Predigt am Sonntag Lätare im Berliner Dom über Johannes 12,23-26

Wolfgang Huber

I.

Wussten Sie, dass es in der Mitte Berlins einmal Kartoffelfelder gab? Handtuchbreite Flecken, auf denen sich die grünen Pflanzen in den Himmel reckten, die nahrhaften Knollen im sandigen Boden verborgen? Auch Kohlrabi wurden gepflanzt, denn es mangelte an frischem Gemüse. Wenn diejenigen, die da pflanzten, ihre Augen erhoben, sahen sie unmittelbar hinter ihrem handtuchbreiten Beet die Ruine des kriegszerstörten Reichstags. Kartoffeläcker und Gemüsebeete. Nicht in den Weiten Brandenburgs zwischen Kiefernwäldern, klaren Seen und in der Landschaft geborgenen Dörfern lagen diese Felder; nicht in den Schrebergärten am Rande der Metropole waren sie zu finden, sondern im Herzen der Hauptstadt, mitten in Berlin.

Auf abgeholzten Parkflächen, auf Brachen, kurz überall, wo es möglich war, bauten die Berlinerinnen und Berliner nach dem Ende des Krieges Gemüse und Kartoffeln an, um den Hunger zu bekämpfen. Sie nahmen aus den allzu knappen Vorräten an Kartoffelknollen, um diese auf Hoffnung hin zu erneut einzupflanzen.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Inzwischen hat sich Berlin längst aufgerappelt. Dort, wo früher Kartoffeln und Gemüse auf Brachen in die Sonne hineinsprossen, flanieren heute Touristen aus Biberach oder Barcelona vom Reichstag hinüber zum Brandenburger Tod und dann weiter zum Holocaust-Mahnmal. Die Einschusslöcher im Putz, das Meer der ausgebombten Häuser und selbst die Berliner Mauer – all das ist Vergangenheit. Eine quirlige und lebendige Stadt, eine Metropole.

Am Lustgarten hält ein Doppeldeckerbus. Ein Mann und eine Frau steigen aus und orientieren sich kurz. Dann geht das Paar direkt auf den Berliner Dom zu. Es ist Freitagnachmittag. Mitte dreißig werden sie wohl sein. Er gestikuliert beim Gehen aufgeregt mit den Händen; sie schaut versonnen auf die mächtige Kirche, die Hand am Gurt ihres grünen Cityrucksacks. Nach einem suchenden Blick und einem kurzen Dialog mit einem der Wärter schreiten die beiden zielstrebig auf den Seiteneingang zu, durch den man Zugang zur Lebensberatung im Dom erhält.

Von dem Beratungsangebot haben die beiden über das Internet erfahren. Zwei Jahre später werden sie sagen, dass ihnen das erste Gespräch an diesem Freitag im März sehr wichtig gewesen, ja zu einer Wende in ihrem Leben geführt hat. Damals sei ein Weizenkorn in die Erde gefallen – und es sei aufgegangen. Die beiden fassten Vertrauen zu der Beraterin. Sie berichteten von ihrem Leben zu zweit, seit einem Jahr erst, nach wie vor in zwei getrennten Wohnungen. Dreimal in der Woche kämen sie zusammen; über vieles entstehe dabei Streit. Plötzlich und unvermittelt steht die Frage im Raum, die Frage hinter so vielen Fragen: Gibt es einen Weg zu einem gemeinsamen Leben – oder sollten wir uns wieder trennen?

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Aus dem ersten Gespräch entwickelt sich eine Paarberatung. Im Lauf der Zeit werden einige schwere Steine, die auf der Seele liegen, sichtbar. Nachdem sie zur Sprache kamen, müssen sie nicht mehr zu Stolpersteinen oder zur Beziehungsfalle werden. Zu zweit lassen sich manche Steine sogar leichter aus dem Weg räumen.

Das beeindruckende Team der Lebensberatung im Berliner Dom freut sich am dreißigjährigen Jubiläum dieser wichtigen Arbeit; wir freuen uns mit ihm. Wir vergegenwärtigen uns dankbar, dass Tausende Jahr für Jahr in dieser Lebensberatung Halt und Hilfe finden. Der Mut der Gründer, die Beharrlichkeit der Träger und die Ausdauer derer, die Tag für Tag mit ihrem Rat bereit stehen, verdienen großen Dank. Um einen außerordentlich kleinen hauptamtlichen Personalstamm hat sich eine Gruppe hochqualifizierter Beraterinnen und Berater gesammelt, die mit ihrem ehrenamtlichen Engagement dazu beitragen, dass die Tür der Lebensberatung verlässlich und regelmäßig offen steht.

Alles, was in der Lebensberatung besprochen wird, bleibt vertraulich. Für den Jahresbericht der Lebensberatung werden wenige Beispiele in anonymisierter und verallgemeinerter Form angedeutet. So auch die Geschichte der beiden jungen Leute, die mit Hilfe der Lebensberatung entdecken, wie viele Weizenkörner in ihren Taschen schlummern und nur darauf warten, in die Erde zu fallen.

II.

Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben.

Das starke Bild vom Weizenkorn prägt den Sonntag Laetare, den Freudensonntag mitten in der Fastenzeit, das kleine Ostern, wie man diesen Sonntag auch nennt. Auch während der vierzig Tage der Passionszeit soll nicht verborgen bleiben, dass wir durch das Leiden Jesu Christi mit Trost überschüttet werden. Wir wissen, dass auf die Ereignisse des Karfreitags das Licht des Ostersonntags folgt. Die Macht des Todes ist gebrochen, seine Ketten sind gesprengt, ein für alle mal. Die tiefe Freude, die sich aus dieser Jubelmelodie ergibt, die unbändige Vorfreude auf Ostern, sie ist schon der Grundton des Sonntags Laetare, zu Deutsch: Freut euch.

An der Wegscheide vom Winter zum nahenden Frühling ist es für uns besonders plausibel, dass Weizenkörner entweder in die Erde fallen und somit ersterben, um dann viel Frucht zu bringen, oder aber, dass sie nicht in die Erde fallen und allein bleiben. Auf die Zeit des Wartens folgt die Zeit der Entscheidung.

Jesus weist seine Jünger immer wieder darauf hin, dass die Zeit des Menschensohns noch nicht gekommen sei. Im Evangelium zum Sonntag Laetare aber heißt es: Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.

Offensichtlich ist der entscheidende Moment da. Nun gilt es: Es geht um alles oder nichts. Jesu Weg wird hier gerade nicht als Weg in die Passion beschrieben, sondern als Verherrlichung bezeichnet. Es ist so, als ob ein Weizenkorn gerade dadurch seine Würde erhält, dass es in die Erde fällt, um eines Tages zu keimen, aufzugehen und viel Frucht zu bringen.

Zu den besonderen Zügen des Johannesevangeliums gehört die Kühnheit, mit der es das Kreuz Jesu umdeutet. Das Instrument der absoluten Erniedrigung wird zum Zeichen für die Annahme durch Gott, der den Wanderrabbi Jesus erhöht und sich in ihm zu erkennen gibt. Der leidende Gottesknecht ist unser Heiland. Er wird am Kreuz erhöht.

III.

Gewiss: Das Leid darf weder verharmlost noch verherrlicht werden. Das liegt uns gerade in diesen Tagen denkbar fern. Wir können nicht davon absehen, dass uns in dem Leiden von Menschen die Sinnlosigkeit des Bösen, ja die mörderische Verkehrung des menschlichen Sinnens und Trachtens entgegentritt. Gestern wurde in Winnenden der 16 Todesopfer des Amoklaufs vom 11. März gedacht. Dass in dieser Tat das Böse am Werk war, ist unübersehbar. Dieses Böse entzieht sich jeder Erklärung; denn erklären hieße ja immer: Gründe anzugeben. Aber für das Böse gibt es keinen Grund; es ist vielmehr ein Abgrund; wer sich ihm anvertraut, stürzt ins Bodenlose. Doch auch dorthin reicht Gottes Hand. Zu Recht hat der württembergische Landesbischof Frank-Otfried July deshalb gestern gesagt: Wir schweigen auch den Täter dieser furchtbaren Mordtaten ... nicht tot. Und er hat hinzugefügt: Abgeschieden von den Opfern werde auch sein Leben vor Gott gestellt. Nur indem wir vor Gott treten und uns für ihn öffnen, können wir die Logik des Bösen durchbrechen; so geschieht es auch in dem Bildwort vom Weizenkorn. Der Weg zu den grünen Halmen und schließlich zur reichen Frucht ist ein Weg durch den Tod, durch das Sterben, durch das Böse hindurch.

Ganz gleich, ob du mitten in einer Trümmerstadt Saatkartoffeln in den sandigen Boden senkst, oder ob du gemeinsam mit deiner Partnerin versuchst, Stolper- und Beziehungsfallen aus dem Weg zu räumen; ganz gleich, ob du einem Menschen dein Vertrauen schenkst, den andere längst abgeschrieben haben, oder ob du einfach nur froh bist über unseren Gott – Christus ruft dich in die Nachfolge: Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren. Jesu Ruf in die Nachfolge zielt nicht auf das Klammern an Besitz und Eigentum, sondern auf Freiheitsgewinn und frei gewählte Verantwortung. Dazu ermutigt uns dieser Tag.

IV.

Freiheitsgewinn und frei gewählte Verantwortung können auch Konsequenzen für gewachsene kirchliche Strukturen haben. Wir erleben in der Evangelischen Kirche in Deutschland derzeit beachtliche Vorgänge der  Neuordnung. Es begann 2004 mit der Neubildung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz; dann folgte zum Beginn dieses Jahres die Gründung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, deren erste Bischöfin, Ilse Junkermann, gestern gewählt wurde. Nun erscheint die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland am Horizont.

In den kommenden Tagen sind die Synoden der Mecklenburgischen, der Nordelbischen und der Pommerschen Evangelischen Kirche aufgefordert, über den Weg zu einem Zusammenschluss dieser drei Kirchen zu entscheiden. Am 1. Januar 2012 soll dann eine neue Kirche entstehen, die sich über den gesamten deutschen Ostseeraum von der dänischen bis zur polnischen Grenze erstreckt, eine Kirche, die weite ländliche und zugleich touristisch attraktive Räume mit Städten wie Rostock, Lübeck, Schwerin, Kiel, aber auch mit der Metropole Hamburg verbindet.

Historisch gewachsene Landeskirchen wagen einen neuen Schritt. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer lassen sich Kirchen aus Ost und West, Kirchen mit ihren östlichen wie mit ihren westlichen Erfahrungen aufeinander ein. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer werden die unterschiedlichen Traditionen und gesellschaftlichen Erfahrungen als wechselseitige Bereicherung erkannt. Das gelingt nur, wenn der Wunsch, auf etwas Neues zuzugehen, sich mit der Bereitschaft zum Kompromiss verbindet. Dabei weiß ich sehr wohl, wie schwer das Loslassen ist; Vertrautes aufzugeben, Gewachsenes sterben zu lassen für neue, noch unbekannte Wege, das ist nicht leicht.

Jede Generation hat in ihrer Zeit die Aufgabe, kirchliche Strukturen zu prüfen und neu auszurichten. Denn der Maßstab für diese Strukturen liegt nicht in den uns lieb gewordenen Gewohnheiten, sondern in der Verantwortung für die Weitergabe des Evangeliums. Die konkreten Entscheidungen, die sich aus dieser Verantwortung ergeben, kann niemand den dazu Berufenen abnehmen, also den Synodalen, die in der kommenden Woche in den drei Landeskirchen zusammenkommen werden. Aber es darf den Synoden als Ermutigung mitgegeben werden, dass viele Christen in ganz Deutschland auf ihre Beratungen blicken und auf ein weiteres Zeichen für die Reformfähigkeit des deutschen Protestantismus hoffen. Wir bitten Gott um seinen guten Geist, dass nicht Ängstlichkeit oder Kleinmut, sondern Zuversicht und Vertrauen die Entscheidungen leiten. 

Nicht nur in Notzeiten streuen wir Weizen aus, wir tun es immer. Heute nicht im kargen Boden in der Nähe des Reichstags  wie in den schweren Nachkriegszeiten. Wir haben es ungleich leichter. Aber säen müssen wir auch – und auf das Gedeihen hoffen. Gott schenke uns reichlich Weizenkörner. Er gebe uns die Bereitschaft, sie im rechten Augenblick loszulassen, damit sie in die Erde fallen, aufgehen und viel Frucht bringen. Amen.