Predigt am Sonntag Kantate im Dom zu Brandenburg/Havel (Lukas 1, 46-55)

Wolfgang Huber

I.

Welch ein kühnes Unterfangen! Am Sonntag Kantate beginnt hier im Dom St. Peter und Paul in Brandenburg an der Havel eine neue Reihe von Themengottesdiensten. Nicht den zehn Geboten sind sie gewidmet wie das letzte Mal; sondern Mütter und Väter des Glaubens sollen uns vor Augen treten.

Nicht nur kühn, sondern heikel ist das Unterfangen. Vorbilder im Glauben darzustellen, gilt uns in der evangelischen Kirche nahezu als anrüchig. Erinnert das nicht an Heiligenkult? Und wollen wir von dem nicht Abstand halten? Unterscheidet sich die evangelische Kirche nicht gerade darin von der katholischen, dass sie die Heiligenverehrung ablehnt? Und diejenigen unter uns, die eigene Erfahrungen mit einem höchst unheiligen Personenkult haben, die werden erst recht auf Abstand gehen und sagen: Nicht mit mir.

Doch der Wandel ist unverkennbar, der sich in dieser Frage vollzieht. Wie in unserer Gesellschaft insgesamt, so wird auch in unserer Kirche wieder unbefangener nach Vorbildern gefragt. Nach all den Traditionsabbrüchen, durch die wir gegangen sind, halten wir neu nach Lehrerinnen und Lehrern im Glauben Ausschau. Die Reformatoren haben ganz ähnlich gedacht. Sie wussten, dass der Glaube auf Vorbilder angewiesen ist. Das geht so weit, dass unter diesem Gesichtspunkt sogar der Begriff der „Heiligen“ ein positives Echo findet. In einem der grundlegenden Bekenntnisse der Reformation wird von der Verehrung der Heiligen sogar ausdrücklich gesagt, „dass ein Gedenken an die Heiligen öffentlich stattfinden kann, damit wir so wie sie glauben und Gutes tun (unserem besonderen) Auftrag gemäß. ... Aber die Schrift lehrt nicht, dass man Heilige anrufen oder von den Heiligen Hilfe erbitten soll. Denn sie stellt uns den einen Christus als Mittler, Versöhner, Priester und Fürsprecher vor Augen. Den soll man anrufen, und er hat verheißen, dass er unsere Bitten erhören werde.“

Eine erstaunliche Feststellung: Sogar Heilige kennt die evangelische Tradition – allerdings nicht als Fürsprecher, die man um Beistand vor Gott bittet, oder als Helfer, die einen aus Not befreien; für all das halten wir uns vielmehr an Christus allein. Aber als Vorbilder, als Väter und Mütter im Glauben stehen sie uns mit ihrem Beispiel bei und helfen uns, einen eigenen Weg zum Glauben zu finden. In diesem Sinn kann sogar von „evangelischen Heiligen“ die Rede sein – eben von Vorbildern im Glauben.

Sollen wir Maria zu diesen Vorbildern rechnen – ausgerechnet sie? Viele dachten, in der evangelischen Kirche müsse man Maria aus den Liedern und Predigten streichen, um sich dadurch von der katholischen Marienfrömmigkeit zu unterscheiden. Doch die evangelische Kirche hat die christliche Tradition zwar neu auf die Bibel als alleinigen Maßstab zurückbezogen; aber sie hat sich niemals aus der gemeinsamen christlichen Überlieferung gelöst. Sie hat zwar Christus allein ins Zentrum gerückt; aber sie hat der Wolke der Zeugen doch auch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Kirchen sind nach Maria genannt, in denen wir evangelische Gottesdienste feiern; sogar meine bischöfliche Predigtkirche, St. Marien in Berlin, gehört dazu.

Und in vielen evangelischen Kirchen blieben Mariendarstellungen in großer Zahl erhalten. Wie soll man an Maria vorbeigehen, wenn man etwa in diesen Dom kommt? Sonntag für Sonntag können wir sie vor uns hier im Kreuzaltar und noch weiter sichtbar in der Triumphkreuzgruppe sehen. Im Hochaltar steht die Madonna mit dem Kind ebenso im Mittelpunkt wie in dem mittelalterlichen Altar im nördlichen Seitenschiff. Die Aufnahme Mariens in den Himmel durch Christus zeigt der Böhmische Altar im südlichen Querhausarm. Von den Marienaltären im Dommuseum will ich gar nicht reden. Wie also soll man an Maria vorbeigehen, wenn man diesen Dom erlebt und in ihm Gottesdienst feiert? Hier jedenfalls begegnet uns Maria unter den Vätern und Müttern im Glauben als erste. Das ist ein guter Grund, mit ihr auch diese Reihe von Themenpredigten zu beginnen.

II.

Aber nun wenden wir uns Maria ausgerechnet am Sonntag Kantate zu, am Sonntag des Singens und des Liedes. Was verbindet diesen Sonntag mit Maria? Die Antwort ist einfach. Noch bevor uns Maria im Neuen Testament als die Mutter Jesu begegnet, tritt sie uns in einem Lied entgegen. Der Weg von der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel Gabriel und dieser Geburt selbst wird unterbrochen durch ein großes Lied, das sich in der Darstellung des Evangelisten Lukas mit dem Besuch Marias bei Elisabeth, der Mutter Johannes des Täufers, verbindet.

Dieser Lobgesang der Maria, das Magnificat, wurde durch alle Zeiten der Christenheit gesungen und gebetet. In allen Konfessionen, die ein Tagzeitengebet kennen,  gehört es zum täglichen Gebet, heute zumeist der Vesper, also dem Abendgebet zugeordnet.

Für Martin Luther hatte der Lobgesang der Maria in der christlichen Frömmigkeit einen so festen Ort, dass er es übersetzt und ausgelegt hat, noch bevor er sich an die Übersetzung des ganzen Neuen Testaments machte. Deshalb hören wir heute das Magnificat in dieser frühen Übersetzung Martin Luthers.

Meine Seele erhebt Gott, den Herrn.

Und mein Geist freut sich in Gott, meinem Heiland.

Denn er hat mich, seine geringe Magd, angesehen, davon werden mich selig preisen Kindeskinder ewiglich.

Denn er, der alle Dinge tut, hat große Dinge mir getan, und heilig ist sein Name.

Und seine Barmherzigkeit langet von einem Geschlecht zum andern allen, die sich vor ihm fürchten.

Er wirket gewaltig mit seinem Arm und zerstöret alle Hoffärtigen im Gemüt ihres Herzens.

Er setzet die großen Herren von ihrer Herrschaft ab und erhöhet, die da niedrig und nichts sind.

Er macht satt die Hungrigen mit allerlei Gütern, und die Reichen lässt er leer bleiben.

Er nimmt auf sein Volk Israel, das ihm dient, nachdem er gedacht an seine Barmherzigkeit.

Eines der wichtigsten Lieder der Christenheit ist dieser „Lobgesang der Maria“, das Magnificat. Es ist ein Hymnus, der sich an die Sprache der jüdischen Frömmigkeit anschließt. Maria verbindet auf diese Weise den Glauben Israels mit dem Glauben der christlichen Kirche. Insofern hat es einen tiefen Sinn, wenn sie in der christlichen Überlieferung nicht nur als Mutter des Glaubens, sondern auch als Mutter der Kirche angesehen wird. Denn viel Leid wäre vermieden worden, wenn die christliche Kirche mit Maria stets im Gedächtnis behalten hätte, dass sie aus der Frömmigkeit des jüdischen Volkes lebt, seine Psalmen betet und seine Hymnen singt.

III.

Martin Luthers frühe Übersetzung dieses Liedes haben wir gehört. Welchen Halt Luther an diesem Lied fand, kann man sich gut vorstellen, wenn man sich daran erinnert, in welcher Situation er sich an die Auslegung dieses Liedes machte. Als er im November 1520 mit der Auslegung des Magnificat beginnt, ist er bereits mit dem päpstlichen Bann bedroht. Am 20. Dezember 1520 verbrennt er die Bannandrohungsbulle am Elstertor von Wittenberg. Wenige Monate später muss er nach Worms zum Reichstag aufbrechen, auf dem ihm die Reichsacht erklärt wird. Am 4. Mai wird er deshalb als Junker Jörg auf abenteuerliche Weise auf die Wartburg gebracht. Dort beendet er die Auslegung des Lobgesangs der Maria. In einer Zeit, in der er aufs äußerste auf die Probe gestellt wurde, fand Luther Halt am Lobgesang der Maria. In einer Zeit, in der es um sein Leben und seine Integrität, um seine theologische Botschaft wie um seine persönliche Freiheit ging, verlieh dieser Lobgesang seinem Glauben Sprache.

Auch für Martin Luther wurde Maria so zu einer Mutter des Glaubens. Für ihn war sie dies allerdings nicht um ihrer selbst willen. Zwar unterstreicht Luther, dass Maria in diesem Lobgesang „aus eigner Erfahrung redet“. Doch Erfahrung meint in diesem Fall, dass sie „durch den heiligen Geist ist erleuchtet und gelehrt worden“. Wenn wir Menschen als Vorbilder im Glauben betrachten, dann nicht wegen ihrer eigenen Klugheit und ihrer eigenen Einsichten, sondern weil es in ihren Glaubenserfahrungen immer um Gottes Geist, nicht um den eigenen Geist geht. „Meine Seele erhebt Gott den Herrn“ – das ist deshalb der Cantus firmus im Lied der Maria.

Verherrlicht wird deshalb auch nicht Maria, die künftige „Gottesmutter“. Verherrlicht wird Gott als der Herr der Geschichte, der unverbrüchlich zu der Verheißung steht, die er seinem Volk gegeben hat. Gepriesen wird Gott als der Retter; denn er erbarmt sich der Niedrigen und Hungrigen – die Hochmütigen und Mächtigen dagegen verstößt er. Die Kluft zwischen Macht und Ohnmacht wird überwunden; so entsteht Gottes Friedensreich.

Aus der Verheißung des Engels weiß Maria, dass in dem Kind, das in ihr wächst, Gottes Heilswerk schon begonnen hat. Das gibt ihr das Recht und die Kraft zu einem prophetischen Psalm. Die Beterin sieht sich an das Ende der Geschichte versetzt und blickt von dort aus dankbar auf Gottes vollendetes Heilswerk zurück. Mit ihrem Lobgesang findet die Prophetie des Alten Testaments Eingang in das Neue Testament – noch vor der Verkündigung Johannes des Täufers, noch vor der Predigt Jesu. Das begründet den einzigartigen Rang ihres Lobgesangs. Er kündigt einen Herrschaftswechsel an, der mit Jesus in unsere Wirklichkeit einzieht, allen widerstrebenden Zügen dieser Wirklichkeit zum Trotz:

Er wirket gewaltig mit seinem Arm und zerstöret alle Hoffärtigen im Gemüt ihres Herzens.

Er setzet die großen Herren von ihrer Herrschaft ab und erhöhet, die da niedrig und nichts sind.

Er macht satt die Hungrigen mit allerlei Gütern, und die Reichen lässt er leer bleiben.

IV.

Ein fremder Blick auf Maria, werden Sie denken. Nicht die Madonna auf der Mondsichel mit dem Kind im Arm. Nicht die Mutter unter dem Kreuz, an dem ihr Sohn leidet und stirbt. Nicht die Glaubenszeugin, die im Kreis der Jünger ihr Leben aushaucht und durch Christus zu Gott erhöht wird. Nicht die Wundertäterin, um deretwillen Menschen heute nach Lourdes oder Fatima pilgern. Nicht die Mutter der Nation, die in Tschenstochau verehrt wird. Nein, eine Stimme des Glaubens in der Tradition der Propheten. Sie verherrlicht Gott. Und deshalb sagt sie eine Veränderung an, die grundstürzender nicht sein kann: eine Veränderung im Licht der göttlichen Barmherzigkeit:

Und seine Barmherzigkait langet von einem Geschlecht zum andern allen, die sich vor ihm fürchten.

Von einem Geschlecht zum andern – von einer Generation zur andern reicht Gottes Barmherzigkeit. Über die Jahrtausende singen und beten Menschen das Tag für Tag. Dieses ununterbrochene Gebet ist selbst ein Teil der Barmherzigkeit Gottes. Es nährt unsere Zuversicht, dass Unfrieden und Ungerechtigkeit nicht das letzte Wort haben. Das sanfte Gebet, das Gott allein die Ehre gibt, bricht den Hochmut und setzt die großen Herren von ihrer Herrschaft ab. Das sanfte Gebet, das sich allein auf Gottes Barmherzigkeit verlässt, erhöht die Niedrigen und sorgt dafür, dass die Hungrigen nicht hungrig bleiben.

Wer das Magnificat der Maria hört, und erst recht, wer es selbst betet, findet sich mit dem Gegensatz von Hohen und Niedrigen, von Reichen und Armen, von Mächtigen und Ohnmächtigen nicht ab. Martin Luther hat deshalb aus diesem Lobgesang der Maria die Folgerung gezogen, dass jedem Menschen sein Recht zukommen soll. Dabei hatte er vor allem die ganz elementaren Bedingungen des Lebens im Blick: „Geld, Gut, Leib, Ehre, Weib, Kinder und Verwandte“ – alles „gute Dinge, von Gott selber geschaffen und gegeben“. Doch dann rühmt er vor allem auch das Recht selbst und anerkennt, dass jeder Mensch in seinen unantastbaren Rechten zu achten ist. Er sieht im Gebet der Maria einen frühen Vorboten der Überzeugung, die wir heute in der Anerkennung universaler Menschenrechte zum Ausdruck bringen. Den Einsatz für Würde und Recht des Menschen, den Protest gegen das Widereinander von Hoch und Niedrig, die Pflicht, es nicht bei der immer größer werdenden Kluft zwischen Reich und Arm zu lassen, die Bindung politischer Macht an die Aufgabe, für Recht und Frieden zu sorgen – all das klingt schon an in dem Lied einer einfachen Frau, die zur Mutter Jesu werden sollte. Wenn das keine Mutter des Glaubens ist!

Amen.