Predigt am Sonntag Kantate in St. Peter und Paul auf Nikolskoe (Matthäus 11, 25-30)

Wolfgang Huber

I.

Daniel träumt davon, eine Musik zu finden, die die Menschen glücklich macht. Er sucht nach einem neuen Lied. Es soll die Herzen der Menschen erreichen. Was wäre das für ein Wunder!

Aber gibt es dafür Töne? Lässt sich eine Melodie finden, die unsere Welt verzaubert? Wer weiß. Ein zehnjähriger Junge steht mit seiner Geige im wogenden Weizenfeld und übt sein Stück. Inmitten des Meeres der Gezeiten, im Kommen und Gehen der Generationen, im Fluss von Werden und Vergehen spielt Daniel auf seiner Violine. Die Noten hat er mit Wäscheklammern an wiegenden Getreidehalmen befestigt. Wie er aus ihnen im Rhythmus des Windes spielt, hört die ganze Welt für einen Moment auf sich zu drehen. Die ganze Schöpfung lauscht andächtig auf das neue Lied.

Wenig später tauchen zwei Schulkameraden auf, die für den Träumer im Weizenfeld nur Spott übrig haben. Ihre Herzen erreicht kein Lied. Sie machen sich ein Vergnügen daraus, Daniel hin und her zu schubsen und seine Noten zu zerfleddern. Ihm bleibt nur die Flucht.

Später wird Daniel ein berühmter Dirigent. Doch erst als er wegen eines Herzinfarkts seinen Beruf aufgibt und in sein schwedisches Heimatdorf zurückkehrt, findet er zu den Herzen der Menschen und auch zu seinem eigenen. Daniel, der große Musikstar, übernimmt die Kantorenstelle in der Kirchengemeinde seines von Kindheitserinnerungen erfüllten Heimatdorfs.

Im Kirchenchor wird seitdem mit dem ganzen Einsatz von Körper und Seele ein neues Lied gesungen. Lebensfreude, Schmerz, Streit und Ängste finden in der Singgemeinschaft Ausdruck, auch der geistig behinderte Ture singt mit.

Widerstände die neuen Töne kommen vor allem von dem strengen und eifersüchtigen Gemeindepfarrer. Es ist traurig: Er legt für unseren wunderbaren Beruf keine Ehre ein. Ihm geht nicht auf, welches Wunder sich im Chor bei jeder Probe ereignet.

Vielleicht haben Sie die Geschichte, deren Umrisse ich mit diesen wenigen Strichen zeichne, auch in Erinnerung. Es ist die Handlung des schwedischen Films „Wie im Himmel“. Viele Menschen, auch mich persönlich, hat er tief angerührt. So selten ich ins Kino gehe: diesen Film würde ich sofort wieder anschauen. Denn in ihm kann man sehen, hören und spüren, wie die Mühseligen und Beladenen durch ihr Singen Befreiung erleben und Neues an sich selbst entdecken.

Manchmal scheint ja den Weisen und Klugen etwas verwehrt zu sein, was den Unmündigen direkt vor Augen liegt. Keine Ahnung hatte ich, wovon die Rede war, als vor einer Woche ein ganzer Eisenbahnwagen von der Frage widerhallte, wer es denn sein würde: Sarah Kreuz oder Daniel Schumacher. Alle redeten mit, nur ich hatte keine Ahnung. Erst gestern Abend ging es mir auf: Ganz Deutschland suchte den Superstar. Die Quote war sensationell hoch. Aber ob sich das neue Lied so finden lässt?

Den Text des Neuen, allerdings noch ohne Melodie und Rhythmus, haben wir als Sonntagsevangelium bereits gehört. In vier Schritten spüren wir diesen Worten Jesu noch einmal nach.

II.

Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen.

Dankbar stimmen wir in den Jubelruf Jesu Christi ein. Am Sonntag Kantate werden wir daran erinnert, wie offenbar und verborgen zugleich die Menschenfreundlichkeit Gottes in unserer Lebenswelt ist. In Jesu Treue zu Gott, in seinem Festhalten an Gottes gütigen Blick liegt das Geheimnis verborgen.

Niemand muss ein überteuertes Flugticket buchen, um heimzukehren. Es ist auch nicht nötig, vorher ein optimierter Mensch zu werden. Der Eintritt ist frei. Jede und jeder, so wie er oder sie ist, sind herzlich willkommen. Du musst Dich nur aufmachen und losgehen. Dann wirst Du ankommen und begrüßt werden. Wie im Himmel so auf Erden erklingt dann eines Tages das neue Loblied zur Ehre Gottes, der Wunder tut.

Dank Hans-Christian Andersson wissen wir, wie rasch sich anerkannte Persönlichkeiten von einem Blender vorführen lassen. Was war ich beeindruckt von dieser Persönlichkeit und ihrer imposanten Erscheinung. Und doch habe ich übersehen, was den Kindern sofort auffällt: Der Kaiser ist ja nackt! Er hat überhaupt nichts an. Erst kürzlich wurden wir Zeuge einer Entwicklung, bei der grandios gepriesene Wertpapieren aus dem gehüteten Depot direkt in den Papierkorb wanderten.

Wer in die Irre geht, merkt das nicht sofort, sondern erst hinterher; sonst hätte er den Irrweg nicht eingeschlagen. Oft sind es Minderheiten ohne anerkanntes Mandat, die zuerst aufwachen. So war es auch vor 75 Jahren, als eine protestantische Minderheit geistesgegenwärtig in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 formulierte: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

III.

Auf Christus können wir schauen und von ihm hören: Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.

Christus, unser Heiland und Retter, ist uns vorausgegangen. Für vieles benötigen wir seinen Beistand nicht. Du kannst natürlich allein und frei entscheiden, auf welchen Parkplatz Du Dein Auto vor dem Supermarkt abstellst – keine Frage! Aber über die lebensentscheidenden Fragen sagt das nichts. Für sie bleibt Christus der Weg und die Wahrheit und das Leben. Wer die Treue Jesu Christi zu Gott und die Hinwendung zum Nächsten verlacht, wird das neue Lied niemals hören, er wird Christus niemals im Antlitz seines Mitmenschen erkennen und er wird immer wieder auf sich selbst geworfen bleiben. An Christus kommt niemand vorbei. Wie gut, dass das so ist. Und zugleich gilt, dass wir an unseren bedürftigen Mitmenschen vorbei nicht zu Christus gelangen. Noch einmal: Wie gut, dass das so ist.

IV.

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

Ralf und Jessica sind noch unter dreißig. Sie haben eine kleine zweijährige Tochter. Obwohl sie jung sind, kostet es sie große Überwindung und Mühe, im Flur der „Arbeitsgemeinschaft für die Grundsicherung Arbeitssuchender“ – kurz Arge genannt – auf ihren persönlichen Ansprechpartner zu warten. Sie haben nur noch sieben Euro für die nächsten acht Tage. Dass das Geld nicht reicht, ist im Gesetz nicht vorgesehen.

Nun sitzt das junge Paar mit dieser Last auf den Schultern im Amt und wartet. Der persönliche Ansprechpartner wird den jungen Eltern einen Gutschein ausstellen, mit dem sie Lebensmittel und Pampers kaufen können. Natürlich wird der vorgestreckte Betrag mit den Einkünften des folgenden Monats verrechnet werden. Bevor die beiden den Gutschein erhalten, müssen sie ein paar fehlende Kontoauszüge von ihrer Bank besorgen. Nach Singen ist ihnen nicht zumute.

Die Mühseligen und Beladenen kommen hin und wieder in unsere Kirchengemeinden. Aber haben sie dort ein Heimatrecht? Oder wird mit ihnen nur auf Zeit gerechnet, zu den Öffnungszeiten einer Ausgabestelle von Laib und Seele, einer Suppenküche oder eines anderes Sozialprojekts? Wie gut, dass es das alles gibt. Aber bei Jesus haben die Mühseligen und Beladenen jederzeit Zugang, ohne Öffnungszeiten.

Was müsste eigentlich geschehen, damit Ralf und Jessica aufatmen könnten? Ich halte Ausschau danach, wo die beiden fröhlich mit ihrer Tochter Janina singen und scherzen könnten. Vielleicht reicht es schon, wenn eine lebenserfahrene Vertrauensperson den jungen Eltern bei Bedarf mit Güte, Rat und Tat zur Seite steht. Das Projekt „Känguru“, das von unserer Diakonie ins Leben gerufen wurde, ist ein Beispiel in dieser Richtung: Lebenserfahrene Menschen helfen Eltern dabei, ihre neu geborenen Kinder zu bergen und für sie Verantwortung zu übernehmen – wie das Känguru sein Junges in dem Beutel trägt, den die Natur dafür vorgesehen hat.

V.

Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

Das Joch ist ein archaisches Gerät. Tiere tragen es, um eine Last zu schultern oder zu ziehen. An manchen Orten der Welt tragen Menschen bis heute ein Joch, um Wasser zu holen oder Waren zum nächsten Markt zu bringen. Wie gut, dass es auf dem schweren Weg eine Wasserstelle gibt, an der die Lasten abgelegt werden können. Mensch und Tier haben hier die Möglichkeit, sich an dem frischen Nass zu erquicken.

Wer von Lasten nicht erdrückt werden soll, muss loslassen. Erquickt werden können nur Menschen, die bereit sind, ihre Lasten  abzugeben und sich zu erfrischen. Als Mühselige und Beladene treten Menschen vor Gott. Sie kommen zur Wasserstelle und treffen auf Christus. Er übergibt ihnen ein ganz anderes Joch. Zum ersten Mal spüren sie, dass eine Last leicht ist und ein Joch nichts Drückendes hat. So ist es mit der Last der Vergebung und mit dem Joch der Freiheit. Wir müssen nicht mehr um Leben und Tod kämpfen. Jesus hat den herabrollenden Riesenstein des Sisyphos beiseite geschoben und uns aus der Knechtschaft befreit.

Wir können loslassen. Der Gottesdienst bietet dafür Raum. Lieder lassen uns ausatmen; wir stimmen ein in das Lob Gottes. Der Sonntag, dieses besondere Gottesgeschenk, lässt uns immer wieder neu anfangen. Wir geben unsere Sorgen frei und vertrauen sie Christus an.

Am Sonntag Kantate gilt das besonders, am Sonntag des Liedes. Wir atmen aus, geben das eigene Joch und die schweren Lasten an Jesus und seinen Vater ab und nehmen dafür das sanfte Joch Jesu auf uns. In der Musik erleben wir den fröhlichen Lastenwechsel. Das neue Leben erreicht uns. Nicht wir tragen alles, sondern wir lassen uns tragen. Gemeinsam loben wir Gott. Aufrechten Hauptes sind wir unterwegs – mit dem sanften Joch der Vergebung und der leichten Last erneuerter Freiheit. So finden wir Ruhe in Gott.

Amen.