Predigt im Festgottesdienst in der St. Johanneskirche, Reichenbach (Lukas 16,19-31)

Wolfgang Huber

I.

Beeindruckend ist die Anfahrt, die sich dem sonntäglichen Frühaufsteher bietet, der von Berlin aus nach Reichenbach kommt. Schon der Beginn eines solchen Tages ist ein Fest in sich selbst. Von weitem sichtbar ragt der mächtige Turm der alten Wehrkirche Sankt Johannes zwischen den Hügeln und Bergen der Oberlausitzer Landschaft hervor.

Reichenbach, gelegen am Rande der Via Regia, der mittelalterlichen Handels- und Heeresstraße von Kiew nach Santiago de Compostela, ist die Heimatstadt von Ludwig Eduard Nollau. Dass der Missionar, dem das wohl älteste Kirchengebäude der Evangelischen Synode im Westen Amerikas zu verdanken ist, aus Reichenbach stammt, war wohl auch vielen Reichenbachern lange Zeit unbekannt. Aber dass wir nun von Reichenbach aus dank dieses Glaubenszeugens unsere Partnerschaft zur United Church of Christ in den USA, der Heimatkirche von Barack Obama, vertiefen können, ist eine glückliche Fügung. Das geschieht, wie so vieles hier in der schlesischen Oberlausitz, in guter Gemeinschaft mit der lutherischen Diözese Breslau. Ihre Gemeinde, Sie wissen das, bietet eine Vielzahl von Zeugnissen aus Vergangenheit und Gegenwart an der Nahtstelle zwischen niederschlesischer und sächsischer Oberlausitz.

Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft reichen sich die Hand, wenn wir heute gemeinsam in St. Johannes vor Gott treten und ihm die Ehre geben. Es ist Gottes Geschenk an uns, dass wir an einem solchen Sonntag unsere Sorgen und Aufgaben zurücktreten lassen und die Werkzeuge des Alltags aus den Händen legen. Wir können Atem schöpfen, Gott mit unseren Liedern loben und auf sein lebendiges Wort hören. Frei von den Verengungen des Alltags bietet uns der Sonntag Zeit für Festgottesdienst und Gemeindefest. Alles ist vorbereitet. Nun liegt es an uns, ob wir uns öffnen für einen Tag der Gemeinschaft, für Gespräche und Spiel, für neue Begegnungen und hoffnungsvolle Augenblicke.

Wann, wenn nicht jetzt und hier, kann ich danach fragen, wie es zu einem sinnerfüllten Leben kommt? Worauf soll ich eigentlich noch warten? Aber das Evangelium, das uns bei diesem Fragen begleiten will, ist ziemlich drastisch geraten: Der reiche Mann und der arme Lazarus. Wie passt das wohl zusammen: Lazarus und Reichenbach? Ist das der richtige Text zum Gemeindefest rund um die St. Johanneskirche? Gibt es denn vergleichbare Gegensätze in dieser Stadt wie zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus? Haben wir denn irgendeinen Grund zu der Annahme, dass das Leben der Reichen in Reichenbach neu ins Verhältnis gesetzt werden müsste zum Leben derjenigen, für die wir die sprichwörtlich gewordene Bezeichnung „armer Lazarus“ verwenden?

II.

Das Sonntagsevangelium erzählt uns vom reichen Mann und vom armen Lazarus.  Kunstvoll ist dieses Gleichnis Jesu aufgebaut. Zwei Personen werden uns vorgestellt: der außerordentlich reiche Mann und der im Elend steckende Lazarus. Vergeblich hofft der Arme auf die Brosamen, die von des Reichen Tische fallen; er findet kein Erbarmen. Doch der kurzen Darstellung dieses irdischen Schicksals folgt ein ausführliches Nachspiel. Nach dem Tod kehrt sich beider Geschick um. Der Reiche erleidet in der Unterwelt große Qualen. Der Arme dagegen erfährt im Jenseits die Wohltaten, die er im irdischen Leben entbehren musste. Er wird statt von Geschwüren durch Güte ummantelt und sitzt geborgen in Abrahams Schoß. Selbst der Blickwinkel hat sich umgedreht: Der Reiche schaut nun nach dem Armen.

Der Grund dieses Blickwechsels ist klar. Die Gerechtigkeit fordert, dass das Schlechte und dem Leben Abträgliche durch Gutes ausgeglichen wird, und sei es auch erst im Jenseits. Dem Lazarus widerfährt nach seinem Tod diese ausgleichende Gerechtigkeit. Wer dagegen im Diesseits die einfachsten Gebote der Barmherzigkeit missachtet, wird einmal erfahren, wie sich das anfühlt. Wie sich einst der Arme nach den Abfällen des Reichen sehnte, ohne etwas zu bekommen, so geht es nun dem Reichen. Er erhält nicht ein einziges klitzekleines Tröpfchen Wasser.

Lazarus ruht in Abrahams Schoß. Er ist beim Stammvater des Glaubens angekommen. Er ist jetzt bei dem, der beispielsweise wegen der zum Himmel schreienden Zustände in Sodom und Gomorra mit Gott verhandelte. Abraham fragte nach der Zukunft der wenigen Gerechten unter der Einwohnerschaft Sodoms und verwendete sich für sie. Abraham gilt deshalb als Vater der Gerechten, der diese schließlich um sich sammeln wird. Lazarus gehört dazu, nicht weil er aus einer bestimmten sozialen Schicht stammt, sondern weil er sein Leben am Gebot Gottes orientierte. Das unterscheidet ihn vom Reichen.

Am Ende steht die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Die Geschichte von Lazarus und dem anonymen Egoisten öffnet uns die Augen für die andauernden Versuche, unsere Welt aus den Fugen zu heben.

III.

Nur ein Beispiel für solche Versuche. In einer Novelle mit dem Titel „Ein paar Braune“ schildert der russische Schriftsteller Wladimir Tendrjakow ein eindrückliches Ereignis aus der Zeit der bolschewistischen Revolution. Im Dorf seiner Kindheit erlebt der fünfjährige Junge eine große Prozession der Gerechtigkeit. Auf Anordnung der Partei wurden die Gutsherrn gezwungen, aus ihren Häusern auszuziehen. Fortan sollten sie in den Katen armer Dorfbewohner leben, um so der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Oder sie mussten das Dorf verlassen. Die Dorfarmen ließen sich beglückt und begeistert in den großzügig gebauten Häusern der reichen Kulaken nieder und priesen die neuen Verhältnisse. Am Tag des großen Umzugs begegnete sich die Gemeinschaft des Dorfes ganz neu. Große Fuhrwerke, Lastkarren und einzelne Lasttiere zogen über die Dorfstraße hinweg. Die einen zählten, wer die meisten Töpfe hatte. Andere schrien auf, weil sie auf einem Fuhrwerk zwei Samoware bemerkten. Kleine Kinder weinten und die Familien der Kulaken verließen das Dorf.

Fünfzig Jahre später beschreibt Wladimir Tendrjakow  den Tag, an dem im Dorf die allgemeine Gleichheit hergestellt wurde. Er verschweigt nicht, dass nur wenige Monate später eine furchtbare Hungersnot ausbrach, der viele Menschen zum Opfer fielen. Wie einst Lazarus verschmachteten sie auf der Straße. Doch in ihrer Region gab es keinen reichen Mann mehr, den sie um etwas Brot hätten bitten können.

Wladimir Trendrjakow schrieb seine bitteren Einsichten in der Hoffnung nieder, dass vielleicht seine Urenkel aus solchen Fehlern lernen könnten. Zensur und Willkür verwehrten ihm die Kontaktaufnahme mit seinen Mitmenschen. Es ging ihm so wie dem reichen Mann, der peinigende Qualen erleidet und seine Brüder warnen will. Es blieb ihm zu seinen Lebzeiten verwehrt. Seine Novellen wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.

IV.

Heute, zwanzig Jahre nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Ostblocks und der friedlichen Revolution in unserem Land erleben wir ebenfalls ein bedrückendes Chaos – nun allerdings im globalen Dorf.  Doch Auswirkungen hat das Chaos auf den Finanzmärkten überall, in unserem Land sogar weit stärker als in manchen anderen Ländern. Auch die Auswirkungen sind ungleich verteilt. Wer genügend Polster hat, fällt weicher als andere. Vielen von uns ist bewusst, dass einzelne Spitzenverdiener in einem einzigen Jahr mehr Geld erhalten, als andere in ihrem ganzen Berufsleben verdienen können.

Jetzt reiben wir uns die Augen und fragen, warum der Staat die Entwicklung der Finanzmärkte nicht stärker kontrolliert und reguliert hat. Die Entwicklung riskanter Finanzpapiere wurde sehenden Auges akzeptiert. Auch von politischer Seite wurde jahrelang gefordert, man müsse den Finanzmarkt so liberalisieren, dass derartige Produkte platziert werden könnten. Genau das, was wir heute alle für einen Skandal halten, ist erst vor wenigen Jahren ausdrücklich gefordert und gerechtfertigt worden.

Heute rufen alle nach gesetzlichen Regelungen für das, was am Finanzmarkt erlaubt ist und was nicht. Erschrocken stellen wir fest, dass der Staat, der ganz besonders zu maßvollem und verantwortlichem Handeln verpflichtet ist, es oft auch nicht klüger und verantwortungsvoller angestellt hat als Privatbanken. Das Schicksal der Landesbanken beweist es.

Mit dem wachsenden Tempo der internationalen Finanzmärkte ist auch die Gier gewachsen. Je mehr Gestaltungsmöglichkeiten sich zeigen, desto mehr gieren Menschen danach, noch mehr Geld zu bewegen. Unsere Zeit ist vom Geist des Habenwollens beherrscht. Das merkt man quer durch alle Schichten.

Viele erwarten, dass wir aus dieser Krise Konsequenzen ziehen und nicht alles so weiterlaufen lassen wie bisher. Wir müssen Regeln finden, die das Ausleben menschlicher Gier eindämmen und dem Interesse an kurzfristiger Profitsteigerung Grenzen setzen. Gewiss ist Eigennutz eine Antriebskraft für wirtschaftliches Handeln. Aber Gemeinwohl und Eigennutz brauchen ein ausgewogenes Verhältnis zueinander.

Dabei ist die Verpflichtung auf das Gemeinwohl nicht auf die eigene Generation beschränkt. Das Gemeinwohl schließt unsere Kinder und Enkel ein. Es genügt nicht, darüber zu streiten, wie weit man die „Schuldenbremse“ anzieht oder lockert. Dann dabei geht es nur um Schulden, die neu aufgenommen werden. Von politisch Verantwortlichen muss man aber auch Auskunft darüber erwarten, welche Auswirkungen die Staatsverschuldung auf unsere Enkel haben wird. Es darf nicht dahin kommen, dass öffentliche Haushalte in 25 Jahren vollständig durch den Schuldendienst einerseits und die Pensionslasten andererseits aufgebraucht werden. Was wird dann mit Bildung und Gesundheit? Was tun wir dann noch für die Gerechtigkeit im eigenen Land und weltweit? Wie wird die Geschichte vom reichen Mann und vom armen Lazarus dann erzählt? Jetzt ist es an der Zeit, über solche Fragen offen und ehrlich zu reden, damit ein Umdenken in Gang kommt.

V.

Liebe Gemeinde, wer sich an diesem klaren und hellen Sonntagmorgen von Berlin aus nach Reichenbach auf den Weg macht, fährt auf den Turm der eindrucksvollen Wehrkirche St. Johannes mit großen Erwartungen zu. Die Werkzeuge des Alltags legen wir an diesem Tag aus der Hand und fragen, was trägt. Die Festzeit von Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten haben wir hinter uns und stehen vor der Frage, was wir von Christus gelernt haben, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der zur Rechten Gottes sitzt und uns durch seinen Geist leiten will. An einem solchen Festtag richtet sich die Frage an uns, ob Gottes Geist uns erreicht.

An unseren Taten zeigt sich, ob dieser Geist uns erreicht, ein Geist des Gottvertrauens und der Nächstenliebe. An unserem Verhalten zeigt sich, ob wir weiterhin dem Geist der Eigensucht und des Habenwollens den Vorrang geben. In unserem Alltag zeigt sich, was Leben wirklich ist: bestimmt von der Macht, zu verletzen und zu kränken, zu zerstören und zu vernichten, oder bestimmt von der Bereitschaft, sich zu freuen und anderen Freude zu bereiten, eigene wie fremde Probleme zu lösen und Lasten gemeinsam zu tragen.

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel.

Das Herz wird in den Taten offenbar. Wir können umdenken, unseren Alltag mit neuen Augen sehen und dann mit unseren Taten antworten. Welch ein Fest!

Amen.