Predigt am Himmelfahrtstag in St. Peter und Paul auf Nikolskoe (Epheser 1, 20 - 23)

09. Mai 2002

„Gott hat durch die Macht seiner Stärke Christus von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen. Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde zum Haupt über alles, welche sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“

(Epheser 1,20-23)

I.

Gestern morgen bin ich von einer dienstlichen Reise in den Nahen Osten zurückgekommen. Nachts um drei flogen wir aus Beirut, der Hauptstadt des Libanon, ab, kurz nach sechs landeten wir schon in Frankfurt. Von dort ging es weiter nach Berlin. Ein nächtlicher Start in den dunklen Himmel – und dann der Sonnenaufgang weit über den Wolken. Im wahrsten Sinn eine himmlische Erfahrung – zehntausend Meter über der Erde.

Aber kommt man dem Himmel näher, wenn man fliegt? Muss man sich die Erhöhung Jesu zum Vater auf diese Weise vorstellen? Die englische Sprache unterscheidet zwischen zwei Wörtern für den Himmel, sky und heaven. Wenn ich sehe, wie sich die Häuser einer Stadt vom Himmel abheben, dann sehe ich die skyline dieser Stadt, nicht ihre heavenline. Wenn ein Gebäude so hoch hinausragt, dass wir es im Deutschen einen Wolkenkratzer nennen, so ist das englische Wort dafür skyscraper, nicht heavenscraper. Wie so oft enthält die Sprache eine tiefe Weisheit. Man ist nicht dem Himmel näher, je höher man fliegt. Die Vorstellung, durch die Höhe unserer Gebäude – durch einen Turmbau von Babel – den Himmel zu erreichen, ist vergebens. Wir streifen den sky, erreichen aber nicht den Himmel.

So hoch wir auch hinauskommen, wissen wir doch: Der Himmel reicht unendlich viel weiter. Auch wenn wir ferne Ziele schnell erreichen, weil wir fliegen können, auch wenn die Raumfahrt Menschen zum Mond brachte: Die Weite des Himmels ist unerforschlich. Auch wenn die Astrologen sich einbilden, die Sternzeichen deuten zu können, auch wenn die Astronomen die Bewegungen der Planeten erkunden, auch wenn die Astronauten den Himmel befahren: der Himmel reicht weiter. In den Zeiten der DDR wurde der Himmelfahrtstag als Tag der Kosmonauten verspottet; und manche haben das auch bis heute nicht überwunden. Aber das Geheimnis des Himmels wird durch all das nicht angetastet. An diese Geheimnis erinnert der Himmelfahrtstag.

Dass Jesus zum Himmel gefahren ist, bedeutet zunächst: Er hat an diesem Geheimnis Anteil. Seine Macht reicht weiter, als wir uns vorstellen können. Der Epheserbrief sagt das in großer Eindringlichkeit: „Er ist eingesetzt über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen.“

II.

Auch wenn Christus schon jetzt an der Fülle der göttlichen Herrschaft teil hat, auch wenn wir uns daran so vorbehaltlos freuen wie an diesem strahlenden Himmelfahrtstag: es bleibt uns doch bewusst, dass wir in der Spanne zwischen seiner Himmelfahrt und seiner Wiederkunft im Glauben leben, nicht im Schauen. Wir wissen: Es gibt keine Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht unter seiner Herrschaft stünden und nicht in der Erwartung seiner Wiederkunft leben. Aber wir wissen auch: Die Welt, in der wir leben, richtet sich nicht immer danach, in wessen Herrschaftsbereich sie steht. Und auch wir selbst entziehen uns dieser Herrschaft immer wieder. Wir glauben, wir könnten das tun, weil sie sich ja durch das Wort durchsetzt, nicht durch Gewalt. Mit der Zwanglosigkeit der Liebe bricht sie sich Bahn, nicht mit der Unbarmherzigkeit des Hasses.

Für mich rücken in diesem Jahr Ostern und Himmelfahrt ganz nahe zusammen. Vor vier Tagen habe ich in Beirut das orthodoxe Osterfest mitgefeiert, das in diesem Jahr ganz ungewöhnlich spät gefeiert wurde, erst fünf Wochen nach unserem Osterfest. In Kairo habe ich zuvor die orthodoxe Karwoche erlebt, das Zugehen auf den Karfreitag und auf Ostern. Das Evangelium des Friedens war gegenwärtig. Aber genauso gegenwärtig war die Mentalität von Hass und Gewalt. Was gegenwärtig zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern, zwischen den Palästinensern und dem Staat Israel geschieht, strahlt aus in die ganze Region. Muslime wie Christen in den Nachbarländern verstehen sich in dieser Situation vor allem als Araber; vorbehaltlos stehen sie auf der Seite der Palästinenser. Auch wenn sie, was mir gegenüber bis hin zum Staatspräsidenten des Libanon deutlich geschah, die Selbstmordattentate der Palästinenser scharf verurteilen – das Schwergewicht ihrer Stellungnahme liegt auf der Kritik des Staates Israel, der Art seiner militärischen Interventionen und seiner Besetzungspolitik. Massiv ist die Kritik an der Missachtung von Resolutionen der Vereinten Nationen; riesiger Schaden ist insbesondere daraus entstanden, dass eine Kommission der Vereinten Nationen unter der Leitung des früheren finnischen Staatspräsidenten Ahtissari keine Möglichkeit hatte, sich über die Vorgänge im Palästinenserlager Dschenin kundig zu machen.

Doch verbunden wird das mit Formen der Indoktrination, die ich nur ganz schwer verkraften konnte. In einem Palästinenserlager in Beirut konnten wir einen Kindergarten besichtigen. Die vierjährigen Kinder sagten uns mit lauter Stimme auf, was sie gelernt hatten: 1948 wurden wir vertrieben. Die Vertreiber denken, wir kämen nicht zurück. Aber wir werden zurückkommen. Kinderverse waren das fürwahr nicht. Hier wurde der Geist der Unversöhnlichkeit gepflegt, nicht der Geist des Friedens.

Jede Predigt, so hat der jüdische Rabbiner Rozwaski, ein Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin gefordert, jede Predigt in einer christlichen Gemeinde solle in diesen Wochen eine Predigt gegen den Antisemitismus sein. Daran ist etwas Wahres. Der Aufschrei dagegen, dass in diesen Wochen zwei jungen jüdischen Frauen in der U-Bahn der Davidsstern vom Hals gerissen wurde, muss Gehör finden. Wenn Rabbi Rozwaski nicht mehr in bestimmte Bezirke Berlins geht oder bei Dunkelheit nicht mehr die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, dann muss uns das aufrütteln. Ich werde wie bisher so auch weiterhin bei solchen Vorgängen klar meine Stimme erheben. Und viele Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche werden es mit mir tun. Der Vorhalt von Rabbi Rozwaski, wir würden zu solchen Vorgängen schweigen, ist deshalb unbegründet. Aber dass wir allen Formen des Antisemitismus eine klare Absage erteilen, macht die heute auch in Israel selbst formulierte Kritik an bestimmten politischen Handlungen des Staates Israel weder unnötig noch unmöglich. Denn die Spirale der Gewalt muss an ein Ende kommen. Das wird nur gelingen, wenn Schritte zu einem dauerhaften Frieden unternommen werden, der beiden Seiten das Existenzrecht sichert.

Die letzte Nachricht, die wir noch auf dem Boden des Libanon erhielten, war die Nachricht von einem neuen Selbstmordattentat. Das hielt uns auf der Erde, auch als wir im Flugzeug vom Boden abhoben. Dass Christus alles in allem erfüllt, ist eine Verheißung, ohne die wir nicht leben können. Doch die Wirklichkeit, die wir selbst gestalten und erleben, steht zu dieser Verheißung oft, allzu oft im Widerstreit.

III.

Wenn Kinder zu malen beginnen, wird ihnen schon bald der Himmel besonders wichtig. Keine Pflanze malen sie ohne Himmel darüber. Viel Wert legen sie auf das Licht des Himmels und auf seinen Glanz. Besondere Sorgfalt verwenden sie auf die Wolken, auf den Regen und die Stürme. Ich kenne Kinderbilder, auf denen der Himmel den allergrößten Teil einnimmt. Wenn Kinder so malen – und nicht nur die Kinder malen so – , meinen sie nicht nur den sky, sondern auch den heaven. In ihrem Malen wollen sie zum Ausdruck bringen, was man nicht malen kann: die Quelle des Lebens. Sie malen das Licht und das Wasser, weil sie wissen, dass man ohne Licht und Wasser nicht leben kann. Aber ihr Bild sagt zugleich: Der Mensch lebt nicht nur von Licht und Wasser, er lebt auch nicht vom Brot allein, er braucht eine Wahrheit, die ihn trägt. So wird der Himmel, den wir sehen, zum Gleichnis für den Himmel, den wir nicht sehen. Der Himmel, nach dem wir uns ausstrecken können, wird zum Gleichnis für das Geheimnis der Welt, für die Wahrheit über unser Leben.

Der Himmel ist der Herrschaftsbereich Gottes. Er ist die uns entzogene umfassende Wirklichkeit Gottes, in ihm entfaltet Gott selbst sich in seiner Fülle. Jesus, der gekreuzigte und auferstandene, ist bei Gott, er hat an seiner Fülle Anteil. Er ist bei dem, der alles in allem erfüllt. Er zieht uns in diesen Machtbereich hinein. Dass er zu Gott erhöht wird, heißt nicht, dass er uns verlässt. Er bleibt uns nahe durch seinen Geist, er bleibt uns nahe in Wort und Sakrament. Der Christus, der am Kreuz gedemütigt wurde, herrscht über alle Reiche und Gewalten, über alles, was einen großen Namen beansprucht. Wie sollten wir ihm dann nicht auch die Herrschaft über unser Leben anvertrauen? Das ist die Botschaft dieses Tages. Christus, so sagt es der Epheserbrief, „ist die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“

Heute morgen haben ich mit neun jungen Leuten im Berliner Dom Konfirmation gefeiert. In der Vorbereitung auf diesen wichtigen Schritt zu mündigem Christsein hatten sie versucht, ihr eigenes Bekenntnis zu formulieren. Sie hatten nach Möglichkeiten Ausschau gehalten, ihrem eigenen Glauben Sprache zu geben. „Ich glaube, dass Jesus von den Toten auferstanden ist“ sagten sie beispielsweise und fügten hinzu: „Ich glaube an die Auferstehung der persönlichen Würde und an den endgültigen Sieg der Liebe zwischen den Menschen.“ An die Kraft der Auferstehung zu glauben, Tod und Gewalt keine Macht einzuräumen über unsere Gedanken, uns auszurichten auf die Liebe Gottes und damit auf die Liebe zwischen den Menschen – das ist die Richtung, die der Himmelfahrtstag unserem Leben geben will. Er will uns darin bestärken, dass wir nicht nur in die Wolken schauen, sondern uns an den Himmel halten. Unsere Lebensgewissheit finden wir in Gott, der die Fülle ist und alles in allem erfüllt. Amen.