Predigt im Festgottesdienst zum 100. Jubiläum von Jugendstilkirchsaal und Gemeindehaus in Pankow-Nordend (Lukas 15,1-10)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.

Renovieren ist besser als Resignieren! Unter diesem Titel mag die beglückende Geschichte davon erzählt werden wie der Mut zur Zukunft den schier verloren geglaubten Jugendstil und die Zuversicht ins alte Rosenthal holte. Eine Stimmung des Aufbruchs hielt der Gleichgültigkeit und dem Grauschleier die Kraft des Evangeliums entgegen. Beharrlich, entschieden und visionär setzte sich die Botschaft durch: Renovieren ist besser als Resignieren!

Heute nun überwiegt die Freude des Wiederentdeckens! Rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag haben Sie ihre Gemeinde in einer Weise aufgezäumt, dass einem schon der Unterkiefer herunterklappen kann. Beeindruckend ist der Jugendstilsaal, überwältigend sind die Details. Jedes Fenster, jede Türklinke und die Höhe des Raumes laden dazu ein, die ganze Geschichte zu erzählen von allem Anfang an.

Doch wo sollten wir beginnen. Wie kriegen wir den Anfang zu fassen? Lassen Sie uns einen Anfang im Licht des Evangeliums wagen:

Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Niemand ist unwichtig, keiner steht am Rand, jeder wird wertgeschätzt. Eindrucksvoller lässt sich das gar nicht sagen als in diesem Gleichnis. Die Übertragung auf unseren heutigen Anlass fällt nicht schwer: 700, 500 oder 100 Jahre: jedes Jubiläum hat seinen eigenen Wert. Ob man die Aura eines Kirchengebäudes schon von weitem erkennt oder ob es sich erst aus der Nähe, gar erst im Innern erschließt: das eine ist so wertvoll wie das andere. Zwar habe ich diesen Kirchenraum bisher noch nicht gekannt – im Unterschied zu meiner Frau, die mir auch in dieser Hinsicht wieder einmal voraus war. Aber dass er eine besondere Perle in unserer ganzen Kirche ist – wer möchte das bestreiten!

Seien Sie deshalb sicher, liebe Festgemeinde, dass sich heute die gesamte Landeskirche in besonderer Weise mit der Kirchengemeinde Nordend freut. Natürlich gibt es mehr als neunundneunzig Kirch- und Gemeindesaale in unserer Kirche. Natürlich wissen wir um die wundervollen Kirchen in der Region. Doch heute steht die Freude über den Jugendstilkirchsaal im Interesse der Aufmerksamkeit. Jede Person, die diesen Raum betritt, wird dies verstehen.

Ein ganzes Kapitel widmet der Arzt Lukas dem Verlorenen. Es handelt sich um das stärkste Hoffnungskapitel dieses Evangeliums. Von der Verheißung des Reiches Gottes ist niemand ausgeschlossen: der verlorene Groschen, das verlorene Schaft, der verlorene Sohn demonstrieren das auf ihre Weise. In keinem der Fälle wird das durch einen so deutlichen Kontrast unterstrichen, mit einem solchen Mut zur Übertreibung, wie im Gleichnis vom verlorenen Schaf: 99 zu 1. Wer wüsste da nicht auf welcher Seite er zu stehen hat! Aber seien wir ehrlich: Wie würden wir uns entscheiden, wenn wir vor einer solchen Frage stünden? 99 verlassen, um einem einzigen nachzugehen?

Wir können uns in die Situation durchaus hineinversetzen, auch wenn die Zahl der Schafherden im Lauf der Zeit zurückgegangen ist – mögen die Orte auch noch so klingende Namen haben wie Rosenthal und Niederschöneweide, Hermsdorf oder Reinickendorf, lauter Namen, die an eine landwirtschaftliche Vergangenheit erinnern. Doch wie städtisch unsere Lebensverhältnisse auch immer geworden sind: Wenn wir eine Schafherde sehen, halten wir inne und denken uns unser Teil. Hat sich eines der unendlich vielen Schafe verirrt? So frage ich mich jedes Mal. Und den Hirten frage ich gern: „Wissen Sie denn, wie viele Schafe Sie dabei haben?“ Dann kaut er auf seiner Stulle und antwortet fröhlich: „Seien Sie unbesorgt; keines geht verloren. Sie kommen alle zurück.“

Dennoch weiß ich: Seine ganze Herde würde er nicht im Stich lassen, um sich mit unbekanntem Ziel auf die Suche nach einem einzigen Schaf zu begeben. Dieser voraussetzungslose Einsatz eines Hirten ist ein Bild für Gottes Barmherzigkeit, die keine und keinen verloren gibt. Seine freie Gnade gilt nicht nur allem Volk; sie gilt jeder und jedem ganz persönlich. Darin liegt der Grund aller Hoffnung. Jesus, der gute Hirte, der in einem berühmten Bildmotiv das verlorene Schaf auf die Schultern nimmt,  ist der Hoffnungsträger. Er, in dessen Nähe sich die Menschen plötzlich neu erkennen, kennt das Gefühl, verloren zu sein. Deshalb erzählt er von der nachgehende Treue des Hirten, von der beharrlichen Frau, die so lange nach der kleinen Münze sucht, bis sie wieder auftaucht, und von dem gütigen Vater, der dem heimkehrenden Sohn mit offenen Armen entgegenläuft.

Die Freude über das Zurückgewinnen des Verlorenen steigt ins Herz und überflutet den Verstand. Man male sich nur für einen kurzen Moment die Verlorenheit eines Schafes aus, das sich verirrt hat und sich vor der hereinbrechenden Nacht ängstigt. Schafe kennen die Stimme ihres Hirten. Der vertraute Klang seines Rufes, der Schutz, den es mit seiner Gegenwart verbindet und die Entschiedenheit seines Kampfes gegen in die Herde einbrechende Wölfe – das sind die Gewissheiten, die in seiner Stimme mitschwingen. Er wird das verirrte Schaf finden. Er wird es sich über die Schultern legen und zur Herde zurücktragen.

In diesem Jahr feiern wir, dass etwas verloren Geglaubtes zurückkam. Etwas, das nie gänzlich verschwunden war, kehrte vor zwanzig Jahren zurück und zeigte Wirkung. Als die Volkspolizei im Herbst 1989 in Leipzig eine Demonstration auflösen wollte, ertönte über einen Lautsprecherwagen die dröhnende Ansage: Hier spricht die Volkspolizei! Aus der Mitte der friedlichen Demonstranten kam eine unerwartete Antwort, gerufen von einer Stimme: Und wir sind das Volk! – dann aufgenommen von den umstehenden und schließlich vielstimmig: Wir sind das Volk. Wegen dieses Rufs schaffen wir uns in diesem Jahr Räume des Gedenkens und achten auf den Klang der Freiheit.

Sollte ich mir nicht hin und wieder ein paar Minuten gönnen, in denen ich mit wachen Augen in den wieder gewonnenen Festsaal der Freiheit und der Gottesebenbildlichkeit eintrete? Mich überwältigt die anmutige Gestaltung des Raumes und der erkennbare Mut zur Kostbarkeit. Jedes Detail ist atemberaubend. Durch die Fenster flutet das Licht der Güte Gottes. Ich stehe auf festem Boden, weiß mich geborgen und spüre Gottes Schutz. Hier kann ich die wieder entdeckte Würde besingen. Wie ein noch zitterndes Schaf, eben der bedrohlichen Nacht entkommen, und nun wieder zurück im Schutzbereich meines Hirten, so stehe ich dankbar und frei im Festsaal. Der Festsaal der Freiheit – er gehört zu den starken Bildern unseres Glaubens. Das Lied der Freiheit kann in ihm erklingen.

Wer den Saal der Freiheit kennt und das Lied der Freiheit singt, schaut auch mit offenen Augen auf die Verlorenen, die Ausgeschlossenen, die, die scheinbar nicht dazugehören. Er erinnert sich auch an die Zeiten in der Geschichte unserer Kirche, in denen wir den Weg zu den Ausgeschlossenen versäumten, die Gemeinschaft mit anderen aufkündigten, ihren Weg unbeachtet ließen. Auch in der Geschichte dieser Gemeinde gibt es Beispiele dafür. Sich ihrer zu erinnern, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, auf unserem weiteren Weg achtsam denen gegenüber zu sein, die einsam sind oder werden, die am Rande stehen oder denen wir die offene Tür verweigern.

Beispielhaft erinnern wir uns daran, dass Carl von Ossietzky im Nordendkrankenhaus lag und am 4. Mai 1938 starb. Er hat keinen Besuch von der Gemeinde erhalten. Brutale Herrschaft, Geheimhaltung und die Distanz mancher Christen zu einer Haltung des Widerstands gegen Hitler verhinderten damals eine Begegnung. Der Weg des Artisten Bruno Caspary, dessen Tochter 1932 in diesem Kirchsaal getauft wurde, verliert sich gemeinsam mit anderen Mitbürgerinnen und Mitbürgern jüdischer Herkunft.  Erst in den letzten Jahren hat unsere Kirche erleben können, dass eine engagierte Arbeitsgruppe den Weg der getauften Juden nachgegangen ist, um zu erfahren, was mit diesen Gliedern unserer Kirche geschehen ist.

Das Evangelium der Freiheit kann sich verflüchtigen und verloren gehen. Dann wird die Orientierung schwer. Das geht manchmal schneller als man denkt. Nebel und Grauschleier überlagern den Horizont. Wir leben jetzt und hier. Häufig wissen wir zu wenig von einander.

Menschen fühent sich als Verlierer, weil sie die Liebe Ihres Lebens nicht für sich gewinnen konnten. Seitdem funktionieren sie eher, als dass sie wirklich leben. Kinder verlieren ihre Eltern, weil die Liebe irgendwie verloren ging, wie ein Fünfcentstück, das unter den Küchenschrank rollt. Arbeitsplätze brechen weg; berufliche Chancen und familiäre Pläne stürzen in den Schlund der Krise.

Manche unter uns würden so gern befreit tanzen und lachen, so wie Mirjam nach dem Zug der Israeliten durch das Schilfmeer – Sie wissen schon. Doch das Aber wiegt bleiern schwer. Je mehr wir uns auf unsere Lasten konzentrieren, desto weniger sind wir zu Dankbarkeit und Freude fähig.  Doch dann begegnet es uns: das Bild des Hirten, der niemanden verloren gibt. Jesus Christus ruft uns. Er weiß um unsere Narben. Er kennt unsere Verluste. Jesus Christus erzählt uns von den verlorenen Schafen. Im Antlitz unseres Mitmenschen begegnen wir dem lebendigen Gott. Er sagt es Dir und mir: Du darfst Dich nicht verloren geben! Erinnere Dich! Gott gibt Dich niemals verloren.

Ihre Gemeinde erinnert in der Festschrift zum hundertsten Geburtstag daran, dass unsere Kirche immer wieder den Ruf des Hirten überhört. Doch er gibt uns nicht auf. Der Jugendstilkirchsaal lädt uns ein, ein Fest zu feiern. Der Grund dafür ist einfach und plausibel. Es ist die Freude über das Wiederfinden des Verlorenen!

Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele.

Amen.