Predigt in der Frauenkirche zu Dresden (Lukas 5,1-11)

Wolfgang Huber

I.

Liebe Gemeinde, nachdenklich führt uns dieser Sonntagmorgen hier in Dresden zusammen. Gestern hat hier eine große Menschenmenge von der Ägypterin Marwa al-Scharbini Abschied genommen, die in einer unbegreiflichen Mordtat in einem Gerichtssaal ums Leben gebracht wurde. Erschreckend und unbegreiflich ist dieser Mord an einer jungen schwangeren Frau; erschreckend und unbegreiflich ist er auch ganz unabhängig von den Motiven, die noch ans Tageslicht kommen werden.

Der Täter hat das Opfer bereits vor Jahresfrist auf einem Spielplatz mit fremdenfeindlichen und antiislamischen Beleidigungen attackiert, so hören wir inzwischen. Fremdenhass und Religionskonflikte zeigen hier ihr erschreckendes Antlitz. Aber aus welchen vermeintlichen Motiven auch immer geschah, was gestern hier in Dresden betrauert wurde – jeder Angriff auf ein menschliches Leben ist in gleicher Weise zu verurteilen: Leben und Würde des Menschen sind unantastbar – unabhängig davon, woher er kommt und wohin er geht, woran er glaubt und worauf er hofft. Ich bin erschüttert über diese Mordtat und versichere die Hinterbliebenen meines aufrichtigen Mitgefühls.

Dass menschliches Leben unverletzlich und die gleiche Würde jedes Menschen unantastbar ist, tritt uns zu oft am Gegenbild vor Augen: an der Verachtung eines anderen Menschen, ja sogar der Bereitschaft, ihm nach dem Leben zu trachten. Klischees und Stereotypen über andere Menschen sind nach wie vor verbreitet, aller Aufklärung und aller vermeintlich wissenschaftlichen Weltanschauung zum Trotz. So massiv können Vorurteile offenbar werden, dass Menschen sogar das elementarste Gebot übertreten, das uns überhaupt gegeben ist: Du sollst nicht töten.

II.

Es sind außergewöhnliche Gedanken, die uns an diesem Sonntagmorgen hier in Dresden beschäftigen. Sie stoßen mit einer biblischen Erzählung zusammen, die zunächst gar nichts Außergewöhnliches, sondern etwas ganz Alltägliches zum Thema hat: Menschen bei ihrer täglichen Arbeit. Fischer sind es, in unserer Gegend mehr eine Freizeit- als eine Berufstätigkeit. Und wo die Fischerei beruflich betrieben wird, geht es heute anders zu als seinerzeit am See Genezareth. Da sind Fangflotten unterwegs und nicht einzelne Fischerboote; da wird nicht mehr mit handgemachten und handgeflickten Netzen gearbeitet. Aber alltägliche Arbeit ist es auch heute für diejenigen, die in diesem Wirtschaftszweig tätig sind.

Ein Werktag am See Genezareth. Ein Tag, an dem es heißt, nach der Arbeit der Nacht – in diesem Fall auch noch nach der vergeblichen Arbeit der Nacht – am nächsten Morgen die Netze zu flicken und zu reinigen. Alltag eines Fischers: Hinausfahren, Netze auswerfen, den Fang einholen, an Land zurückkehren, den Fisch verkaufen, die Netze reinigen und flicken, ausruhen und wieder hinausfahren, Netze auswerfen und so weiter. Alltag mit einem beständigen Auf und Ab, je nachdem, ob der Ertrag der Arbeit die Familie ernähren kann oder eben nicht.

Ein Alltag voller Routine und Selbstverständlichkeit, ein Alltag mit wenig Unterbrechungen. Das tägliche Treiben und Tun, die Tage aufgefädelt wie Perlen an einer Kette. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat, mag den Fischern durch den Kopf geben, wie sie da sitzen und ihre Netze flicken.

Dass Jesus in dieser Situation auftaucht, lässt nicht nur die Netze reißen, es reißt den Alltag auf, den Himmel auf, das Leben auf. Plötzlich wird etwas ganz Anderes möglich, der Tag bekommt eine neue Perspektive, er erhält eine neue Farbe. Das, was im Alltag undenkbar war, ist nun denkbar, was im Alltag unmöglich war, wird möglich, was bei den Menschen unmöglich ist, das ist möglich bei Gott.

Der Tag, an dem das geschieht, was der Evangelist Lukas berichtet, wird zum Tag des Herrn. Das Gesetz des Alltags wird durchbrochen. Wo einer wie Simon auf das zugeht, was im Trott des Alltags untergehen würde, und den besonderen Raum, die besondere Zeit erkennt und nutzt, öffnet sich das Leben für die ganz anderen Möglichkeiten Gottes. Wenn Menschen sich für solche Begegnungen öffnen, wird Sonntag: der Tag der Auferstehung Jesu, der erste Tag der Woche.

Woran hat Simon, den die Christenheit inzwischen nur noch Petrus nennt, denn erkannt, dass dieser Mann sein Leben verändern würde, woran hat er erkannt, dass der Tag, an dem ihm dieser Mann begegnet, zum Tag des Herrn wird? In der Abfolge der Berichte im Lukasevangelium war er Jesus nie zuvor begegnet. Doch irgendwie hatte er auf ihn gewartet; er hielt es immerhin für eine Möglichkeit, dass der Alltag unterbrochen werden könnte. Er hatte den Blick nicht dafür verloren, dass es Zeiten und Stunden geben kann und muss, in denen sich ganz anderes ereignet als im Einerlei und Gleicherlei des Alltags.

Deshalb kann er auf die unmögliche Aufforderung so reagieren, wie er es tut: „Auf dein Wort, Herr, will ich die Netze auswerfen.“ „Unsinnig, überflüssig, durchgeknallt!“ werden andere gedacht und gesagt haben. Wen der Alltag gefangen hält, für wen es keine Unterbrechungen des Alltags gibt, für den macht es keinen Sinn, nach dem Ausschau zu halten, was über das Naheliegende hinaus dem Leben Farbe, Ziel und Rettung schenken könnte.

Die ganze Tiefe dieses Tages im Leben des Simon Petrus erschöpft sich dabei allerdings nicht in der beglückenden Erfahrung des Wunders, in der Freude über berstende Netze und unerwartet frohe Nachrichten für seine Frau und die Kinder. Die Tiefe liegt auch im Erschrecken: Der Herr hat mein Leben durchkreuzt, er hat sich gezeigt, hat mich gerufen, mir für mein Leben eine neue Richtung gegeben. Erschrecken löst das aus, weil er diesen Moment auch hätte verpassen können. Erschrecken, weil es nicht wie an so vielen anderen Tagen und in so vielen anderen Situationen unerheblich ist, wie man reagiert. Es kommt alles darauf an, ob man den Augenblick ergreift, die Herausforderung annimmt, der Begegnung standhält.

Erschrecken und Freude. Hätte Simon sich nicht ansprechen lassen, dann wäre es nicht passiert; hätte er sich nicht auf den Tag des Herrn eingelassen, dann wäre Gott nicht in sein Leben getreten. Das kann einem an jedem Tag widerfahren, so lehrt uns die Erzählung von den Fischern am See Genezareth. Aber es steckt eine tiefe Weisheit darin, dass uns ein bestimmter Tag in der Woche eigens für solche Begegnungen öffnet: für Erschrecken und Freude, dafür, dass Gott mein Leben durchkreuzt und ihm eine neue Richtung gibt. Wir brauchen Zeiten, in denen wir uns von Gott ansprechen lassen. Wir brauchen einen Tag des Herrn.

So ist der Sonntag. Finden Sie diese Beschreibung übertrieben?

III.

Der Samstag hat einer Studie des Würzburger Theologen Guido Fuchs zufolge den Sonntag als Höhepunkt der Woche abgelöst. „Der Sonntag ist der Tag, an dem man sich ausruht, auf der Heimfahrt im Stau steht oder – als Alleinstehender – depressiv wird“, erklärt dieser katholische Autor. Die Kirchen, so findet er, müssten dem veränderten Freizeitverhalten mit ihren Angeboten Rechnung tragen, sie stünden vor der Herausforderung, sich für eine neue Zeiteinteilung zu öffnen, „wenn sie verhindern wollen, dass ein Gottesdienstbesuch demnächst als kulturelle Verhaltensanomalie betrachtet wird“, meint Guido Fuchs. „Verhaltensanomalie“ – ein verquaster Ausdruck dafür, dass jemand entweder verrückt oder kriminell ist.

So schnell kann das gehen. So schnell kann man das, was für Generationen, ja für ganze Zeitalter ein verbindlicher Lebensrhythmus war, zur Anomalie erklären. Nur ob sich die Wirklichkeit dieser Erklärung anpasst, bleibt fraglich. Ist nicht eher die pausenlose Gottlosigkeit – im eigentlichen Sinne des Wortes – die Anomalie?

Noch vor gar nicht so langer Zeit – jedenfalls bis in die achtziger Jahre – machten viele Geschäftsleute in der Mittagspause die Ladentür zu und nahmen die Arbeit nach zwei Stunden Unterbrechung um zwei Uhr oder um halb drei wieder auf. Am Mittwochnachmittag war bei vielen generell geschlossen. Dass am Samstag nur bis mittags eingekauft werden konnte, liegt noch keine zwanzig Jahre zurück. Egal ob Ost oder West, man hatte verlässliche Zeiten, in denen, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, niemand arbeiten, einkaufen oder einem Schnäppchen nachjagen musste. Freie Zeit, die der Familie gehörte, freie Zeit, die man gemeinsam gestalten konnte, freie Zeit, in der etwas anderes geschehen konnte, als in den wie auf eine Perlenschnur aufgereihten Tagen des Alltags.

Es ist paradox: Einerseits haben wir die regelmäßige Wochenarbeitszeit reduziert; doch zugleich ist die gemeinsame freie Zeit enorm geschrumpft.  Die Erosion der verlässlichen gemeinsamen Freizeit und der Familienzeit ist weit fortgeschritten. Wir setzen uns als Kirchen dafür ein, dass die Möglichkeiten zu einem gemeinsamen Ruhen von der Arbeit, einer gesellschaftlich verbindlichen Auszeit, einer gemeinsamen Zeit für den Gottesdienst, für das Beisammensein mit der Familie, für die Begegnung mit Freunden, für freiwillige Engagements erhalten bleibt.

Dass der pflegliche Umgang mit dem Sonntag allein der grassierenden Gottlosigkeit Einhalt gebieten könnte, will ich nicht behaupten. Doch ganz bestimmt zwingt ein gemeinsamer freier Tag in der Woche niemandem einen christlichen Lebensstil oder christliche Maßstäbe auf. Weit über die Grenzen des Christentums hinaus ist es in der Weisheit der Religionen verankert, dass der Mensch in Rhythmen und Zyklen lebt, dass der Wechsel von Hast und Rast zu einem gesunden und zufriedenen Leben dazu gehört, dass es einen gottgegebenen Ablauf gibt von Zeiten und Stunden, in die der Mensch sich zu seinem eigenen Wohl fügen sollte.

Und zudem soll aus christlicher Perspektive die Tür einen Spalt breit offen bleiben für Begegnungen und für die Begegnung mit dem, der das Leben durchkreuzt und in die Nachdenklichkeit ruft. Manchmal schürt er auch das Erschrecken darüber, wohin ich mich gerade in meinem eigenen Leben bewege, wo ich eigentlich stehe vor meinem Gott. Vor ihn bringe ich dann meine Ratlosigkeit einer Bluttat – in Dresden oder anderswo. Ihn frage ich nach den Abgründen menschlicher Bosheit, die keiner erklären kann und die sich vielleicht doch auch in mir selbst finden, und bitte ihn um Vergebung. Ich bitte ihn dann, dass sich Menschen auf den Weg aufmachen, gegen allen Augenschein, um Menschenfischer zu werden und Gottes Güte unter die Leute zu bringen.

Dann erlebe ich die Fülle von Gnade und Wahrheit, wenn ich mich auf ihn einlasse, auf seinen Tag und auf sein Wort. Er schenkt mir immer voll ein, bringt die Netze zum Reißen – er, der das Leben in Fülle verheißt und schenkt. Dann ist der Gottesdienst am Sonntag bestimmt keine Verhaltensanomalie, sondern Begegnungszeit, Möglichkeitsraum für scheinbar Unmögliches und Fest des Lebens.

Amen.