Predigt am Gründonnerstag, in St. Nikolai, Berlin-Spandau (Hebräer 2, 11.17.18)

28. März 2002

Als Predigttext lese ich drei Verse aus dem 2. Kapitel des Hebräerbriefs: „Christus, der heiligt, und die Menschen, die geheiligt werden, kommen alle von einem her, von Gott. Darum schämt er sich nicht, sie Brüder und Schwestern zu nennen. Daher musste er in allem seinen Brüdern und Schwestern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.“
(Hebräer 2, 11.17.18)


I.

Jesus feiert mit den Seinen zum letzten Mal vor seinem Tod die Gemeinschaft, die sie miteinander gelebt haben. Noch einmal ein festliches Essen, wie sie es manches Mal begangen hatten – nie nur für sich allein, immer offen für die am Rand. Oft hatten sie sich bei wohlhabenden Sympathisanten eingeladen, manchmal auch bei solchen, die zur eigenen Überraschung dazu wurden, wie dem Zöllner Zachäus zum Beispiel. Dieses Mal aber hatten sie sich einen Raum für sich allein geben lassen – eben für das letzte Mal.

Denn schon bricht alles auseinander. Einer der Freunde wird Jesus den Autoritäten ausliefern, die seinen Tod planen. Um den Tisch sitzt nicht nur der eine, der ihn verrät. Es sitzen auch die anderen um den Tisch, die ihn verleugnen werden.

Traurig fragt einer nach dem andern: „Herr, bin ich’s?“ Ein moderner Künstler hat das bekannte Abendmahlsbild von Leonardo da Vinci umgestaltet. Da bleiben die Gesichter der Jünger leer. Da werden wir eingeladen, unser eigenes Gesicht hineinzudenken in die Gestalt des Judas, des Petrus, des Johannes. Wir selbst sind ein Teil dieses letzten Abendmahls. Es fand statt in der Nacht des Verrats, in der Nacht, in der Jesus Christus dahingegeben und an die Mächte der Welt ausgeliefert wurde.

Gerade darin schließt sich Jesu letztes Mahl vor seinem Tod an das Passamahl des jüdischen Volkes an. Ein Mahl in äußerster Bedrängnis war auch dies. Es erinnert an die Bedrohung durch äußere Gefahr wie an die Befreiung aus dieser Gefahr, wie wir vorhin im Bericht über das erste Passamahl gehört haben. Zum Aufbruch bereit sollen die Israeliten das Passamahl essen, Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand. Auch das Abendmahl lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Leid und Gefahr. Es ist eben das letzte Mahl vor Jesu Prozess und Kreuzigung, das Mahl in der Nacht des Verrats. Ein Tag der Stille und des Trauerns ist deshalb der Gründonnerstag. Von ‚gronan’, ‚greinen’, also vom Weinen ist der Name dieses Tages wohl abgeleitet. Er bereitet auf den Karfreitag vor. Das alte Wort ‚kara’, ein frühes Wort für Trauern, hat diesem Tag seinen Namen gegeben. Das Abendmahl wird von Jesus in der Nacht eingesetzt, in der er an die Mächte dieser Welt übergeben und ihrem Treiben ausgeliefert wird.

Die Gemeinschaft, die sich am Abendmahlstisch versammelt, ist nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht. Einer der Jünger selbst ist es, der Jesus ausliefert. Vergeblich wird Jesu Gebet an den Vater sein: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Jesu Hingabe durch Gott und sein Verrat durch die Menschen durchdringen sich.

Und wir werden an diesen Tisch geladen. Die Gesichter der Jünger sind leer. Wir sind eingeladen, an ihre Stelle zu treten, an die Stelle des Judas, des Petrus, des Johannes. Von einer Abendmahlsfeier wurde mir erzählt, die um einen Tisch stattfand. Im Altarraum hatte man diesen Tisch aufgestellt; dreizehn Stühle umgaben ihn. Ein Stuhl blieb immer frei, der Stuhl Jesu, der an diesen Tisch lädt. Auf den anderen zwölf Stühlen nahmen immer zwölf Gemeindeglieder Platz. Sie traten in die Gemeinschaft mit Jesus ein, in der Nacht des Verrats.

Jesu letztes Mahl vor seinem Tod war nicht das letzte Mahl mit ihm. Vielmehr weist dieses Mahl schon voraus auf das Mahl des Auferstandenen mit den Jüngern, zu denen er sich auf dem Weg nach Emmaus gesellt. „Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, und gab’s ihnen. Da wurden ihnen die Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.“ Wann immer wir an Jesu Tisch geladen werden, werden wir nicht nur in die Nacht des Verrats hineingenommen, sondern auch über sie hinausgeführt.


II.

Denn Jesus, so sagt es der Hebräerbrief, lässt uns in der Versuchung nicht allein. Er überlässt uns nicht einfach der Gefahr von innen. Denen, die versucht werden, kann er helfen; denn er hat selbst gelitten und wurde versucht. Das ist die tröstliche Botschaft des Gründonnerstags. Für den Hebräerbrief bündelt sie sich in einem einzigen Satz: „Er schämt sich nicht, uns Brüder und Schwestern zu nennen.“ Im Angesicht des Verrats verstößt er uns nicht. Obwohl wir ihn in der Einsamkeit lassen – wie die schlafenden Jünger auf dem Ölberg – schämt er sich unser nicht. Er nennt uns seine Brüder und Schwestern.

An diesem Tisch, an den wir auch heute wieder treten dürfen, bekommen wir einen Bruder. Einen Bruder, der sich unser nicht schämt.

Unter Geschwistern ist das keineswegs selbstverständlich. Dass man sich über seinen Bruder so ärgert, dass man sich sogar in der Öffentlichkeit seiner schämt, kommt nicht selten vor. Mancher wird rot vor Scham über das tollpatschige Auftreten den Bruders, über seine abstrusen Ansichten oder sein abwegiges Verhalten. Geschwister zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie miteinander durch Dick und Dünn gehen. Oft sind sie miteinander auch besonders kritisch und schämen sich des andern. Deshalb verbrüdern wir uns auch nicht mit jedem. Wir möchten keine Blamage riskieren. Denn für einen, mit dem wir uns verbrüdert haben, müssen wir uns gegebenenfalls auch schämen. Die Fehler, die er macht, werden auch uns zugerechnet.

Christus ist ein Bruder, dessen wir uns nie schämen müssen. Aber wichtiger noch ist, dass er sich unser nicht schämt. Er kennt unsere Grenzen aus eigenem Erleben, denn er ist Mensch geworden. Er weiß um unsere Angst, denn er hat die tiefste Todesangst durchlebt.

Aber er, der uns Brüder und Schwestern nennt, ist doch der, zu dem Gott selber gesagt hat: „Du bist mein lieber Sohn“. Er gehört zu Gott wie keiner von uns. Er ist Gottes Liebe in Person. Und er schämt sich nicht, uns Brüder und Schwestern zu nennen. Obwohl er viel Gründe nennen könnte, sich unserer zu schämen, sagt er uns: Ihr habt denselben Vater. Ihr seid hineingenommen in dieselbe Liebe Gottes. Durch mich und wie mir gilt euch Gottes Güte. Nach ihm seid ihr genannt, von ihm seid ihr geliebt, bei ihm seid ihr geborgen. Ihr habt Kindesrecht beim Vater. Immer könnt ihr zu ihm kommen. Ihr habt freien Zugang zu seinem Herzen. Und deshalb braucht ihr nicht irre zu werden bei eurem Bemühen um eine geschwisterliche Welt. Denn ihr habt einen Bruder, der nie an euch irre wird.

Jesu Brüder und Schwestern und damit Gottes Kinder zu sein – das ist eine Würde ohnegleichen. Diese Würde wird nicht nur Ausnahmegestalten zugesprochen – einem Franz von Assisi oder einer Elisabeth von Thüringen, einem Dietrich Bonhoeffer oder einer Mutter Teresa. Auch Versagern, sogar Verrätern wird diese Würde zuerkannt. Jesus schämt sich nicht, Leute wie uns seine Brüder und Schwestern zu nennen. Dass er uns so nennt, verbindet uns tiefer miteinander, als wir es selbst könnten. Was uns trennt, können wir hinter uns lassen. Unsere Vorurteile haben keine trennende Macht mehr.

Das feiern wir heute, in der Nacht des Verrats. Jesus schämt sich nicht, uns Brüder und Schwestern zu nennen. So wird sogar aus der Nacht des Verrats eine Nacht der Hoffnung.

Amen.