Predigt am Ostersonntag, im Berliner Dom (1. Korinther 15,19-28)

31. März 2002

„Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm ‚alle Feinde unter seine Füße legt’. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn ‚alles hat er unter seine Füße getan’. Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem.“

(1. Korinther 15,19-28)

I.

„Woran denken Sie bei Ostern?“  Durch Plakate und Anzeigen hat unsere Kirche in den letzten Wochen diese Frage gestellt. Jeder konnte sich seinen Reim darauf machen. Zum Schmunzeln gab es auch etwas. Denn vier Antworten auf diese Frage wurden zur Auswahl vorgegeben: Ich denke bei Ostern an Ferien, an Cholesterin, an die Auferstehung Jesu, an Langeweile mit der Familie. Im Internet hatte man die Möglichkeit, die eigene Antwort auch mitzuteilen. An Cholesterin dachten die wenigsten; dass Ostereier im Übermaß den Cholesterinspiegel im Blut erhöhen, war für kaum jemanden der erste Gedanke. Ziemlich viele, jeweils etwa fünfzehn Prozent, sagten, sie dächten an Ferien oder an Langeweile mit der Familie. Das können ja auch zwei Seiten derselben Medaille sein: Ferien und Langeweile – vor allem, wenn es am Ferienort keinen Fernsehapparat geben sollte. Und von Ferien reden zu Ostern ziemlich viele. Die Stadt Berlin ist gar nicht regierbar in diesen Tagen, so wird uns berichtet; vom ganzen Senat ist nur ein einziges Mitglied in der Stadt geblieben. Und das ist ausgerechnet der Schulsenator – wo er sich doch am ehesten an die Schulferien halten könnte.

„Woran denken Sie bei Ostern?“ Mehr als 75 Prozent der Menschen, die auf diese Frage im Internet geantwortet haben, sagen, sie denken bei diesem Fest an die Auferstehung Jesu. Und die meisten wissen auch, dass jetzt Ostern ist. Es war doch nur ein Einzelfall, der gute Mann, der gestern wirklich anrief, um „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen. Der gute Mann heißt (das ist nicht erfunden) mit Namen Nikolaus; das bindet ihn offenbar so an das Weihnachtsfest.

„Woran denken Sie bei Ostern?“ Die allermeisten also antworten: an die Auferstehung Jesu. Würde man aber weiterfragen: „Glauben Sie an die Auferstehung“, so könnte man bei manchem mit Abwehr oder Ausweichen rechnen. Auch der große Philosoph Hans-Georg Gadamer, der vor wenigen Wochen in dem für die meisten von uns unvorstellbaren Alter von 102 Jahren gestorben ist – noch ein Jahr älter als die Queen Mum – , hat auf diese Frage ausweichend geantwortet. In dem letzten Interview seines Lebens wurde er von einem neunjährigen Mädchen danach gefragt. Ob er sich ein Leben nach dem Tod vorstellen konnte, vermochte er nicht zu sagen.

II.

Wenn aber unsere Hoffnung sich auf dieses Leben beschränkt, dann ist es mit der Hoffnung nicht weit her. Der Apostel Paulus schärft das in seinem Brief an die christliche Gemeinde in Korinth mit großem Nachdruck ein. Um drei Themen kreist dieser Brief: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und nicht aus Zufall stellt der Apostel die Hoffnung an den Schluss. Denn an ihr entscheidet sich alles.

Deshalb verwendet Paulus alle erdenkliche Sorgfalt darauf, in den Zweifelnden den Glauben an die Auferstehung Jesu zu stärken. Das Bekenntnis zu seiner Auferstehung meint freilich nicht, dass er in dieses sterbliche Leben oder in ein anderes sterbliches Leben zurückgekehrt ist. Mit einer Seelenwanderung ist die Auferstehung nicht zu verwechseln. Sondern Jesus wurde von Gott angenommen und erhöht. Bei ihm ist er in das ewige Leben eingetreten. Die äußerste Niederlage hat sich in den höchsten Triumph verwandelt.

Leicht errungen ist dieser Sieg nicht. Keiner hat einen schmählicheren Tod auf sich nehmen müssen als Jesus. Nicht nur die Art und Weise seiner Hinrichtung zeigt das, dieser schreckliche und qualvolle Tod am Kreuz. In diese Qual hat er all die Gottverlassenheit hineingenommen, die Menschen angesichts des Todes überfallen kann: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber das Grab, in das man ihn gelegt hatte, erwies sich als leer. Und Maria Magdalena zusammen mit anderen Frauen, danach auch seinen Jüngern zeigte er sich als der Lebendige. Der Tod konnte ihn nicht halten; diese Gewissheit breitete sich schnell aus. Und schließlich erreichte sie auch Paulus, der die Anhänger Jesu zuerst verfolgt hatte. Deshalb redet der Apostel so ausdrücklich und so eindringlich von der Hoffnung über den Tod hinaus: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter den Menschen.“

Denn nicht nur um den Glauben an die Auferstehung Jesu geht es dem Apostel, sondern auch um die Hoffnung auf unsere Auferstehung. Dem skeptischen Einwand, ob ich denn wirklich an die Auferstehung glauben soll, begegnet er mit der Rückfrage: Glaubst du denn an den Tod? Nein, der Tod soll uns nicht beherrschen, sondern das Leben. Nicht an Adam sollen wir glauben, mit dem die Herrschaft des Todes sich ausbreitete, sondern an Christus, mit dem das Leben seinen Siegeszug beginnt.

Ein Herrschaftswechsel hat sich vollzogen: von Adam zu Christus, vom Tod zum Leben, vom Glauben an den Tod zur Hoffnung auf die Auferstehung.

III.

Noch einmal: Glauben wir an den Tod oder hoffen wir auf die Auferstehung? So werden wir heute gefragt. Gestern war der erste Karsamstag in der Geschichte Berlins, an dem die Geschäfte bis zwanzig Uhr geöffnet sein durften. Die „lange Nacht des Shopping“, die sich manche erträumt hatten, wurde zwar verschoben. Aber symbolische Bedeutung haben solche Vorgänge schon. Und deshalb hat unsere Kirche einem solchen Vorhaben widersprochen. „Sire, geben Sie Kauffreiheit“, wurde mir deshalb heute in einer Zeitung entgegengehalten. Aber ich bleibe dabei: Die Osternacht, die am Karsamstag als eine Nacht des Trauerns beginnt und in den Jubel des Ostermorgens hineinführt, ist eine ganz besondere Nacht, die man nicht der Herrschaft des Kommerzes unterwerfen darf. Wir brauchen Zeiten, in denen wir uns daran erinnern: Es kommt nicht nur darauf an, was wir selbst aus diesem Leben machen. Nur dann können wir dem Einspruch Stand halten, der uns erklärt, es gebe nichts, was über dieses Leben hinaus zu hoffen wäre. Einstweilen ist der Materialismus unserer Gewohnheiten und Denkweisen noch weithin ungebrochen. Das kurzzeitige Erschrecken über Terror und Krieg reißt die meisten daraus nicht wirklich heraus. Auch die dunklen Schatten, die der Konflikt im Heiligen Land auf dieses Osterfest fallen lässt, verdrängen wir am liebsten. Aber wo immer Gewalt und Hass das letzte Wort behalten, breitet sich die Herrschaft des Todes aus. Gerade dort sind Menschen nötig, die auf das Leben hoffen und deshalb für das Leben eintreten.

Deshalb haben wir es im Großen wie im Kleinen nötig, dass Auferstehung in unser Leben strahlt. Denn ohne Hoffnung und ohne Liebe verkümmert unser Leben.

Wie notwendig die Verheißung der Auferstehung ist, erfahren wir am nachdrücklichsten, wenn sie fehlt. Wer kennt nicht aus eigenem Erleben, was geschieht, wenn Hoffnung und Liebe aus dem Leben weichen? Viele Menschen haben dunkle Stunden der Depression erfahren, in denen ihnen Hoffnung und Liebe abhanden kamen. Viele Menschen sehen wir um uns, die unter Umständen leben müssen, unter denen Hoffnung und Liebe ortlos und heimatlos werden. Friedlosigkeit herrscht auch an diesem Osterfest. Wie werden die evangelischen Christen in unserer palästinensischen Partnerkirche in diesem Jahr Ostern feiern? Wird die Angst über sie herrschen? Wird die Zusage der Auferstehung von den Toten ihr Herz erreichen können?

Ihnen wollen wir zurufen, was auch für uns selbst gilt: Achtet behutsam auf alle Zeichen der Hoffnung und der Liebe. Denn sie sind Boten der Auferstehung. Und ohne solche Boten der Auferstehung können Menschen nicht leben. Darum richtet auch selbst solche Zeichen auf – Zeichen der Hoffnung und der Liebe.

Die ein für allemal erfüllte Hoffnung oder die Liebe ohne jeden Schatten liegt noch unerreicht vor uns. Sie erscheinen uns jetzt nur wie ein dunkles Bild, das wir in einem Spiegel sehen. Einst aber werden wir diese Hoffnung und diese Liebe „von Angesicht zu Angesicht sehen.“ Aber jetzt suchen wir ihre Spuren und freuen uns an ihnen – so wie uns in diesen Tagen die Freude am Licht des Frühlings erfüllt. Wir suchen diese Spuren, wo sie sich finden lassen – in der Nähe und in der Ferne, im Alltag und in den besonderen Anlässen unseres Lebens.

Von dem Künstler Joseph Beuys stammt der Satz: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“ Das ist ein befremdlicher, aber zugleich sehr frommer Satz. Weltliche Orte werden zu Orten der Auferstehung, des Aufwachens zu neuem Leben. Und wer würde sich nicht an Erfahrungen auf Bahnhöfen erinnern: Mitten im Gewirr haben zwei Menschen aufeinander gewartet, schließen sich in die Arme, neues Leben beginnt, Vorschein der Auferstehung.

Aber wenn dergleichen im Hauptbahnhof geschehen kann, warum sollte es dann nicht auch in der Kirche möglich sein? Auch in unserem Dom kann das geschehen, in dem es ja an manchen Tagen ähnlich lebhaft zugeht wie auf einem Bahnhof. Die Erleuchtung in einem Gottesdienst, die neue Sicht bei einer Meditation, der Frieden mit Gott und untereinander beim Abendmahl: neues Leben beginnt, Vorschein der Auferstehung.

Der Weg vom Tod zum Leben: das ist das Entscheidende an Ostern. „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Auf diesen Weg vom Tod zum Leben will uns das Osterfest ziehen. Der Blick auf den Gekreuzigten, der zu neuem Leben kommt, verbindet sich mit dem Blick auf die Natur, die zu neuem Leben erwacht. Frühlingsgefühle und die Hoffnung auf neues Leben gehen eine Verbindung ein. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Die Verheißung des Lebens ist stärker. Amen.