Predigt zur Eröffnung der Woche für das Leben 2009 in der St. Nicolai-Kirche zu Lüneburg (1. Mose 32, 23 – 32)

Wolfgang Huber

1. Mose 32, 23 – 32

Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, sodass hinüberkam, was er hatte, und blieb allein zurück.

Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.

Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.

I.

Milton Erikson war ein gesunder,  junger Mann. Zwar hatte er eine Lese- und Rechtschreibschwäche und wurde von seinen Mitschülern oft verspottet, weil er ein Lexikon, das er in die Hand bekam, einfach immer wieder von vorne an zu lesen begann. Aber an seiner körperlichen Leistungsfähigkeit gab es keinen Zweifel. Da  erkrankte er im Jahr 1919, im Alter von achtzehn Jahren an Kinderlähmung. So schwer ergriff ihn die Krankheit, dass er in ein Koma verfiel, aus dem er erst nach mehreren Tagen gelähmt erwachte. Seiner ungewöhnlichen Energie war es zu verdanken, dass er allmählich wieder auf die Beine kam. Damit, dass er lernte, seinen Schaukelstuhl zu bewegen, fing es an. Schließlich aber unternahm er gegen den Rat der Ärzte eine Kanutour auf dem Mississipi; als er die 1200 Meilen hinter sich hatte, vertraute er wieder auf seine körperlichen Kräfte. Doch zwei Mal kehrte die Kinderlähmung in seinem späteren Leben wieder und fesselte ihn schließlich und endlich doch an den Rollstuhl. Doch zu diesem Zeitpunkt war Milton Erickson schon längst ein berühmter, weltweit anerkannter Therapeut.

Früh entdeckte Milton Erickson die Fähigkeiten in sich, die ihn auch mit seiner Behinderung  stark machten:  seine Beobachtungsgabe und sein Einfühlungsvermögen, seine Sprache und seine innere Gedankenwelt. Damit konnte er auch seinen Patientinnen und Patienten helfen, die Kräfte aufzuspüren, die in Krisen durchtragen und zu einem neuen Leben führen können. Zeit seines Lebens unterstützte er Menschen darin, ihr Leben zu bewältigen. Ihm war es besonders wichtig, nicht auf die Grenzen und Einschränkungen eines Menschen zu schauen, sondern auf seine Möglichkeiten und Ressourcen. Mit dieser Haltung hat er die soziale Aufmerksamkeit für das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen entscheidend vorangebracht.

II.

Aus dem Abstand klingt es so einfach und klar – und ist doch ungeheuer schwer, wenn man selbst mit dem Schicksal kämpft und um die Kraft zum Leben ringt. Der Theologe Ulrich Bach, der ein ähnliches Schicksal wie Milton Erikson hatte, erzählt von der Erfahrung der Lähmung: „Ich spürte, da war etwas in meinem Leben zerrissen. Wer bin ich, wenn ich aus der Welt (der anderen) von heute auf morgen herausgefallen bin, dort nichts mehr zu suchen habe, wenn ich dort alles verlor?“ Die ersten Wochen und Monate der Polio-Erkrankung waren für Ulrich Bach bestimmt von dem Gefühl des „Nie mehr“. Nie mehr tanzen oder Sport treiben, nie mehr allein reisen, nicht mehr teilhaben am Leben seiner jungen Freunde. Nicht mehr dazu gehören. Ihm war der Boden unter den Füßen weggerissen – und es brauchte eine lange Zeit und viel Solidarität, bis er begriff, in welcher Weise seine Erfahrung alle einmal trifft. Boden unter den Füssen hat auf Dauer keiner.

Auch keiner von uns. Wahrscheinlich haben die meisten hier schon einmal diese Erfahrung gemacht, dass sie sich plötzlich allein und ausgeschlossen fühlten, von Gott und aller Welt verlassen. In einer längeren Krankheit, beim Verlust des Arbeitsplatzes, bei der Trauer um einen lieben Menschen. Vielleicht auch einfach bei einem Umzug, nach einem Streit. Ein Stück Leben, das uns geprägt hat, ist ein für alle Mal verloren. Menschen, die uns wichtig waren, sind unerreichbar fern – wer sind wir dann noch? Wo gibt es Anknüpfungspunkte?

Auch Jakob, der Stammvater Israels, den wir eben im Schattentheater gesehen haben, macht solche Erfahrungen. Schon früh muss er nach einem großen Streit sein Elternhaus und seine Heimat verlassen; sein Onkel, zu dem er sich flüchtet, betrügt ihn genauso, wie er selbst einst seinen Bruder betrogen hat. Auf die Frau, die er liebt, muss er lange warten. Immer wieder muss er von vorn beginnen, um weiter zu kommen. Trotz allem, was er erlebt, hält er sich daran aufrecht, dass ihm sein Vater einst die Hand zum Segen aufgelegt hat, Obwohl er oft nicht weiß, wie es weiter gehen soll, vertraut er auf die Zukunft, die ihm mit dem väterlichen Segen verheißen ist.

In dieser  Nacht am Jabbok aber scheint es, als ob sich alle Kämpfe seines Lebens plötzlich in einem einzigen Kampf verdichten. Er ist auf dem Weg nach Hause, zu seinem Bruder,  auf dem Weg der Versöhnung. Einen Teil der Herden hat er vorausgeschickt, um den Bruder gut zu stimmen. Alles, was sein Leben und seine Stärke ausmacht, hat er sicher ans andere Ufer gebracht: seine Familie, seine Herden. Nun ist er allein in der Nacht; da überfällt ihn plötzlich die Angst wie eine alles zerstörende Macht. Kämpft er mit dem Schicksal, ringt er mit Gott? Wer kann das in solchen Augenblicken unterscheiden? Sicher ist: diese Nacht verändert sein Leben. Als er am nächsten Morgen zu den Seinen kommt, ist er vom Kampf gezeichnet. Er hat einen Schlag auf die Hüfte erhalten, er hinkt. Er muss das Gehen wieder lernen.

Was in dieser Nacht geschehen ist, ist schwer zu verstehen. Die Bibel deutet es so: Jakob hat in dieser Nacht um den Segen gekämpft, und er hat gewonnen. Der Mann, der am nächsten Morgen der Sonne entgegengeht, ist gesegnet. Und er spürt es von jetzt an bei jedem Schritt mit seinem hinkenden Bein.  Aus Jakob, dem Suchenden, ist einer geworden, der Gott gefunden hat. Jakob, der erfolgreiche Herdenbesitzer, ist untergegangen. Aus dieser Krise ist ein neuer Jakob hervorgegangen: Jakob, der Gezeichnete, Jakob, der Gesegnete.

III.

Eine faszinierende Gestalt. Sie spricht uns an – über den Abstand der Zeiten und der Kulturen hinweg. Ein Schlag auf die Hüfte bringt einen dazu, vertrauensvoll in die Zukunft zu gehen. Ein Koma, aus dem er gelähmt erwacht, weckt in einem anderen ungeahnte Kräfte. Weil ein dritter den Boden unter den Füßen verliert, sucht er nach diesem Boden in den Quellen der Heiligen Schrift. Es gibt eine offene Tür in die Zukunft – auch in unseren eigenen Krisen.

Immer wieder zeigt uns eine solche Jakobsgeschichte, dass wir selbst in schweren Schicksalsschlägen der Liebe Gottes begegnen können. Immer wieder leuchten uns Beispiele dafür entgegen, wie jemand um ein gesegnetes, glückliches Leben ringt, mit Gott und dem Schicksal kämpft und nicht locker lässt. Selbst in unseren Schwächen und Einschränkungen, in unseren Verlusten und Grenzen  liegt ein Segen verborgen; vielleicht werden wir erst im Kampf mit solchen Grenzen zu dem, was Gott mit uns vorhat.

Ganz allein ist Jakob in dieser Nacht am Jabbok; trotzdem wird berichtet, er habe nicht nur mit Gott, sondern auch mit den Menschen gekämpft. In gewisser Weise sind sie alle in diesem Kampf dabei: seine Eltern und sein Bruder, sein Onkel und alle anderen. Wir alle sind mit im Spiel, wenn einer an seinem Schicksal zu verzweifeln droht, wenn er den Boden unter den Füßen verliert, sich ausgeschlossen und allein fühlt. Wir können einander beistehen, einander entgegengehen, einander zum Segen werden. Uns ineinander einfühlen, einander Arme und Beine leihen und unser Leben so gestalten, dass sich niemand ausgeschlossen fühlen muss.

Denn wir leben nicht nur von den eigenen Gaben. Wir leben alle auch von den Gaben der anderen. Dazu gehören auch die Gaben und der Segen derer, die auf den ersten Blick behindert sind. Die hinken wie Jakob oder im Rollstuhl sitzen wie Milton Erickson oder Ulrich Bach. Das sind geglückte Beispiele, werden Sie vielleicht sagen – aber was ist mit denen, denen es noch viel schlechter geht? Was ist mit den Schwerstmehrfachbehinderten, mit denen, die keine Schule besuchen können? Jean Vanier, der Gründer der Arche-Gemeinschaften, in denen Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zusammenleben, hat beschrieben, wie wir in Gemeinschaft mit Grenzen leben können. Er sagt: „Es gibt ein Geheimnis der verborgenen Nützlichkeit jener Menschen, deren Leib hinfällig ist, die anscheinend ihren Tag mit Nichtstun verbringen, die aber in der Gegenwart Gottes verbleiben. Ihre Unbeweglichkeit zwingt sie, Herz und Augen auf das Wesentliche zu richten, auf die Quelle des Lebens.“ So, meint Jean Vanier, können sie uns zu einem Zeichen des Segens werden.

Es tut uns allen gut, wenn wir auf ihr Beispiel achten. Unser Zusammenleben gewinnt an Tiefe, wenn wir von ihnen lernen. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich daran, ob sie für Menschen mit Behinderungen einen Ort hat und von ihnen lernt. Denn ihre Botschaft an uns heißt: Nimm deine Grenzen an, ja, liebe dich in deinen Grenzen. Hab keine Angst davor, teile sie mit anderen, denn damit teilst du das Leben.

IV.

Tobias ist ein Beispiel dafür. Er war von Geburt an schwer behindert, inzwischen ein Mann in den mittleren Jahren. Eine Mischung aus Heiterkeit und Besonnenheit prägte sein Wesen. Oft kommentierte er ein Ereignis nur mit den Worten: „Ja und?“

Als die Fußballmannschaft seiner Heimatstadt absteigen musste, hielt Tobias den Kopf etwas schräg, schmunzelte und sagte: “Ja und?” Das ließ sich noch verstehen. Schon erstaunlicher war seine Reaktion, als sein Rollstuhl plötzlich einen Platten hatte. Gerade Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, reagieren auf einen solchen Vorgang häufig gereizt. Tobias hielt den Kopf etwas schräg, schmunzelte und sagte: „Ja und?“

Aber als der Arzt ihm sagte, er habe nur noch wenige Wochen zu leben, und als Tobias wieder sagte: „Ja und?“, da verstand ihn auch seine Mutter kaum noch: „Übertreibst du jetzt nicht, mein Junge?“ So fragte sie verstört. Doch Tobias sagte nur: "Hör mal, Mutter, hat Ostern denn nur mit Eiern zu tun - oder auch mit mir?"

Hab keine Angst – das will uns Tobias genau sagen wie Jakob. In deinen Wunden ist ein Segen verborgen. Nach dem Dunkel kommt ein neuer Morgen. Gott reißt uns aus der Tiefe, wie er seinen Sohn herausgerissen hat aus dem Grab. Wir kommen von Ostern her, wir gehen auf das Leben zu. Nur Mut:  Gott hat noch etwas vor mit uns; mit jedem von uns. Denn jeder Mensch gilt.

Amen