Predigt am Sonntag Reminiscere, Berliner Dom (Hebräer 11,8-10)

24. Februar 2002

Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“

(Hebräer 11,8-10)

1.

Wie kann das Leben gelingen? So fragen wir – selbst wenn wir nicht darüber reden. Die Sehnsucht nach gelingendem Leben bestimmt jede und jeden von uns. Niemand ist von dieser Sehnsucht frei.

Wie kann das Leben gelingen? So fragen junge Leute und singen: Unser Leben sei ein Fest. Wie kann das Leben gelingen? So fragen Erwachsene und antworten: Man muss das Leben selbst in die Hand nehmen, wenn es gelingen soll. Wie kann das Leben gelingen? So fragen Ältere und antworten: Einen alten Baum soll man nicht verpflanzen.

Wie kann das Leben gelingen? So fragt auch der christliche Glaube und antwortet: Wer sich auf Gott verlässt, dessen Leben gelingt.

Das ist eine kühne Antwort – ich weiß. Aber leben wir nicht auch kühn? Tag für Tag sind wir ins Ungewisse unterwegs – ohne Netz und doppelten Boden. Wenn wir plötzlich abstürzen, wird es hart und unbequem. Keiner kennt die Nachricht, die vielleicht schon heute oder morgen auf ihn wartet. Schicksale wenden sich von einem Tag auf den andern. Krankheit kommt oder die Gesundheit kehrt zurück. Menschen trauen sich zu, füreinander einzustehen, oder kehren einander den Rücken. Türen tun sich auf, durch die wir hindurchgehen können; aber oft stehen wir auch vor verschlossenen Türen.
 
Die Ungewissheit des nächsten Tages wird uns immer wieder bewusst. Aber oft verdrängen wir sie auch. Denn eigentlich kann man sich nicht darauf vorbereiten. Nur im Vertrauen kann man es bestehen.

„Sprung mit Gott ins Ungewisse, Tod, dein Stachel schreckt mich nicht.“ Kaum ein Lied meiner Jugend hat mich stärker gepackt als dieses Lied des Bremer Dichters Rudolf Alexander Schröder. Wieder und wieder haben wir es gesungen, ja geschmettert. Dass wir über den Glauben gesungen haben – wir haben es geahnt, gewusst haben wir es nicht. Denn was ist der Glaube anderes als ein Sprung mit Gott ins Ungewisse? Was ist der Glaube anderes als die Gewissheit, diesen Sprung zu bestehen? Wie  sollten wir durch unser Leben gehen können ohne solchen Glauben?

2.

Aber der Glauben hat seine Selbstveständlichkeit verloren. „Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung – diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Viele unter unseren Zeitgenossen wollen aus diesen dreien den Glauben am liebsten herausstreichen. Liebe – ja, das ist schön, wenn es sie gibt; Hoffnung – das muss wohl sein. Aber Glaube? Oft wird er verspottet und  verlacht. Das Kreuz Jesu, dieses Symbol des Glaubens, verdreht ein Filmplakat dieser Tage ins Hakenkreuz. Wer glaubt, gilt bisweilen als ungeeignet zum praktischen Leben.

Dabei hat der Glaube mit unserem alltäglichen Leben mehr zu tun, als unsere manchmal enthusiastische Vorliebe für die Liebe wahrhaben will. Auch an der Liebe halten wir nur fest, weil und solange wir in irgendeiner Weise an sie glauben. Wie wollten wir sonst über die Abgründe der Enttäuschung hinwegkommen? Woher wollten wir sonst die Kraft zum Neuanfang beziehen? Und so ist es mit den Höhen und Tiefen unseres Lebens überhaupt. Ohne Glauben sind sie nicht zu bestehen. Ohne Vertrauen ist da nichts zu machen. Deshalb ist der Glaube ein besonders kostbares Gut. Schon wenn er ein zarter Keim ist, achtet Gott selbst diesen Glauben hoch. „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn“, so sagt Jesus, „dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.“ Diesem kleinen Glauben traut er zu, dass er Berge versetzen kann. Der Glaube nämlich ist die entscheidende Lebenskraft.

3.

Der Hebräerbrief singt ein Hohes Lied des Glaubens. Eine ganze „Wolke von Zeugen“ führt er dafür auf. Unter ihnen spielt Abraham eine ganz besondere Rolle – Abraham, den das Neue Testament wieder und wieder als den „Stammvater des Glaubens“ hervorhebt. In drei Sätzen macht er klar, was am Glauben Abrahams das Besondere ist. Alle drei Sätze handeln davon, dass Abraham im Vertrauen auf Gott die Kraft zur Zukunft fand. Die Zukunft ist sein Land. Dadurch wird Abraham zum Vorbild für den Glauben.

„Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme.“

Damit ist die Geschichte Abrahams sehr genau zusammengefasst. In der Tat: Gottes Anrede veranlasst ihn dazu, sich auf den Weg zu machen. Er verlässt die Stadt, in welcher er mit seinem Vater gelebt hatte. Der war auf dem Weg von Ur in Chaldäa nach Kanaan in Haran hängen geblieben. Abram setzt nun die Wanderschaft fort. Mit Hausrat und Rinderherden, mit Frau und Neffen macht er sich auf den Weg. Wohin ihn dieser Weg führt, ist ungewiss. Er verlässt sich darauf, dass Leben auf ihn wartet, dass er ein Licht finden wird. Sein Glaube ist nichts anderes als dieses Vertrauen auf Leben, diese Absage an die Macht des Todes. Sein Glaube ist nichts anderes, als dass er dieses Licht fest im Auge behält. Er lässt sich auf das Wort ein, das ihn erreicht hat. Er macht sich auf den Weg.

Wer glaubt, ist unterwegs. Er ist nicht mit sich fertig, er ist kein Gefangener seiner selbst. Wer glaubt, lässt sich auf Gott ein, der mich in eine Geschichte hineinziehen will, deren Ausgang ich nicht kenne. Wer glaubt, lässt die falsche Alternative hinter sich, es gehe entweder darum, auf Gott zu vertrauen oder das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen. Nein, eine solche Alternative zwischen Glauben und Freiheit gibt es nicht. Denn entscheidend ist, aus welcher Hand wir unser Leben entgegennehmen und in wessen Hand wir unser Leben ruhen lassen. Daran bemisst sich dann auch, in welcher Weise wir unser Leben selbst in die Hand nehmen.

„Durch den Glauben ist Abraham ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung.“ So sagt es der Hebräerbrief in einem zweiten Satz. Wieder trifft er das Schicksal Abrahams genau.

Auf seiner Wanderschaft kommt er nach Kanaan, in das verheißene Land. Aber das Merkwürdige ist: Auch in dem verheißenen Land bleibt er ein Fremdling. Denn Kanaan aber ist kein menschenleeres Land, das erst besiedelt werden müsste. Dort wird keineswegs der Gott verehrt, dessen Ruf Abraham vernommen hat. Vertreiben will er die Bewohner, die er vorfindet, nicht. Auch macht er den Gott, der sich ihm offenbart hat, nicht zum Instrument seiner Machtansprüche. Er scheut die Begegnung mit den Bewohnern des Landes nicht, sondern er ist bei ihnen. Er “ist präsent”, wie man heute sagt, er “steht zur Verfügung”. Er lebt nach der Regel, dass es bei solchen Anfängen nicht darauf ankommt, was man tut, sondern dass man da ist.

Man hat Abram als das “Urbild eines Missionars” bezeichnet. Aber das ist eine Mission besonderer Art. Es ist eine Mission, die wir heute erst wieder zu entdecken beginnen. Nicht eine Religionsgemeinschaft, sondern Gott ist das Subjekt dieser Mission. Menschen treten einfach in deren Dienst. Sie beginnt nicht mit einem Aktionsplan, sondern mit der Bereitschaft, präsent zu sein und zur Verfügung zu stehen. Sie verdrängt die Überzeugungen der anderen nicht, sondern setzt sich ihnen aus. Sie lässt die Angst vor dem Fremden hinter sich. Auf diese besondere Weise setzt sich der Anruf Gottes durch und wandelt Fremdheit in Segen. Es ist eine Mission, die das Gottvertrauen lebt, das sie verkündigt.

Nelly Sachs, die Dichterin des jüdischen Schicksals, sieht deshalb in Abraham das Urbild eines für Gott geöffneten Menschen. In ihrem Gedicht “Abraham” heißt es: “O du, / aus dem mondversiegelten Ur, / der du im Sande der abtropfenden Sintfluthügel / die sausende Muschel / des Gottesgeheimnisses fandst/ ... O du / aus dessen ahnendem Blut / sich das Schmetterlingswort Seele entpuppte, / der auffliegende Wegweiser ins Ungesicherte hin / ... O Abraham, / die Uhren aller Zeiten, / die sonnen- und monddurchleuchteten / hast du auf Ewigkeit gestellt.”

Ja, Wegweiser ins Ungesicherte. Das ist Abraham. Und deshalb ist er für den Hebräerbrief ein Vorbild des Glaubens. Denn für den Glauben gilt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Deshalb heißt es schließlich über Abraham: „Er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“

Weil  der Glaube auf diese Stadt ausgerichtet ist, hält er sich an die Zukunft. Deshalb schaut er nicht zurück, wenn er die Hand an den Pflug legt. Deshalb hält er sich an den, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, ich bin die Tür“ und auch „Siehe, ich habe vor dich gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen.“ Zu glauben heißt: die offene Tür zu sehen und durch sie hindurchzugehen.

4.

Eine „Wolke  von Zeugen“ bietet der Hebräerbrief auf, um uns zu einem solchen Glauben Mut zu machen. Abraham steht in ihrer Mitte. Der Glaube ist keine einsame Sache. Er gehört in die Gemeinschaft. Deshalb feiern wir diesen Glauben in der Gemeinschaft. Deshalb bilden sich Gemeinschaften, in denen dieser Glaube laut werden kann. Ganz unterschiedlich sind sie. Die große Gottesdienstgemeinde hier im Dom kann das genauso sein wie eine Gemeinde in kleiner Zahl. Ein Kreis alter Menschen kann das genauso sein wie eine Kita-Gruppe. Auch unsere evangelischen Schulen sehe ich in diesem Zusammenhang. Diese Schulen, in denen gelernt wird wie in allen Schulen, sind zugleich Schulgemeinden – Orte, an denen vom Glauben erzählt werden kann. Ich bin davon überzeugt: Schulen dieser Prägung brauchen wir gerade heute. Und ich sage das, weil sie hier in Berlin wieder einmal an den Rand gedrängt und gefährdet werden. Der Senat von Berlin will sie finanziell schlechter stellen als die staatlichen Schulen – und dies obwohl sie schon jetzt deutlich billiger sind als staatliche Schulen. Von 97 auf 90 Prozent der vergleichbaren Personalkosten will man die staatlichen Zuschüsse senken. Das sei keine bildungspolitische, es sei nur eine finanzpolitische Maßnahme, wird mir gesagt. Ich halte dagegen: Es ist eine bildungspolitische Maßnahme; die besondere Verbindung von Lerngemeinschaft und Glaubensgemeinschaft soll keinen Ort haben. Und es ist darüber hinaus eine gesellschaftspolitische Maßnahme: Freie Initiativen aus der Gesellschaft werden dadurch an den Rand gedrängt. Deshalb sage ich deutlich – und ich sage es auch hier: Wir werden darum kämpfen, dass die Schulen in freier Trägerschaft erhalten und angemessen unterstützt werden. Denn wir brauchen sie.

Wir brauchen Orte, an denen Menschen lernen, ihr Leben in die Hand zu nehmen, weil sie es aus Gottes Hand empfangen. Wir brauchen Orte, an denen wir lernen, mit unserem Leben verantwortlich umzugehen, weil es am Ende in Gottes Hand ruhen wird. Wir brauchen Orte, wo wir das Glauben lernen können: die Kraft zur Zukunft. Amen.