum Sinnbild geworden, Gottes Bogen, der leuchtend am hohen Himmel stand, wie Klaus-Peter Hertzsch dichtet. Und wem an einem Tag, an dem er dafür Augen hat, ein solcher Regenbogen leuchtend am Himmel erscheint, der weiß sich hineingenommen in des treuen Gottes Geschichte mit seiner Menschheit. Und er macht sich auf den Weg dorthin, wo das gelobte Land auf ihn wartet.

Die zweite Strophe lässt sich von einer anderen Blickrichtung leiten. Hier wird das Leben als ein Wandern in der Zeit verstanden. Auch in dieser Strophe findet der menschliche Auftrag - vertraut, wandert, wo er uns will und braucht – seinen Grund: In der Erinnerung an die Abraham gegebene Verheißung sollen auch wir für unsere Mitmenschen ein Segen sein. Gottes Bund ist der Grund dafür, dass wir das Licht der Welt erblickt haben, dass Gott uns seinen Atem eingehaucht hat. Hier in Berlin kommt uns bei dieser Strophe sogleich der Erste Ökumenische Kirchentag im Jahr 2003 in den Sinn – mit seinem prägnanten Abrahams-Motto: „Ihr sollt ein Segen sein.“

Die dritte Strophe verstärkt das Anliegen. Die Berufung eines jeden Christenmenschen wird unterstrichen: Aus weisen in der ersten Strophe wird senden in der letzten. Hertzsch selbst sagt: „Die Wandergeschichte der Christenheit wird so zur Sendungsgeschichte.“ Mit einem geradezu adventlichen Bild erhält die dritte Strophe einen besonderen Akzent: Menschen sind unterwegs – Gott kommt ihnen entgegen. Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.  Und vergesst nicht: Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Im Jahre 1984 formulierte Klaus-Peter Hertzsch dieses Motiv in seinem Hauptreferat vor der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Budapest so: „Die Zukunft erwarten wir – mutlos und gespannt, planend oder hinnehmend. Aber das Reich Gottes erwartet uns und hat seine Türen weit aufgetan, erwartet uns quer durch die Zeit – unaufhörlich – jetzt.“ Raum und Zeit werden hier noch einmal aufeinander bezogen und gleichzeitig überboten im Blick auf eine von Gott geschenkte Zukunft. Sie ist das gelobte Land, dem die Kirche der Freiheit getrost entgegengehen kann – jedermanns Knecht und niemandem untertan!

Dankbar konnte Klaus-Peter Hertzsch im Rückblick sagen: „Ich jedenfalls sehe mit Staunen und Dankbarkeit, wie ein einfacher Text, der für einen speziellen, begrenzten Anlass geschrieben wurde, Leben gewinnt aus der biblischen Botschaft, der er sich verdankt, und aus der Zeit- und Gotteserfahrung von Gemeinden, in denen er gesungen wird.“

Und wir lernen heute: Entscheidend ist, dass sich die Kraft des christlichen Glaubens erneuern kann. Dafür lohnt es, sich ganz auf einen Punkt zu konzentrieren. Es geht um den neuen Ton, in dem das Evangelium sich mitteilt, um den neuen Glanz, in dem der Ruf Jesu Christi aufstrahlt. Es geht um ein neues Lied am Ufer der Zukunft.

Sie fügen sich ungesucht zusammen, der Tag und das Lied. Mit diesem Reformationstag bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland dazu, dass sie eine Kirche im Aufbruch ist. Und dazu erklingt es im Lied: „Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“ Gibt es ein stärkeres Bild für den Reformweg, den wir miteinander betreten, als dieses offene Tor, den Blick in das helle und weite Land? Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Aber wer so fleißig arbeitet und schafft, der wird erleben, wie das Lied weitergereicht und vervielfältigt wird. Wer aufbricht auf die neuen Wege, auf die Gott uns weist, der wird bemerken: Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Amen.