Predigt am Epiphanistag in St. Marien zu Berlin (Jesaja 12, 2)

06. Januar 2002

„In Gott ist meine Rettung, ihm will ich vertrauen und niemals verzagen.“

(Jesaja 12, 2)

„Hauptsache Gesundheit“, „viel Glück im Neuen Jahr“, „alles Gute“, ja vielleicht sogar: „ein gesegnetes neues Jahr“: so oder ähnlich hießen die Wünsche, die wir in den vergangenen Tagen ausgetauscht haben. Zaghafter schon kam der Wunsch, der uns nach den Erfahrungen der letzten Wochen eigentlich der dringlichste sein müsste: „ein friedliches, friedvolles neues Jahr“. Aber „Heil“, „Rettung“ – wer wünscht sich das schon? Ist ein solcher Wunsch nicht neben der Spur? Er setzt auf etwas, was wir uns nicht selber geben, was wir nicht selber machen können. Er macht das Gelingen des Lebens davon abhängig, dass ein anderer kommt, auf den wir setzen können. Der Epiphaniastag – der Tag der Erscheinung des Herrn – hat es ganz und gar mit diesem Kommen zu tun. Gott erscheint uns in Christus – ist es das, worauf wir warten? Ist es diese Erwartung, die wir mit anderen teilen wollen – in der weltweiten Partnerschaftsarbeit, die uns mit Christen und Kirchen in anderen Erdteilen verbindet? Was sind unsere Wünsche – für sie und für uns selbst?

1.

„Hauptsache Gesundheit“: sie wünschen wir uns vor allem, weil wir denken, die Medizin könne dafür doch besser sorgen als in früherer Zeit. „Viel Glück im Neuen Jahr“ sagen wir und denken: Jeder ist seines Glückes Schmied. „Alles Gute“ rufen wir und antworten: „Mal schaun, was sich tun lässt“. „Ein gesegnetes neues Jahr“ wünschen wir einander und kalkulieren, woran man den Segen denn wohl ablesen wird: an beruflichem Erfolg, den Aktienkursen oder anderen Wirtschaftsdaten.

Hinter all solchen Wünschen stecken ja auch wichtige Vorhaben und Projekte. Wenn es gelingt, Krankheiten einzudämmen, die bisher noch als unheilbar galten, wenn bei einem Freund, einer Freundin eine bedrohliche Krankheit dank der heutigen Diagnosemöglichkeiten rechtzeitig entdeckt und sogar behoben wird, dann erfüllt uns mit Dankbarkeit und wir sagen: „Hauptsache Gesundheit“. Wenn Menschen ihr Leben in die Hand nehmen, wenn junge Leute mit ihren Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten verantwortlich und zielstrebig umgehen, wenn das Miteinander in Ehe und Familie gelingt, dann sagen wir: „Welch ein Glück“ oder sogar: „Welch ein Segen“ und schauen stolz auf das, was wir als Menschen dazu beigetragen haben. Und so kritisch oder gar abschätzig wir auch über eine Gesellschaft reden, in der nur noch zählt, was sich rechnet, so dankbar sind wir doch, wenn auf dem Konto das erscheint, was uns Monat für Monat ein auskömmliches Leben möglich macht – sei es in D-Mark oder in Euro.

Aber wir spüren deutlicher als in manch anderem Jahr, dass uns all das beim Leben hilft, aber doch keinen tragfähigen Grund verschafft. Nach einem tragfähigen Grund halten wir Ausschau in einer Zeit, in der uns Gewalt und Terror an vielen Orten der Welt in Atem hält und die Frage nach dem rechten Handeln ratlos macht.

Erleichtert atmen wir auf, wenn in Afghanistan eine Schutztruppe unter der Verantwortung der UNO Einzug halten kann; und doch sind wir zugleich überhaupt noch nicht fertig mit dem, was vorausging: einem Krieg, der mit Streubomben unschuldige Menschenleben traf, mörderische Angriffe auf Dörfer, die, wie es dann hieß, nur aus Versehen getroffen wurden.

Ein Hoffnungsschimmer zeigt sich, wenn zwischen Israel und Palästina jetzt vielleicht doch Verhandlungen wieder als möglich erscheinen. Aber zugleich spüren wir alle, dass der Boden durch Hass und Misstrauen vergiftet ist, auf dem nun Frieden wachsen soll.

Die Staatspräsidenten von Indien und Pakistan reichen sich wieder die Hände – immerhin; aber miteinander geredet haben sie nicht; und zugleich starben siebzehn Menschen, weil sie an der Grenze zwischen Indien und Pakistan einen Lastwagen mit Sprengstoff und Landminen entluden. So explosiv ist die Lage – in einem erschreckend unmittelbaren Sinn des Wortes.

Und auch ein letztes Beispiel noch – eines, das uns am heutigen Tag und in diesem Gottesdienst besonders beschäftigt: Dankbar schauen wir auf alle Initiativen, die gerade im südlichen und östlichen Afrika, von Südafrika bis Tansania oder Sambia und wo auch immer sonst, der epidemieartigen Ausbreitung von AIDS entgegentreten; aber manchmal werden wir mutlos – ist es doch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein, zu dem wir fähig sind.

Worauf dürfen wir trauen inmitten derart zwiespältiger Gedanken? Was meint es wirklich, wenn wir einander ein gesegnetes neues Jahr wünschen? Reicht es am Ende vielleicht doch nicht, wenn wir unser Vertrauen nur auf uns selbst setzen, uns mit dem begnügen, was wir selbst zustande bringen?

2.

„Ja, Gott ist meine Rettung, ihm will ich vertrauen und niemals verzagen“. Die Jahreslosung für dieses Jahr 2002 fährt in solche Überlegungen mit einer Klarheit und Eindeutigkeit hinein, die uns erschrecken lässt. Verwundert reiben wir uns die Augen und fragen: Kann man noch so klar, so unzweideutig, so deutlich reden? Wer redet denn so?

Im Buch des Propheten Jesaja findet sich dieses Wort, in jener unvergleichlichen Sammlung prophetischer Zusagen und Richtungsangaben, die sich über Jahrhunderte unter dem einen Namen Jesaja in unserer Bibel angesammelt haben. Aus ganz unterschiedlichen Zeiten stammen diese Texte. Die Jahreslosung für dieses Jahr gehört einem Abschnitt an, den wir das „Danklied der Erlösten“ nennen. Die in das babylonische Exil entführten Glieder des Volkes Israel sind aus der Fremde zurückgekehrt, die Tür zur Heimat hat sich wieder geöffnet, die Wege zurück haben sich überraschend geebnet, das Unerwartete ist möglich geworden.

Und diese unmittelbare Erfahrung verbindet sich dann mit der Erinnerung an die große Glaubensüberlieferung des eigenen Volkes. Dankbar blickt der Prophet zurück auf die Befreiung aus der Sklaverei, auf den Weg aus Ägypten, auf Gottes Führung auf dem Weg ins gelobte Land.

Vor dem Brandenburger Tor versammelte sich am 14. September eine viertel Million Menschen zu einer Gedenkfeier für die Opfer des Terroranschlags vom 11. September. Zu Beginn sang ein Gospelchor: „Amazing Grace“, am Ende fügte er das gesungene „Vater unser“ hinzu. In einer weltlichen Trauerfeier dieses Lied: Amazing Grace. Die unvorstellbare Ktastrophe noch durch die Fernsehbilder des qualmenden World Trade Center vor Augen, sang der Chor von der „wunderbaren Gnade“ Gottes.

Dieselbe Tonlage hören wir im „Danklied der Erlösten“. Der Sänger dieses Liedes stimmt ein Lob an, obwohl er noch den Zorn Gottes spürt. Er kann es, weil er auf die wunderbare Führung Gottes in der Geschichte seines Volkes und auch im eigenen Leben zurückblicken kann. Daraus wächst die Gewissheit, dass auch die Zukunft in Gottes Händen liegen wird.

Rettung, hebräisch „Jeschuah“ ist das Schlüsselwort für diese Zuversicht. Heil ist dort, wo man sich auf den rettenden Gott verlässt. „Jeschuah“, Rettung: darauf geht nicht nur der Prophetenname Jesaja zurück. „Jeschuah“, Rettung: aus diesem Schlüsselwort der biblischen Botschaft leitet sich vor allem der Name „Jesus“ ab. Wenn wir ihn vor Augen haben, Gottes menschenzugewandte Seite, das Heil der Welt, brauchen wir uns vor dem Zorn Gottes nicht mehr zu fürchten. Wenn wir ihn vor Augen haben, den Friedensfürsten, steht uns das Heil vor Augen, das an den Zwiespältigkeiten unserer Welt nicht zerbricht. Wenn wir uns an ihn halten, das Kind in der Krippe, können wir in das Danklied der Erlösten einstimmen: „Ja, Gott ist meine Rettung – meine Jeschuah, mein Jesus - , ihm will ich vertrauen und niemals verzagen.“

3.

Aber das Danklied der Versöhnten anzustimmen, heißt auch immer um das Klagelied der Unversöhnten zu wissen. Die Freude nach überwundener Bedrückung zu zeigen, heißt auch: mit denen behutsam umzugehen und denen nahe zu sein, die gerade jetzt gebeugt und geknickt sind. Noch einmal denke ich an die Opfer von AIDS in Afrika. Auch mir selbst ist in Tansania am intensivsten bewusst geworden, wie AIDS menschliches Leben zerstört, Familien zerreißt, Kinder zu Waisen macht. Und noch immer steigt die Zahl der AIDS-Patienten und der AIDS-Waisen an. Noch immer fehlt es an der Bereitschaft, über die Ursachen und Übertragungswege zu sprechen und daraus auch in der persönlichen Lebensführung entschlossen Konsequenzen zu ziehen. Noch immer sind die großen Straßen im Süden des Landes, in dem wir unsere lutherische Partnerkirche vor vier Jahren besucht haben, Straßen des Elends durch AIDS. Umso größer ist meine Bewunderung für die, die sich nicht entmutigen lassen, sondern das Ihre tun, nach einem Wort des Grafen Zinzendorf für den heutigen Tag „nach Arbeit fragen, wo welche ist, nicht an dem Amt verzagen, uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen aufs Baugerüst“. Den christlichen Glauben bestimmt nicht der Geist der Resignation. Er setzt seine Zeichen nicht zurück, er setzt sie nach vorn.

„Ja, Gott ist meine Rettung“. Dieses Bekenntnis behält das letzte Wort. Deshalb dürfen wir den Glauben als Anleitung zum Glücklichsein verstehen und gebrauchen. Davon darf in diesem neuen Jahr ruhig mehr zu spüren und zu sehen sein, als wir gemeinhin zulassen. Traurigkeit ist keine geheiligte Form von Frömmigkeit. Gedämpftes Traurigsein ist nicht der Ton, der sich unter unseren Kirchendächern verselbständigen sollte. Die Fröhlichkeit des Glaubens können wir gerade von unseren afrikanischen Geschwistern lernen.

Sie versichern uns: Geborgen ist mein Leben in Gott. Mit ihm ist es versöhnt – so wie es geworden ist und noch werden wird. Warum sollten wir dann nicht aus vollem Herzen in die Jahreslosung einstimmen: „Ja Gott, ist meine Rettung. Ihm will ich vertrauen und niemals verzagen.“ Amen.