Predigt im Pfingstgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin - 75 Jahre Barmer Theologische Erklärung

Wolfgang Huber

An einem Montag im März erkletterten Aktivisten von Greenpeace  über ein Gerüst einen der beiden Hochhaustürme der Deutschen Bank in Frankfurt am Main und brachten dort ein weithin lesbares Transparent an. Darauf stand: "Wäre die Welt eine Bank, hättet Ihr sie längst gerettet!" Wie ein Fanal und ein Hilferuf zugleich, trotzig im Wind flatternd, wird die Empörung derjenigen sichtbar, die es nicht fassen können, dass die Zukunft unserer Kinder verschleudert wird.

Szenenwechsel. Ein guter Bekannter empört sich im kleinen Kreis: Was ist das für eine Zeit, in der wir leben! Kaum jemand kennt Gerhard Ertl, Peter Grünberg oder Harald zur Hausen, obwohl sie deutsche Superstars sind. Alle drei haben für ihre wissenschaftlichen Entdeckungen die denkbar höchste Auszeichnung, einen Nobelpreis, erhalten. Doch wen interessiert das schon? Der Gesprächspartner folgert: Deutschland steckt nicht nur in einer heftigen Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir leben in Zeiten einer geistigen Rezession, die sich gewaschen hat. Die Geistlosigkeit nimmt dramatische Züge an.

Noch einmal Szenenwechsel. Ich gehe spazieren und freue mich an dem hervorbrechenden Grün der Bäume und Hecken. Gespräche der letzten Tage ziehen an mir vorüber, während ich den Uferweg am See betrete. Von der nun schon drei Jahre zurückliegenden Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja sprachen die Schüler des Gymnasiums. Ihnen war die Empörung darüber, dass Menschen die Wahrheit einfach kaltstellen und dabei selbst vor einem Mord nicht zurückschrecken, deutlich ins Gesicht geschrieben.

Eine Böe streicht über das Wasser. Ich gehe schweigend den Uferweg entlang. Erst später wird mir bewusst, dass ich irgendwann begann, die Melodie eines Kirchenlieds zu summen. Und dann kommt mir auch der Text in den Sinn: „O komm, du Geist der Wahrheit, / und kehre bei uns ein, / verbreite Licht und Klarheit, / verbanne Trug und Schein. / Gieß aus dein heilig Feuer, / rühr Herz und Lippen an, / dass jeglicher getreuer / den Herrn bekennen kann.“

In der Diskussion erzählte ich den Jugendlichen von den Auseinandersetzungen, vor denen unsere Mütter und Väter im Glauben heute vor 75 Jahren standen. Sie spürten damals: In Deutschland geschieht Unrecht! Viele waren hin- und hergerissen. Sie waren sich nicht sicher, wem sie denn eigentlich glauben konnten.

Nein, die Bekenner von Barmen im Jahre 1934 waren keine Helden. Das wussten sie auch. Sie waren angefochten und unsicher in dem, was sie sagen und tun sollten. Doch gerade in der von ihnen so schmerzlich empfundenen Ohnmacht und Schwäche erlebten sie ein wirkliches Pfingstwunder. Denn plötzlich blitzte etwas auf von dem Geist, den Jesus den Seinen hinterlässt.

Am 31. Mai 1934 sprachen die 138 Teilnehmer der ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche ihr klares „Nein“ zu dem Versuch, die evangelische Kirche in die Gewalt des nationalsozialistischen Staates zu zwingen. Zugleich sagten sie ein ebenso entschiedenes Ja zu dem einzigartigen Auftrag der Kirche, Jesus Christus, „das eine Wort Gottes“, allen Menschen zu bezeugen: als Zuspruch und Anspruch für unser ganzes Leben.

Schon bald wurde erkannt, dass dies mehr war als eine kirchenpolitische Stellungnahme zu einer unmittelbaren Gefahr für das Bekenntnis und damit für die Integrität der evangelischen Kirche. Es vollzog sich zugleich ein Durchbruch zur Erkenntnis „evangelischer Wahrheiten“, die über den Tag hinaus Bedeutung hatten. Dietrich Bonhoeffer, der große Berliner Theologe und Märtyrer, stellte schon wenige Jahre später in einem Plan für den Konfirmandenunterricht die Barmer Theologische Erklärung ausdrücklich den Bekenntnisschriften der Reformationszeit zur Seite. „Worauf gründet sich diese Kirche?“ So fragt er – und antwortet: „Unsere Kirche gründet sich allein auf das Wort Gottes Heiliger Schrift. Dazu hat der Heilige Geist unserer Kirche eine evangelische Auslegung der Schrift und Zeugnis des Glaubens geschenkt in den Bekenntnisschriften der Reformation und der Synode von Barmen.“

Auch heute hat die Barmer Theologische Erklärung für das Leben unserer Kirche eine so große Bedeutung, dass sie als entscheidendes Lehrzeugnis der Kirche aus dem 20. Jahrhundert Eingang in unser Evangelisches Gesangbuch gefunden hat. Sie steht dort unter der Nummer 810. In unserer Kirche wird ihr ausdrücklich der Rang eines Bekenntnisses zuerkannt.

Worin ist die Barmer Theologische Erklärung auch heute verbindlich und wegweisend? Ich sehe ihre bleibende Bedeutung vor allem in drei Hinsichten: in der Klarheit des Glaubens, in der Gewissheit des kirchlichen Auftrags und in der Verantwortung für die Zukunft unserer Welt.

Klarheit des Glaubens. In einer Situation, in der das christliche Bekenntnis durch massive Irrlehren zerstört werden sollte, vermittelt das Barmer Bekenntnis eindeutige Orientierung. Diese Orientierung gründet sich auf das biblische Wort, wie die Schriftzitate am Beginn jedes Abschnitts deutlich machen. Verbindlich formuliert diese Erklärung evangelische Wahrheiten, die sich aus der biblischen Botschaft ergeben. Und sie vermittelt die Kraft zur Unterscheidung, ja im Fall eines Angriffs auf das Evangelium auch zur eindeutigen Verwerfung.

Klarheit des Glaubens – das klingt überraschend; denn in unserer schnellen, lauten und oft auch schrillen Zeit scheint dafür weder Zeit und Ruhe noch Raum und Gehör zu sein. Das Geld für Rettungsschirme oder Konjunkturpakete, Steuerschätzungen oder die Prognosen von Meinungsforschungsinstituten ziehen viel mehr Aufmerksamkeit auf sich. Die krisenhafte Entwicklung unserer Zeit scheint den Druck in dieser Richtung noch zu erhöhen. Was soll da die Klarheit des Glaubens? Sie ist unentbehrlich, wenn wir Halt finden wollen in den Ungewissheiten unserer Zeit

Zu Recht fragte der Deutsche Evangelische Kirchentag in Bremen vor wenigen Tagen „Mensch, wo bist Du?“ Fragen dieser Art werden wieder gestellt: nach der Existenz Gottes, nach der Heilsbedeutung Jesu Christi, nach dem menschlichen Versagen angesichts der drohenden Klimakatastrophe, nach Menschen wie Anna Politowskaja, nach dem Verhältnis zwischen den Religionen. Auf solche Fragen antworten weder Allensbach noch Infratest; für sie braucht man die Klarheit des Glaubens. Zu Recht erinnert uns die Barmer Theologische Erklärung daran.

Gewiss haben wir aus einer heutigen Perspektive zu manchem dort Gesagten oder auch Nichtgesagten kritische Rückfragen vorzubringen. Das Schweigen zu den Angehörigen des jüdischen Volkes und ihrem Geschick bleibt die schwerste Lücke dieses Textes. Die patriarchalische Bezeichnung der christlichen Kirche als einer „Gemeinde von Brüdern“ muss man ebenso hinter sich lassen wie die Tatsache, dass die politische Ordnung nicht ausdrücklich als eine Ordnung der Freiheit beschrieben wird. Doch stärker ist die Bewegung, in die uns dieses Bekenntnis hineinzieht: heraus aus den „gottlosen Bindungen dieser Welt“, hinein in den befreiten und dankbaren Dienst an Gottes Geschöpfen.

Gewissheit des kirchlichen Auftrags. Das Barmer Bekenntnis von 1934 regt dazu an, die Kirche Jesu Christi neu zu entdecken als eine geistliche Wirklichkeit, als Wirkungsraum des Heiligen Geistes, dessen Gegenwart unser Zutrauen und unsere Aufmerksamkeit verdient. In diesem Horizont beschreibt die sechste Barmer These den Auftrag der Kirche mit unüberholter Klarheit. Er besteht darin, „die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk“. Im Horizont dieses Auftrags gehören Glaube und Gehorsam, Botschaft und Ordnung der Kirche zusammen. Diesem Auftrag ist auch die geschwisterliche Gestalt der Kirche zugeordnet, in der unterschiedliche Aufgaben nicht eine Herrschaft der einen über die anderen begründen, sondern ausgerichtet sind an der „Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes“.

Schließlich Verantwortung für die Zukunft unserer Welt. Mit großer Deutlichkeit erinnert das Barmer Bekenntnis uns Christen wieder und wieder an den Auftrag, in der Welt und für die Welt Verantwortung zu übernehmen. Ausdrücklich wird die gemeinsame „Verantwortung der Regierenden und der Regierten“ hervorgehoben. Die Ausübung dieser Verantwortung wird konsequent an dem Auftrag des Staates orientiert, für Recht und Frieden zu sorgen.

Das ist das Besondere am Barmer Bekenntnis: Die Verantwortung in der Welt gehört unlöslich in den Kern des christlichen Glaubens selbst. Aber diese nach außen gewandte Verantwortung wird zusammengehalten mit der Klarheit des Glaubens und dem Verkündigungsauftrag der Kirche. Wenn die Klarheit des Glaubens, das geistliche Leben der Kirche und weltzugewandte Verantwortung sich miteinander verbinden, dann können wir hoffen, nahe bei dem Erbe zu sein, das uns mit der Barmer Theologischen Erklärung anvertraut ist.

„O komm, du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein!“ Carl Johann Philipp Spitta hat uns mit seinem Lied einen beeindruckenden „Pfingstschlager“ hinterlassen. In den ersten drei Strophen wird beschrieben, wie Menschen Trost empfangen können. Gottes Geist verbreitet „Licht und Klarheit“, er rüstet aus mit den „scharf geschliffnen Waffen der ersten Christenheit“ und er verleiht „Kraft, Geduld und Glaubenstreu“. Zu den ersten drei Strophen treten die Strophen vier bis sechs, die eine drängende Selbstaufforderung an die christliche Gemeinde darstellen: Sie fordern auf zum Bekennen, sie klagen über den eigenen Unglauben und sie rufen zur Buße. Mit der siebenten Strophe wird das Lied zum gesungenen Gebet. Singend bitten wir Gott um ein neues „Pfingstfest“. 

Die Barmer Theologische Erklärung, heute vor 75 Jahren verabschiedet, erneuert unser Vertrauen darauf, dass es zu einem solchen neuen Pfingstfest kommt: in der Klarheit des Glaubens, in der Gewissheit des kirchlichen Auftrags, in der Verantwortung für die Zukunft unserer Welt. Das ist ein Erbe, das wir getrost und mit Zuversicht annehmen können. Amen.