Predigt im Festgottesdienst in der Dorf- und Kronkirche Nudow (Lukas 15,11-32)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.

I.

Renovieren ist besser als Resignieren! Unter diesen Titel könnte die beglückende Geschichte gestellt werden, wie der Mut zur Zukunft die 431-Seelen-Gemeinde Nudow packte. Und es ist eine gute Parole für unsere ganze Kirche. Wenn wir die Sorgen hinter uns lassen und mit Zuversicht das anpacken, was uns zu tun möglich ist, entsprechen wir der Verheißung des Evangeliums. Wir vertrauen auf Gottes Segen wie die Lilien auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel. Wir tun, was uns möglich ist, und wissen dabei, dass auch künftigen Generationen noch genug zu tun bleibt. Wir setzen unser Vertrauen auf Gott und erneuern, statt zu verzagen.

Der Einsatz für die Nudower Dorfkirche ist ein Beispiel dafür. Er hat Menschen neu zusammengeführt; längst verloren Gegangenes taucht wieder auf. Sie haben der Gleichgültigkeit und dem Grauschleier die Kraft des Evangeliums entgegengehalten. Beharrlich, entschieden und visionär handelten Sie in Nudow. Nur deshalb überragt der Kirchturm noch heute die Dächer der Nudower Häuser. Die dringend notwendige Hausschwamm- und Holzbock-Sanierung des Dachstuhls ist abgeschlossen. Die Neueindeckung des Daches konnte bereits durchgeführt werden. Auch die Sanierung des Außenputzes mit abschließendem Farbanstrich gelang.

Welche Freude, dass Ihre Majestät, König Friedrich Wilhelm I., sich gemeinsam mit der Gemahlin, Ihrer Majestät Königin Sophie Dorothea heute die Ehre geben. Als Prediger des Evangeliums kann ich versichern, dass jeder Taler, den Sie aus ihrer Privatschatulle zum Erhalt des Gotteshauses einsetzen, gut angelegt ist. Die Nachbargemeinden Ahrensdorf, Gröben und Siethen haben ebenfalls geholfen. Auch der Kirchenkreis Zossen fördert die Sanierung der Kirche, denn mit Verlaub, Ihre Majestät sind leider allzu selten in der Gegend. Die Nudower haben sich emanzipiert und ihre eigenen Kräfte neu schätzen gelernt: Renovieren ist besser als Resignieren!

Liebe Festgemeinde, gern grüße ich Sie für unsere ganze Kirche. Seien Sie sicher, dass sich heute die gesamte Landeskirche in besonderer Weise mit ihnen in Nudow freut. Rechtzeitig zum 650. Geburtstag hat sich Nudow in einer Weise aufgeputzt, dass einem schon der Unterkiefer herunterklappen kann. 650 Jahre Nudow und 275 Jahre Dorf- und Kronkirche – das kann nur mit einer Festwoche begangen werden. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass gleich drei Ausstellungen im Gemeindehaus, in der Kirche und im Gasthof Einblicke in die Ortsgeschichte geben. Vergessene und beinahe verloren gegangene Erzählungen und Ereignisse können in der Festwoche wiederentdeckt werden.

II.

Doch wo sollten wir beginnen, wenn wir von Nudow erzählen wollen? Wie kriegen wir den Anfang zu fassen? Lassen Sie uns einen Anfang im Licht des Evangeliums wagen: Jesus erzählt ein Gleichnis. Indem er erzählt, verändert sich das Leben der Zuhörerschaft. Wir haben die unter die Haut gehende Geschichte als Sonntagsevangelium gehört. Sie hat immer wieder eine ungeheure Wirkung entfaltet. Das Geschehen ist drastisch; und es hat zugleich eine ungeheure Folgerichtigkeit. Es ist überraschend; aber wer sich einmal hineinversetzt hat, kann die Geschichte nicht mehr vergessen. Wer wäre als Vater nicht gern von solcher Großzügigkeit, aber wir bleiben alle dahinter zurück. Am Beispiel des Vaters stellt Jesus uns die liebende Zuwendung Gottes zu dem verlorenen Menschen vor Augen.

Der Vater steht im Zentrum des Gleichnisses. Gemessen an seiner Rolle braucht man sich nicht lange mit der Frage aufzuhalten, ob das Gleichnis von dem verlorenen Sohn oder den verlorenen Söhnen handelt. Es handelt vom Erbarmen des Vaters, das dem jüngeren Sohn ebenso gilt wie dem älteren.

Die Söhne allerdings verhalten sich denkbar unterschiedlich. Der jüngere Sohn fordert sein Erbteil ein, macht es zu Geld und zieht in ein fernes Land. Das Erbe ist bald aufgebraucht; er gerät in Armut. Bei der Suche nach Arbeit bringt er es nur zum Schweinehüter; wovon er seinen Hunger stillen soll, interessiert niemanden. In dieser Notlage erinnert er sich an seinen Vater und an die Tagelöhner, die dieser beschäftigt. Er nimmt sich vor, zu seinem Vater zurückzukehren, seine Schuld zu bekennen, auf den Sohnestitel zu verzichten und sich bei seinem Vater als Tagelöhner zu verdingen.

Doch der Vater sieht ihn schon von weither kommen, hat Erbarmen mit ihm und eilt ihm entgegen. Er fällt dem verloren geglaubten Sohn um den Hals und küsst ihn. Auf das Schuldbekenntnis reagiert er nicht mit Worten, sondern mit einer Handlung: Er lässt seinen Sohn festlich kleiden und alles für ein Festmahl vorbereiten. Für dieses Fest gibt es einen klaren Grund: „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden worden“ (Lukas 15,24). Der Vater beschreibt einen Vorgang, mit dem er sich voll und ganz identifiziert. Er nimmt die Rückkehr des Sohnes ganz anders wahr, als dieser sie selbst gedeutet hatte. Er hält sich nicht damit auf, dass der Sohn durch die Schuld, die er auf sich geladen hat, den Sohnestitel verwirkt hat; er sieht in seiner Rückkehr vielmehr eine Wende vom Tod zum Leben, vom Verlieren zum Finden. Diese Wahrnehmung verändert alles; deshalb wird ein Fest gefeiert.

Kann man sich darüber wundern, dass der ältere Bruder dem nicht folgen kann? Man muss ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Bei der Heimkehr von der Arbeit findet er zu Hause ein rauschendes Fest vor. Auf Nachfrage erfährt er,  dass Saus und Braus zum Willkommen für den missratenen jüngeren Bruder veranstaltet werden. Auf den Versuch des Vaters, ihn zu begütigen, reagiert er mit berechtigten Vorhaltungen. Ihm, der alle elterlichen Erwartungen erfüllt hatte, wurde nie ein vergleichbares Fest ausgerichtet. Aber die Wiederkehr dessen, der gegen alle Konventionen verstoßen hatte,  kann nicht festlich genug begangen werden. Der Vater hält dem entgegen: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden“ (Lukas 15,31f).

Man mag einwenden, dass der ältere Bruder durch die Erwartungen überfordert ist, die aus diesen Worten sprechen. Er soll es offenbar bereits als ein Fest ansehen, dass er immer bei seinem Vater sein darf – unbeschadet all der Arbeit, die damit verbunden ist. Er soll die Rückkehr des Bruders wichtiger nehmen als seinen Wunsch, gelegentlich mit seinen Freunden in ausgelassener Weise zusammen zu sein. Sollte ein Erzähler, der so viel menschliches Fingerspitzengefühl zeigt, dafür keinen Sinn haben?

Jesus, der Gleichniserzähler, hatte ohne Zweifel ein solches Gespür für die Realität. Er wusste, dass die Erwartung des Vaters an den älteren Sohn über das Normalmaß weit hinausgeht. Aber es ist auch etwas ganz Anderes gemeint, wenn der Vater zu seinem älteren Sohn sagt: „Du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.“ Ein Mensch, der sich der ungebrochenen Nähe Gottes erfreuen kann, hat alles, was er braucht. Ein Mensch, der aus der Gegenwart Gottes lebt, kann sich an dem freuen, was Gott anderen zu Gute kommen lässt. Wer aus der Freude der Zugehörigkeit zu Gott lebt, freut sich darüber, dass das Verlorene gefunden wird. Für ihn ist die Rückkehr eines Menschen in die Geborgenheit bei Gott eine Wiedergeburt: ein Übergang vom Tod zum Leben. Deshalb gilt auch für den älteren Sohn, dass jetzt Freude angesagt ist. Die Freude gilt nicht nur der Rückkehr des Bruders, sondern mehr noch dem Blick, mit dem der Vater ihm entgegengeht: dem Blick der Barmherzigkeit.

III.

Wer sich auf diesen Blick einlässt, dem steigt die Freude über das Zurückgewinnen des Verlorenen ins Herz und überflutet den Verstand. Wir gewinnen einen neuen Blick auf unser Leben. Auch für das Leben in Nudow und den Dörfern der Umgebung. Die meisten Bewohner der Dörfer pendeln nach Berlin und Potsdam. Die Männer übernehmen mehr Verantwortung für Haushalt und Familie; lang genug hat es gedauert. Die Frauen haben schon vor bald hundert Jahren das Wahlrecht erstritten und sind immer stärker in die selbständige Verantwortung für das gemeinsame Leben eingetreten. Das ist gut so; nicht immer haben wir Männer es ihnen auf diesem Weg leicht gemacht. Nun stehen Frauen und Männer auf Augenhöhe. Die Kinder schauen sich das an und halten diesen Zustand für normal. Und die Älteren freuen sich im besten Fall mit den Jüngeren über die Freiheit der Frauen und über die Verantwortungsbereitschaft der Männer. Und wenn sie ganz aufmerksam sind, sehen sie darin einen Widerschein der Gnade Gottes. Denn auch in diesem Fall gilt: Die einen sind so wichtig wie die anderen; wer die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel der Güte Gottes anschaut, freut sich an allem, was gelingt, und möchte, dass es allen gemeinsam zu Gute kommt.

Überraschendes Gelingen ist auch das große Thema dieses Jahres 2009. Wir feiern zwanzig Jahre friedliche Revolution. Wir erinnern uns, wie alles in Gang kam. Und einzelne Szenen bleiben unvergesslich. Als die Volkspolizei im Herbst 1989 in Leipzig eine Demonstration auflösen wollte, ertönte über einen Lautsprecherwagen die dröhnende Ansage: „Hier spricht die Volkspolizei!“ Aus der Mitte der friedlichen Demonstranten kam eine unerwartete Antwort, gerufen von einer Stimme: „Und wir sind das Volk!“ – dann aufgenommen von den umstehenden und schließlich vielstimmig: „Wir sind das Volk.“

Auch eine Rückkehr. Anders als der verlorene Sohn. Aber doch eine Rückkehr in eine Freiheit, die ganz verloren schien. Wir sollten nie wieder vergessen, was uns da geschenkt wurde. Wir brauchen Orte, in denen die Erinnerung an diesen Neubeginn Raum behält und die Dankbarkeit laut werden kann. Zum Beispiel diese Kirche. In ihrer Schlichtheit lenkt sie die Gedanken auf das Wesentliche. Ich stehe auf festem Boden, weiß mich geborgen und spüre Gottes Schutz. Hier kann ich meine Stimme erheben und mit Frohlocken und Jauchzen vom Glück der Freiheit singen. Wie ein aus der Fremde heimgekehrter Sohn, so stehe ich dankbar und frei in der Kirche.

Immer wieder ist dieses Lied der Freiheit laut geworden. Als die Israeliten dem Heer des Pharao entkommen waren, unbeschadet die gefährliche Passage durch die Wasserfluten bestanden und das rettende Ufer des Schilfmeeres erklommen – da schlug Mirjam, die Schwester des Mose, den Rhythmus der Freiheit mit ihrer Pauke. Sie tanzte vor Freude und die Geretteten stimmten in das Lied der Freiheit ein.

Manche unter uns würden so gern befreit tanzen und lachen, so wie Mirjam – Sie wissen schon. Doch das Aber wiegt bleiern schwer. Das Leben gelingt nicht, weil die große Liebe meines Leben unerwidert bleibt. Kinder trennen sich von ihren Eltern, weil die gemeinsame Sprache verloren ging; und keiner weiß, wie sie wieder zu finden ist. Der Arbeitsplatz ging zur Unzeit verloren; oder die Rente kam. Und erst jetzt zeigt sich, dass der ganze Sinn des Lebens mit der Arbeit verbunden war. Die aufgezwungene Tatenlosigkeit lähmt; bleierne Schwere liegt über den Tagen.

Je mehr wir uns auf unsere Lasten konzentrieren, desto weniger sind wir zu Dankbarkeit und Freude fähig. Jesus Christus ruft uns. Er weiß um unsere Narben. Er kennt unsere Verluste. Jesus Christus erzählt uns vom verlorenen Sohn und legt uns dessen Heimkehr ans Herz. Wenn sogar ihm die Umkehr gelang, wie viel eher uns! So tief wie er sind wir doch gar nicht gesunken. Er sagt es Dir und mir: Du darfst Dich nicht verloren geben! Erinnere Dich! Christus wird Dich niemals verloren geben. Und wenn wir die Zuversicht wieder gewonnen haben, die der verlorene Sohn beim Vater findet, dann wollen wir nicht allein bleiben. An dem Glück der neuen Zuversicht sollen sich auch andere freuen. Wir wollen dieses Glück mit ihnen teilen. Jedes Fest, das wir feiern, enthält die Chance für einen Neubeginn, für ein Aufeinanderzugehen und für die Heimkehr aus der Fremde. In jedem Fest feiern wir, dass Verlorene sich wieder finden. Und in der Nähe Gottes im Glück sind.

Amen.