Predigt zum Abschluss des Mendelssohnfestes im Berliner Dom

Wolfgang Huber

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

I.

Vor einigen Wochen, am Abend der Begegnung des Deutschen Evangelischen Kirchentages, ging ich mit meiner Frau durch die Bremer Wallanlagen. Dort hatten sich Gruppen eingefunden, die sangen und spielten: Gospel, Rock, Calypso, alle paar Meter etwas neues. Kirchentag eben.

Doch plötzlich wehten von einer Wiese vertraute Klänge zu uns herüber, die wir zumindest in diesem Umfeld nicht erwartet hatten: Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen . . . Ein Chor sang diese Worte aus dem 91. Psalm in der Vertonung von Felix Mendelssohn, dieses wunderbare Werk, diesen „Klassiker“ unserer Kirchenmusik, der schon fast in kanonischem Rang steht aufgrund seiner immer wiederkehrenden Verwendung bei Taufen und Trauungen, oder auch als heiß ersehnte Zugabe bei Chorkonzerten. Aber manchmal begegnet einem die Musik von Felix Mendelssohn ganz unverhofft, zum Beispiel in den Bremer Wallanlagen.

Oder vor einer Woche in Langen bei Neuruppin. Ein Gottesdienst am Samstag Nachmittag. Rustikal mit Orgel und Posaunenchor. Nach dem Gottesdienst locken Kaffee und Kuchen ins benachbarte Gutshaus. Doch kaum haben wir die Kirche verlassen, erheben sich die Töne wieder in die Luft, von einem ad-hoc-Chor, der sich zu einem Probenwochenende zusammengefunden hatte, im Freien gesungen. Und das Herz wurde weit.

Das wohl berühmteste geistliche Werk Mendelssohns - viele von Ihnen werden es im Ohr haben – beginnt wie aus dem Nichts: Schwebend entfaltet sich ein G-Dur-Akkord im Frauenchor, dann antwortet ein Männerchor und schließlich vereinen sich beide Gruppen in einem wunderbaren, gefühlvollen achtstimmigen Satz. Mendelssohn hat einige solcher Klassiker der Kirchenmusik geschrieben, zum Beispiel die berühmte Vertonung des 100. Psalms „Jauchzet dem Herrn alle Welt“, der liebevoll-respektlos in manchen Chören der „Hunni“ genannt wird. Oder die großen Oratorien „Paulus“ und „Elias“, die beide im Rahmen unseres Berliner Mendelssohnfestes hier im Dom erklungen sind, oder die wunderbare Hymne „Hör mein Bitten“, die wir eben hören durften.

II.

Dazu gesellt sich an diesem Abend ein anderer großer Klassiker: das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der jüngere von zwei Söhnen fordert vom Vater sein Erbteil, geht in die Fremde, bringt alles in Saus und Braus durch, endet schließlich als Schweinehirte, der zu verhungern droht, weil sein harter Herr ihm verbietet, vom Schweinefutter zu essen. Also kehrt er um, wandert zurück zum Vater und erfährt eine Auferstehung erster Klasse: Schon von weitem kommt ihm der Vater entgegengelaufen und fällt ihm um den Hals. Er küsst ihn, lässt ihm prächtige Gewänder bringen, lässt ein Kalb schlachten und frohlockt über den verlorenen und jetzt wiedergefundenen Sohn: Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.

Eine Erzählung der Gnade, der puren Gnade. Dieses Gleichnis gehört zu den wichtigsten Geschichten des Neuen Testamentes, in denen die große Grundwahrheit des christlichen Glaubens aufleuchtet, die Rechtfertigung allein aus Gnade. Diese bahnbrechende Erkenntnis, die in der Kirchengeschichte erst bei Paulus, dann bei Augustin und besonders bei den Reformatoren Martin Luther und Johannes Calvin im Zentrum steht und begrifflich fassbar wird, ist nicht umsonst der Artikel, mit dem unsere evangelische Kirche steht und fällt. Kurz gefasst: Was ich auch tue, ich kann auf Gnade hoffen, ich bin geliebt, weil ich geschaffen bin von Gott, der mich liebt und zu dem ich nach jedem Irrweg wieder kommen darf.

III.

In diesem Gleichnis bündelt sich der große Wärmestrom des Evangeliums. Mendelssohns Musik passt gut zu ihm; denn sie ist selbst ein Teil davon. Manche haben das an der Musik Mendelssohns kritisiert. Sie sei „zu schön, um wahr zu sein“, behaupten sie dann. Ihr fehle das Abgründige, das Gebrochene, eine Qualität, die sich zum Beispiel bei Beethovens späten Streichquartetten oder in Bruckners Sinfonien finden lasse. Zwar hinkt der Vergleich zwischen ästhetischen und theologischen Kategorien. Trotzdem wage ich ihn und sage: Für eine solche Betrachtungsweise enthält Mendelssohns Musik nur Evangelium und nicht, oder zumindest nur in Spurenelementen, Gesetz. Oder anders ausgedrückt: Mendelssohn will uns mit seiner Kunst lieber nahebringen, dass Gott seine Engel über uns befohlen hat und wir keine Angst vor Steinen haben sollen, an denen wir uns stoßen könnten, als dass er in seiner Musik die Pforten der Hölle und der Angst aufgehen lässt.

Von einem freilich kann man bei einer solchen Betrachtungsweise nicht absehen: Im Falle Mendelssohns führte ein direkter Weg von jenen kritischen Empfindungen gegenüber seiner Musik zu der dunklen Zeit des Nationalsozialismus, in der die Aufführung seiner Werke verfemt und sogar verboten war. Das war in erster Linie dem furchtbaren, abstrusen Rassismus der Nazis geschuldet. Aber ich kann die Augen nicht davor verschließen, dass ein latenter oder offenkundiger Antisemitismus schon manches Urteil über den genialen Mendelssohn auch schon vor 1933 geprägt hat. Und auch nach 1945 ist die Rezeption der Musik Mendelssohns nur mühsam vorangeschritten. In meiner eigenen Jugend – ich beklage das bis heute – hatte Mendelssohn keineswegs den Rang, der ihm gebührte, weder im Musikunterricht der Schule, noch im Konzertprogramm unserer durchaus musikfreundlichen Stadt, noch in der Plattensammlung meiner Eltern. Bachs Matthäuspassion wurde gesungen; doch dass deren Wiederentdeckung als geistliches Oratorium Felix Mendelssohn-Bartholdy zu verdanken war, blieb im Dunkeln. Vorurteile aus einer Zeit, in der man sich nicht schämte, Ersatzmusiken für den Sommernachtstraum anzufertigen, lasten noch immer auf dem Werk des großen Künstlers, der vor 200 Jahren geboren wurde. Das Berliner Mendelssohnfest hat gemeinsam mit vielen anderen Bemühungen sehr viel in die andere Richtung geleistet; dieses Jubiläumsjahr hat viel bewirkt und kann noch viel bewirken.  Dafür gebührt allen, die solche Mühen auf sich genommen haben, ein großer Dank!

Trotzdem bleibt festzuhalten, dass Mendelssohn ein verlorener Sohn unserer Kultur und unserer Kirche war. Verloren allerdings überhaupt nicht wie der verlorene Sohn der Bibel. Denn anders als jener wollte Mendelssohn in keiner Weise ausbrechen und ganz woanders hin. Sondern die Familie wollte dazugehören, nahm den christlichen Namen Bartholdy an, Felix wurde getauft. Ein verlorener Sohn war Mendelssohn höchstens, weil es Zeiten gab, und ihre Folgen sind noch immer zu spüren, in denen Deutschland, die deutsche Kultur und auch unsere Kirche Mendelssohn verloren gaben. In Wahrheit gaben sie sich damit selbst verloren; durch Menschenverachtung traten sie das eigene kulturelle Erbe mit Füßen. Nun ist es eher so, dass viele verlorene Söhne und Töchter wieder zu Mendelssohn und seiner Musik zurückfinden durften und noch dürfen. Tief bewegende Gottesdienste habe ich in diesem Jahr erlebt, die ganz von Mendelssohns Musik bestimmt waren, auch von gänzlich unbekannten geistlichen Stücken. Als wie oberflächlich erweist sich dann das Urteil: „zu schön, um wahr zu sein“. Auch dieser Gottesdienst hilft uns dabei, solche ungehobenen Schätze neu zu entdecken.

IV.

Ja, Mendelssohns geistliche Musik hilft uns dabei, Gottes Gnade zu preisen und sein Güte zu besingen. Sie nimmt den Triumph der Gnade auf, von dem Jesus in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt. Doch dieses Gleichnis hat noch einen zweiten Teil. Er berichtet vom älteren Sohn, der zu Hause blieb, seine Arbeit auf dem elterlichen Gut verrichtete und nun erleben muss, wie der Vater sich gar nicht wieder beruhigen kann vor Freude über den jüngeren, der überraschend wieder nach Hause kommt.

Die Empörung des älteren Sohns ist vollkommen nachvollziehbar. Ihm, der alle elterlichen Erwartungen erfüllt hatte, wurde nie ein vergleichbares Fest ausgerichtet. Aber die Wiederkehr dessen, der gegen alle Konventionen verstoßen hatte,  kann nicht festlich genug begangen werden. Der Vater hält dem entgegen: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Der ältere Sohn soll es offenbar bereits als ein Fest ansehen, dass er immer bei seinem Vater sein darf – unbeschadet all der Arbeit, die damit verbunden ist. Er soll die Rückkehr des Bruders wichtiger nehmen als seinen Wunsch, gelegentlich mit seinen Freunden in ausgelassener Weise zusammen zu sein. Doch sollte ein Erzähler, der so viel menschliches Fingerspitzengefühl zeigt, für seine Enttäuschung keinen Sinn haben?

Jesus, der Gleichniserzähler, hatte ohne Zweifel ein solches Gespür für die Realität. Er wusste, dass die Erwartung des Vaters an den älteren Sohn über das Normalmaß weit hinausgeht. Aber es ist auch etwas ganz Anderes gemeint, wenn der Vater zu seinem älteren Sohn sagt: Du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Ein Mensch, der sich der ungebrochenen Nähe Gottes erfreuen kann, hat alles, was er braucht. Ein Mensch, der aus der Gegenwart Gottes lebt, kann sich an dem freuen, was Gott anderen zu Gute kommen lässt. Für ihn ist die Rückkehr eines Menschen in die Geborgenheit bei Gott eine Wiedergeburt: ein Übergang vom Tod zum Leben. Deshalb gilt auch für den älteren Sohn, dass jetzt Freude angesagt ist. Die Freude gilt nicht nur der Rückkehr des Bruders, sondern mehr noch dem Blick, mit dem der Vater ihm entgegengeht: dem Blick der Barmherzigkeit.

Doch dieser Blick ist schwer. Martin Luther stellt das in seinen 95 Thesen in unüberbietbarer Weise heraus. Zunächst hebt er hervor: Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Doch dann fügt er hinzu: Dieser (Schatz) ist aber natürlich sehr verhasst, weil er aus den Ersten die Letzten macht. Wie wahr!

Und dennoch: Je weniger wir dem Kern des Evangeliums ausweichen, sondern ihn für unser Leben fruchtbar machen, umso besser. Denn die Begegnung mit Gottes ungeschuldeter Güte verleiht uns Menschen die Kraft, dass wir zu unserem bruchstückhaften Leben Ja sagen. Denn, so hat Fulbert Steffensky einmal gesagt: Gott ist unsere Ganzheit, nicht wir selber.

Diese befreiende, wenn auch unbequeme Wahrheit müssen gerade wir älteren Söhne und Töchter uns immer wieder sagen lassen. Warum nicht auch immer wieder mit der freundlichen, hellen, gütigen Musik des Felix Mendelssohn, die uns wieder und wieder versichern will: Gott ist bei Dir in allen Höhen und Tiefen des Lebens; denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie Dich behüten auf allen Deinen Wegen und Du Deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.

Amen.