Predigt in der Ökumenischen Vesper zum Aschermittwoch der Künstler, St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin (Matthäus 6,16-18)

13. Februar 2002

„Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler. Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der auch das Verborgene sieht; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“

(Matthäus 6,16-18; Einheitsübersetzung)

1.

Wird wieder mit allen Tricks gearbeitet? Eine Karikatur stellt diese Frage. Ein wohlgenährter Herr wird in seinem Lehnstuhl gezeigt. „Also wenn Fasten gut tut“ so denkt er, „faste ich dann nicht eigentlich, wenn ich auf´s Fasten verzichte?“ Eine trickreiche Frage ist das. Wenn Fasten darin besteht, dass ich darauf verzichte, mir etwas Gutes zu tun, dann muss ich doch auf das Fasten gerade verzichten, wenn ich das Gute entbehren will.  Nicht fasten muss ich dann; ich muss darin fortfahren, Raubbau mit meinem Körper und mit meiner Seele zu begehen. Eine trickreiche Begründung dafür, sich in die Reihe derer zu stellen, die mit Messer und Gabel oder auch mit der Schnapsflasche einen schleichenden Selbstmord begehen.

Ganz gegenläufig, aber ebenfalls trickreich ist auch der Umgang mit dem Fasten, den Jesus in der Bergpredigt bloßstellt. Fasten als gutes Werk tritt da in den Blick. Das Renommee vor den Menschen soll erhöht werden. Renommiersucht ist die Triebfeder. Das klingt ungewohnt in unseren Ohren. Denn dass jemand mit Frömmigkeit Erfolg haben will, kommt heute nur noch selten vor. Eher muss man sich dafür rechtfertigen. „Du bist doch sonst ein ganz vernünftiger Mensch“ – so schallt es einem entgegen, der sein Christsein ernstnehmen möchte.

Trotzdem lohnt es sich, auf den Bergprediger zu hören, wie er das aufdeckt: Frömmigkeit als Trick. Wie Grundformen der Frömmigkeit in ihr Gegenteil verkehrt werden können, ist Jesu Thema. Das Almosen, das Gebet und das Fasten sind die drei Beispiele, an denen er das verdeutlicht. Taten der Barmherzigkeit können dazu missbraucht werden, dass wir unsere Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau stellen wollen. „Tue Gutes und rede darüber“ ist die moderne Variante dieser missbrauchsanfälligen Verhaltensweise. Beten an der Straßenecke und an der sichtbarsten Stelle von Kirche oder Synagoge wird von Jesus als die zweite Gefährdung genannt. In einer Zeit, in der das Gebet ohnedies weithin verstummt, erscheint uns das als eine eher unwahrscheinliche Gefahr. Und doch liegt sie bei denen nicht ganz fern, die überhaupt nur noch dann beten, wenn andere dabei sind. Gibt es nicht manche unter uns – und kennen viele es nicht auch aus bestimmten Phasen ihres eigenen Lebens - , dass das persönliche Gebet ganz untergegangen ist und nur noch das gemeinsame Gebet im Gottesdienst einen Platz behält? Mir begegnen viele Menschen, die das persönliche Gebet für den Ausdruck eines Kinderglaubens ansehen, der sich für sie überholt hat. Und nur noch in äußerster Not kommt ihnen ein Stoßgebet über die Lippen: „Rette mich, gütiger Gott.“
Und dann eben auch das Fasten. Demonstrativ geht einer in Sack und Asche, lässt andere darunter leiden, wie er sich selbst kasteit, schaut sauertöpfisch drein, damit auch anderen die Lust vergeht. Auch wer Fasten zum „guten Werk“ macht, hat seinen Lohn schon gehabt.

Unerkannt Gutes tun, im Verborgenen beten, so fasten, dass nur Gott es merkt, der ins Verborgene sieht: auf dieser Linie liegen die Empfehlungen, die Jesus gibt.

2.

Doch die Bergpredigt – dieser große und großartige Text – enthält eine eigene und eigentümliche Dialektik. Sie macht gerade den Realismus in der Verkündigung Jesu aus. Genau ein Kapitel zuvor nämlich finden wir die Gegenbewegung. „Ihr seid das Licht der Welt. ... Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt. 5, 15 f.). Nicht dass Gott ins Verborgene sieht, sondern dass unser Christsein erkennbar wird – darauf liegt hier der Akzent. Für den Bergprediger gehört eben beides zusammen: die Verborgenheit unseres Herzens und die Erkennbarkeit unserer Taten, die Arkandisziplin und das Licht, das vor den Menschen leuchtet, das Beten und das Tun des Gerechten vor den Menschen.

Ob es unser eigener Wille oder der Wille Gottes ist, den wir in unserem Tun zum Ausdruck bringen, ist entscheidend. Ob Selbstdarstellung oder Transparenz für die Wirklichkeit Gottes uns bestimmt, darauf kommt es an. Der Christ, so hat Chiara Lubich einmal gesagt, tut die „guten Werke“ aus einem neuen Geist heraus; dieser Geist macht deutlich, dass nicht mehr er selbst lebt, sondern Christus in ihm. „Wenn ein Christ so lebt, wird er ‚transparent’, und das Lob, das ihm für sein Tun zuteil wird, geht nicht an ihn selbst, sondern an Christus in ihm, der durch ihn der Welt gegenwärtig ist. Die Aufgabe des Christen besteht also darin, das Licht, das in ihm wohnt, durchscheinen zu lassen; der Christ soll ‚Zeichen’ der Gegenwart Gottes unter den Menschen sein.“

3.

Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit. Wir begehen diesen Beginn in ökumenischer Gemeinsamkeit. Ich bin dankbar für die weitere Stärkung ökumenischer Gemeinschaft, die mit dem heutigen Tag zum Ausdruck kommt. Nicht einen „politischen Aschermittwoch“ begehen wir, sondern einen Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler. Wir entziehen uns der Versuchung, die Umkehr, die von der Fastenzeit ausgeht, nur bei den andern suchen zu wollen und die fällige Bußpredigt deshalb zur Beschimpfung der anderen verkommen zu lassen. Wir fragen uns, wie die kreativen Kräfte, die uns anvertraut sind, in den Dienst einer Erneuerung treten können, die uns selber meint.

Der Aschermittwoch verdankt seinen Namen dem Brauch, dass Christen sich an diesem Tag in einem eigenen Gottesdienst an der Stirn mit einem Aschekreuz bezeichnen lassen. Asche ist ein Symbol der Vergänglichkeit: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Sie ist ein Zeichen für Schuld und Buße: „Asche über dein Haupt“, rief meine Mutter in meiner Jugendzeit manchmal pathetisch, ohne dass ich so genau wusste, was sie damit meinte. Mit dem Aschekreuz verbindet sich die Bereitschaft zur Umkehr und zu einem Neubeginn. Wir wollen dieses Zeichen als ein ökumenisches Symbol wiedergewinnen. Denn unsere Vergänglichkeit und Schuld, die Gewissheit des Neubeginns, der durch das Leiden Christi eröffnet wird, und die Bereitschaft zur Umkehr verbinden die Christen über die Unterschiede der Konfessionen hinweg.

Mit dem Aschermittwoch beginnt die vierzigtägige Fastenzeit, in der wir als Christen das Leiden Christi meditieren, seinen Weg zum Kreuz in uns aufnehmen und uns auf die Osterfreude vorbereiten. Fasten ist ein wichtiger Ausdruck für diese innere Beteiligung. „Sieben Wochen ohne“ liegen vor uns. Eine Zeit des freien und freiwilligen Verzichts auf etwas, was wir uns gut leisten können. Bewusst zu verzichten: das ist eine Übung, die der Klarheit über das eigene Leben dienen kann.

Ich bin in den letzten Tagen so mit Berliner Pfannkuchen und anderen Süßigkeiten verwöhnt worden, dass es mir nicht schwer fiel, mir auszumalen, worauf ich in diesem Jahr sieben Wochen lang verzichte. Süßigkeiten aller Art werden jedenfalls dazugehören. Aber dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Der Verzicht auf Alkohol, auf die Tabakspfeife, auf Computerspiele, auf Medienkonsum, auf unnötiges Autofahren sind nur Beispiele dafür, was Menschen sich für die „sieben Wochen ohne“ vornehmen. Und der Verzicht ist nur die eine Seite. Die andere Seite hat es damit zu tun, wofür man sich Zeit nimmt, für wen man sich öffnet. In unserer Kirche heißt das Stichwort für die „sieben Wochen ohne“ des Jahres 2002 „ZuNeigung“. Fasten heißt auch, sich Menschen zuzuwenden, Freundschaften zu pflegen, Respekt vor dem Nächsten zu zeigen, auch vor dem fremden Nächsten. Das Eintreten für Gerechtigkeit und Solidarität ist schon immer ein Ziel der christlichen Selbstdisziplin gewesen, die im Fasten zum Ausdruck kommt.

4.

Fasten ist kein Selbstzweck. Die Konsequenz aus dem Fasten wird beim Propheten Jesaja profiliert beschrieben: „Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen“ (Jes. 58, 6-7). Diese Art des Fastens steht unter einer besonderen Verheißung: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach.“ (v.8-9). Auch die Künste und auch die Künstler kennen die Sehnsucht nach einer solchen Verheißung. Auch Künstler sehnen sich nach dem Licht, das hervorbricht, nach der Herrlichkeit, die uns nachfolgt. Auch Künstler lassen sich von diesem Ziel des Fastens leiten: die Fesseln des Unrechts zu lösen und mit den Bedürftigen zu teilen. Für mich gibt es in jedem Jahr hierfür einen ganz besonderen Beleg, wenn wir Kunstwerke zu Gunsten der kirchlichen Ausländerarbeit versteigern können. Viele Künstler tragen dazu bei, dass das möglich ist. Auch in diesem Jahr ist das wieder geplant.

Gottes Nähe zu erfahren, seiner erneuernden Kraft gewiss zu werden, seiner Herrlichkeit gewahr zu werden: das ist der tiefste Sinn dessen, was wir Fasten nennen. Nicht nur unser Übergewicht abzubauen, sondern die falschen Gewichte unseres Lebens hinter uns zu lassen: das ist der Sinn der Zeit, in die wir jetzt eintreten. Nicht uns selbst darzustellen, sondern transparent zu werden für die Wirklichkeit Gottes, darum geht es. Dann lassen wir nicht nur unser Licht leuchten, dann leuchtet das Licht dessen, der ins Verborgene sieht. Amen.