Predigt zum Hundertjährigen Jubiläum der Brandenburgischen Frauenhilfe in der Erlöserkirche Potsdam

11. Mai 2002

I.

„Die Liebesthätigkeit der evangelischen Frauen und Jungfrauen in den evangelischen Gemeinden der Provinz Brandenburg zu pflegen und zu organisieren, zur thätigen Antheilnahme ihrer Mitglieder an diesem Werke anzuregen sowie die Inangriffnahme neuer Aufgaben zu fördern“: Mit diesen Worten wird vor hundert Jahren, im Jahr 1902, die Aufgabe der Brandenburgischen Frauenhilfe beschrieben. Die Evangelische Frauen- und Familienarbeit „wird für Geschlechtergerechtigkeit eintreten und darauf bestehen, dass Menschen verschieden sind. Sie wird die unterschiedlichen Lebensformen würdigen und für deren Gleichstellung eintreten. Sie wird ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern und stärken. Sie wird traditionsbewusst sein, offen für alle Interessierten und immer grenzüberschreitend.“ So heißt es im Jahr 2002 von der Evangelischen Frauen- und Familienarbeit in Berlin-Brandenburg.

Zwei unterschiedliche Selbstbeschreibungen sind das; hundert Jahre liegen dazwischen. Zwischen Potsdam 1902 und Potsdam 2002 spannt sich der Bogen einer beeindruckenden, vielfach gesegneten Arbeit von Frauen und für Frauen, mit Frauen und doch auch über die Grenzen einer reinen Frauenbewegung hinaus. Immer hat die Frauenhilfe wie die Frauen- und Familienarbeit sich als unverwechselbarer Beitrag zum Gemeindeaufbau verstanden. Nüchtern und selbstbewusst wird dazu heute festgestellt: „Welche Gestalt die Kirche annimmt, wird entscheidend von denen abhängen, die Gemeinde aufbauen. Und dies sind in der großen Mehrheit Frauen.“

Potsdam ist von Anfang an die Heimstatt der Frauenhilfe. Hier wurden im Rhythmus von Vierteljahrhunderten die Jubiläen dieses wichtigen Arbeitsfeldes gefeiert. 1927 feierte man noch in der Garnisonkirche. Sechs Jahre vor dem „Tag von Potsdam“ stelle ich mir das als eine Art „friedlicher Kirchenbesetzung“ vor, die auch im Blick auf heutige Pläne für die Zukunft des Garnisonkirchturms als gutes Vorzeichen gelten kann. Später aber fanden die Festgottesdienste stets hier in der Erlöserkirche statt:1952 mit Bischof Dibelius und 1977 mit Bischof Schönherr. Gern stelle ich mich in diese Reihe; mit großer Freude bin ich heute in ihrer Mitte und bringe Ihnen die Grüße unserer Kirchenleitung. Vor allem will ich unterstreichen, wie mir selbst die Frauen- und Familienarbeit vom Beginn meiner Bischofszeit an nahegekommen ist und am Herzen liegt. Bei jedem Ihrer Jubiläen wurde unterstrichen, dass die Frauenhilfe, die heutige Frauen- und Familienarbeit, eine wichtige und notwendige Lebensform und Lebensäußerung unserer Kirche ist. Das bekräftige ich auch heute gern. Frauengruppen und Familienbildung, Müttergenesung und der Weltgebetstag der Frauen, Bildungsarbeit und das Eintreten für die Überwindung von Gewalt: in diesen und in vielen anderen Formen vollzieht sich der Beitrag der Frauenarbeit zum Gemeindeaufbau, nicht nur gestern, sondern auch heute und morgen.

Das begehen wir in einem Gottesdienst. Wir danken Gott für den bisherigen Weg und bitten um Gottes guten Geist auf neuen Wegen.

II.

Konzentration auf die Bibel: das ist stets ein besonderes Kennzeichen evangelischer Frauenarbeit gewesen, gerade in Brandenburg. Je bedrängender die Zeiten, desto deutlicher diese Konzentration. In der Zeit des Kirchenkampfs hat das Studium der Bibel entscheidend zur notwendigen Klarheit verholfen. In der Zeit der deutschen Teilung hat die Bibel sich als Kraftquelle bewährt. Auch heute soll sie unsere Wegzehrung sein und uns die Richtung weisen bei dem Schritt über die Schwelle zu einem neuen Jahrhundert evangelischer Frauen- und Familienarbeit in Brandenburg und Berlin.

Im zweiten Brief an Timotheus lesen wir im ersten Kapitel: „Ich weiß Gott Dank, dem ich von den Voreltern her mit reinem Gewissen diene, wie ich unablässig deiner gedenke in meinen Gebeten Tag und Nacht, voll Verlangen, dich zu sehen, eingedenk deiner Tränen, damit ich mit Freude erfüllt werde; denn ich bin erinnert worden an den ungeheuchelten Glauben, der in dir ist, der zuerst in deiner  Großmutter Lois und deiner Mutter Eunike wohnte, nach meiner Überzeugung aber auch in dir. Und aus diesem Grunde erinnere ich dich daran, die Gnadengaben Gottes anzufachen, die durch die Arbeit meiner Hände in dir sind. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Timotheus 1,3-7).

In der Autorität des Apostels Paulus ist dieser Brief geschrieben, wenn auch wohl erst später zu Papier gebracht. Im Gefängnis müssen wir uns den Apostel denken, in einer Situation der Bedrängnis, in der man umso inständiger Ausschau hält nach dem, was einem Freude machen kann. Timotheus wiederzusehen, das wäre ein solcher Grund zur Freude. Timotheus, zu deutsch Fürchtegott, ist ein oft genannter Schüler, Gefährte und Mitautor des Apostels Paulus; auf vielen Missionsreisen hat er ihn begleitet. Er stammt aus der kleinasiatischen Stadt Lystra, in der heutigen Türkei gelegen. Dort ist er als Sohn eines griechischen Vaters und einer jüdischen Mutter aufgewachsen. Multireligiöses und multikulturelles Aufwachsen vor zweitausend Jahren tritt uns vor Augen. Wo findet der kleine Fürchtegott eine Glaubensheimat? Wer erinnert ihn an die Wurzeln der eigenen Existenz? Wer spannt für ihn den Horizont der Hoffnung auf, ohne den der Atem kurz wird? Der Vater – ein griechischer Heide – weiß sich natürlich nicht an das biblische Gebot gebunden: „Wenn dich dein Sohn – oder deine Tochter – fragen wird: Woher kommen alle diese Gebote?, dann sollst du antworten: Ein umherziehender Aramäer war mein Vater.“ Sondern was wir so leichthin den „Gott der Väter“ nennen, begegnet ihm im Vorbild und aus dem Mund der Mütter. So vollzieht sich religiöse Sozialisation, nicht nur bei Timotheus, unserem kleinen Fürchtegott. Die Mütter und Großmütter sind es, denen wir allermeist die frühen Anfänge unseres Glaubens verdanken. Und in diesem Fall werden sie glücklicherweise mit Namen genannt und bleiben nicht – wie in manch anderen Fällen Frauen auch in der Bibel – namenlos. Wir kennen ihre Namen; trotzdem hat man nur selten auf sie geachtet – auf Lois und Eunike, die taten, was seitdem viele Frauen getan haben. Sie gaben ihren Glauben weiter.

Der so Erzogene hat einen guten Ruf. Darauf, ihn beschneiden zu lassen, hat die Mutter interessanterweise verzichtet. Heutige Ausleger unterschätzen vielleicht ihren Weitblick, wenn sie deshalb sagen, sie sei nur „mittelfromm“ gewesen. Vielleicht suchte sie einen Weg, dem Sohn auch den Zugang zum Vater zu bewahren. Auffälligerweise hält Paulus es für nötig, die Beschneidung noch nachzuholen, damit der Weg des Timotheus zum Glauben an Christus den Juden jener Zeit als unanstößig erscheint. Mittelfromm oder nicht: ungeheuchelt wird der Glaube der Mutter Eunike und der Großmutter Lois genannt. Da sage ich: Lieber mittelfromm und ungeheuchelt als überfromm und geheuchelt. Die Geradlinigkeit der Frauen jedenfalls war es, was Timotheus zum Glauben brachte und zu einem wichtigen Glaubenszeugen werden ließ.

Mutter und Großmutter erzählten ihm, wie Gott sein Volk Israel zum Bundesvolk berief, aus der Bedrängnis in Ägypten befreite, in der Verbannung in Babylon bewahrte, wie er ihm durch sein Gesetz zur Treue verhalf und durch die Propheten aus der Verirrung zurückrief. Lois und Eunice brachten ihm die Hoffnung auf den Messias nahe; miteinander waren sie darauf vorbereitet, als Paulus ihnen deutlich machte, in Jesus von Nazareth sei dieser Messias gekommen, der Retter für Juden und Heiden. So wurden Lois und Eunike Christinnen und mit ihnen wurde auch Timotheus, der junge Fürchtegott, Christ. Von Paulus nicht nur beschnitten, sondern auch getauft, wird er für ihn zu einem wichtigen Mitarbeiter. Aber er wäre das nicht geworden ohne die Frauen, die Gemeinde bauen – auch in diesem Fall in weit größerer Zahl als die Männer.

III.

Ich lade Sie ein, die Geschichte nicht nur mit den Augen des Timotheus zu sehen, wie wir das meistens tun, also nicht nur aus den Augen dessen, der seinen Glauben durch die Weitergabe von Müttern und Großmüttern empfängt. Ich lade Sie dazu ein, die Geschichte auch mit den Augen von Lois und Eunike zu sehen, mit den Augen der Mutter, die an die nächste Generation weitergibt, was ihr selbst wichtig geworden ist, und mit den Augen der Großmutter, die für mich auch stellvertretend für all die Frauen steht, die nicht selbst Mütter sind und deren Leben doch in gleicher Weise wichtig und erfüllt, wichtig und erfüllend auch für andere Menschen ist. Heute stehen wir vor der Aufgabe, das Band neu zu knüpfen, das die Generationen miteinander verknüpft, die Kette neu zu schmieden, durch die wir in die nächste Generation weitergeben, was uns selbst wichtig ist. Die Rede vom Traditionsabbruch darf und soll uns nicht in die Resignation treiben. Wir wissen, dass wir neue Formen brauchen, wenn wir weitergeben wollen, was uns wichtig ist. Aber dass wir es auf unsere Weise neu versuchen, ist eine Aufgabe, der wir uns nicht entziehen wollen und können.

IV.

Im Gedanken an Timotheus, den uns inzwischen lieb gewordenen Fürchtegott, an seine Mutter Eunike und seine Großmutter Lois ist dem Schreiber unseres Briefes ein Satz in die Feder geflossen, der zu den wichtigen Kurzformeln unseres Glaubens schlechthin gehört. Das Beispiel dieser drei Menschen hat ihn dazu veranlasst, kurz und bündig zu erklären, was es mit dem christlichen Glauben überhaupt auf sich hat: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Es ist kein Geist der Verzagtheit. Die Bedingungen der Gegenwart nimmt er nicht wahr, um vor ihnen zu resignieren, sondern um sich ihnen zu stellen. Der Gottesmangel unserer Zeit, manchmal sogar in der Kirche, ist ein Signal zum Aufbruch, nicht zum Rückzug. Gott zur Sprache zu bringen, die Freude an Gott leuchten zu lassen, ist angesagt. Mürrische Gesichter dagegen sind Ausdruck der Verzagtheit. „Die Wahrheit“ dagegen „hat ein fröhliches Gesicht“. Das ist eine Lehre des Reformators Huldreich Zwingli, die wir uns neu zu Herzen nehmen könnten. Friedrich Nietzsches Verdikt können wir dann getrost entgegentreten: „Erlöster müssten mir die Christen aussehen“ – hat er gesagt. Nun gut, er kann es haben.

Einen Geist der Kraft gibt uns Gott. Nicht der Überheblichkeit wird das Wort geredet, nicht dem maßlosen Vertrauen auf die eigenen Kräfte. Von der Kraft ist die Rede, von der es bei Paulus heißt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Dass wir in der Mitte all unseres Tuns der Kraft Gottes Raum geben, darauf kommt es an.

Einen Geist der Liebe gibt uns Gott. Allem Missbrauch zum Trotz behält dieses Wort seine Kraft. Was mit ihm gemeint ist, ist eindeutig und klar: „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.“ Dass Leben sich entfalten kann, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Liebe wirksam ist. Deshalb beugt sich Gott zu uns Menschen herab. Deshalb ist der Stall in Bethlehem der Anfang dieser Liebe, deshalb ist das Kreuz ihr Zeichen. Ohne diese Liebe würde unser Leben und Arbeiten, all unser Tun in Kirche und Welt im Chaos versinken. Deshalb halten wir uns an den Geist der Liebe.

Und schließlich gibt uns Gott den Geist der Besonnenheit. Klingt das nicht allzu beschaulich nach der aufrüttelnden Rede von Kraft und von Liebe? In all unserem Einsatz das Maß zu lernen, ist nicht nur hilfreich, sondern auch notwendig. Kennen wir nicht alle genug Menschen, die alle Anforderungen in Familie, Beruf oder Kirche auf sich selbst beziehen und deshalb rastlos die Kraft einsetzen, die ihnen zur Verfügung steht? Auch alle Enttäuschung, alles Misslingen, alle Überforderung beziehen sie auf sich selbst. Sie sind wie Kerzen, die von beiden Seiten brennen. Besonnenheit hilft dazu, das Leistbare zu unterscheiden von dem, was unsere Kräfte übersteigt. Besonnenheit hilft dabei, dass wir unsere Liebe so einsetzen, dass sie die Menschen erreicht, und sie nicht auch dort noch verzehren, wo sie nichts bewirken kann. Zur Besonnenheit gehört die Gelassenheit, manchmal den Dingen auch ihren Lauf zu lassen – dann nämlich, wenn wir sie nicht ändern können. „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die geändert werden sollten; und gib mir die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“ So beten wir um die Besonnenheit, die uns erst dabei hilft, vom Geist der Liebe und der Kraft wirksamen Gebrauch zu machen.

Dass dieser Geist die Evangelische Frauen- und Familienarbeit auf dem Weg in ein neues Jahrhundert begleitet, ist mein Wunsch. Er möge sie mit neuem Leben erfüllen und ihr eine gute Richtung weisen. Amen.