Predigt am Ostermontag, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin (Apostelgeschichte 10,34a.36-43)

01. April 2002

„Petrus tat seinen Mund auf und sprach: Gott hat das Wort dem Volk Israel gesandt und Frieden verkündigt durch Jesus Christus, welcher ist Herr über alle. Ihr wisst, was in ganz Judäa geschehen ist, angefangen von Galiläa nach der Taufe, die Johannes predigte, wie Gott Jesus von Nazareth gesalbt hat mit heiligem Geist und Kraft; der ist umhergezogen und hat Gutes getan und alle gesund gemacht, die in der Gewalt des Teufels waren, denn Gott war mit ihm. Und wir sind Zeugen für alles, was er getan hat im jüdischen Land und in Jerusalem. Den haben sie an das Kreuz gehängt und getötet. Den hat Gott auferweckt am dritten Tag und hat ihn erscheinen lassen, nicht dem ganzen Volk, sondern uns, den von Gott vorher erwählten Zeugen, die wir mit ihm gegessen und getrunken haben, nachdem er auferstanden war von den Toten. Und er hat uns geboten, dem Volk zu predigen und zu bezeugen, dass er von Gott bestimmt ist zum Richter der Lebenden und der Toten. Von diesem bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.“

(Apostelgeschichte 10,34a.36-43)

I.

Eine Predigt über eine Predigt sollen Sie heute hören. Denn nichts anderes ist unser Predigttext: eine der kürzesten, der konzentriertesten Predigten aus der Geschichte des Christentums. Wären doch alle Predigten so kurz – werden manche von Ihnen denken. In ein paar Sekunden die ganze Heilsgeschichte – wie angenehm!

Außerhalb der Evangelien ist dies im ganzen Neuen Testament die einzige Stelle, an der das Leben Jesu kurz gefasst dargestellt wird. Das kürzeste Leben Jesu im ganzen Neuen Testament haben wir gerade gehört. Keine wichtige Station scheint ausgelassen zu sein. : die Taufe Jesu durch den Täufer Johannes, durch die er mit heiligem Geist und mit unvergleichlicher Kraft ausgestattet wurde; sein Wirken in Galiläa, bei dem er so viel Gutes getan und ungezählte Menschen gesund gemacht hat. Sein Weg nach Jerusalem schließt sich an, der ans „Holz“ führt, die schreckliche Hinrichtung am Kreuz.

Nach menschlichen Maßstäben könnte die Geschichte damit zu Ende sein. Aber sie geht weiter: „Den hat Gott auferweckt am dritten Tag“; das ist die Wende, die aus dem scheinbaren Scheitern eine Rettung für alle werden lässt. Nun rücken die Zeugen der Auferstehung ins Bild – in erster Linie die, mit denen der Auferstandene Mahlgemeinschaft hielt. Wir haben die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus vor Augen, von denen das Evangelium für den Ostermontag berichtet. Sie hatten den nicht erkannt, der sich zu ihnen gesellte, wie sie, von Jerusalem kommend, das Unbegreifliche beklagten, das sie erlebt hatten. „Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.“ Derselbe Jesus, der zu ihnen beim letzten Mahl vor seinem Tod gesagt hatte: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes“ – derselbe Jesus hatte unter den ersten Auferstehungszeugen zwei ausgewählt, die ihn erst erkannten, als er mit ihnen aß. Vor allem aber können wir an den Auferstehungsbericht im Evangelium des Lukas denken, von dem ja auch die Apostelgeschichte stammt. Allen Jüngern erscheint Jesus – und sie können es nicht fassen. Da zeigt er ihnen seine Hände und Füße, die von den Wundmalen der Kreuzigung gezeichnet sind. Und noch immer können sie es nicht fassen. Da sagt er zu ihnen „Habt ihr hier etwas zu essen? Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. Und er nahm’s und aß vor ihnen.“

So machte er sie zu seinen Zeugen. Weil sie ihn als den lebendigen Herrn über den Tod erfahren haben, bezeugen sie, dass er wiederkommen wird zum Gericht; von ihm können alle, die an ihn glauben, die Vergebung der Sünden empfangen.

II.

Das sind die Stationen des Weges Jesu. So ungefähr werden sie in der kurzen und zugleich umfassenden Predigt des Petrus dargestellt. Was hat ihn zu dieser Rechenschaft veranlasst? Warum begegnet uns dieses kurz gefasste Leben Jesu auf engstem Raum, die einzige Schilderung dieses Lebens, die wir außerhalb der Evangelien im Neuen Testament überhaupt finden? Diese Kurzpredigt von außerordentlichem Niveau nimmt in der Geschichte des Christentums einen einmaligen Platz ein. Gerichtet ist sie an den römischen Hauptmann Kornelius und sein Haus. Er lebte als römischer Soldat und Anführer einer Hundertschaft in Caesarea Philippi, der Hafenstadt in Palästina, in welcher der römische Statthalter seinen Sitz hatte. Kornelius gehörte zu den gottesfürchtigen Römern, die am jüdischen Synagogengottesdienst teilnahmen, ohne doch der jüdischen Religionsgemeinschaft anzugehören. Ganz offenkundig hatte er schon von Jesus gehört. Unbedingt wollte er Genaueres über ihn erfahren. Offenbar wusste er, dass einer der wichtigsten Anhänger Jesu, Simon Petrus, sich im etwa fünfzig Kilometer südlich gelegenen Joppe aufhielt. Er scheute sich nicht, Abgesandte auf den Weg zu schicken, die Petrus holen sollten. Und Petrus scheute sich nicht, die Aufforderung anzunehmen.

Das ist das Erstaunliche an diesem Vorgang. Petrus, der als Zeuge Jesu an die jüdische Glaubensgemeinschaft gebunden blieb, hört den Ruf eines Heiden und folgt ihm. Schon er, nicht erst der Heidenmissionar Paulus, bringt das Evangelium von Jesus einem, der nicht als Glied des jüdischen Volkes aufgewachsen ist. Für Petrus erweist sich diese Begegnung als eine Offenbarung. Bevor er den Weg Jesu vor seinen Hörern auslegt, beginnt er mit einem Bekenntnis: „Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“

So wird das Evangelium zu einer Botschaft für alle Völker. Aber es bleibt zugleich wahr, dass dieses Evangelium zuerst dem Volk Israel gesandt  wurde. Ihm wurde zuerst, wie Petrus einschärft, Frieden verkündigt. Aber von Anfang an ist Jesus der „Herr über alle“. Die Zusage der Vergebung gilt „allen, die an ihn glauben“. 

III.

Das ist die Weite, in der das Evangelium zur Geltung kommen soll. Das Enge ist ihm fremd. Es lebt nicht davon, dass andere ausgeschlossen, sondern dass sie einbezogen werden. Denn es ist das Osterevangelium. Es führt in die Weite. Vom Auferstandenen gilt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und Auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker ... Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Diese Weite gehört zu jeder christlichen Predigt. In diesem Sinn kann es keine christliche Predigt ohne Ostern geben, ohne diesen weltumspannenden Horizont. Das Evangelium ist keine Wohlfühlnachricht für einen Kreis Gleichgesinnter. Es darf niemals eingesperrt werden in das Milieu einer eng gewordenen Gemeinde. Es überschreitet Grenzen – so wie Jesus in der Auferstehung die Grenze zwischen Tod und Leben hinter sich gelassen hat. Es gibt keine christliche Predigt ohne die Zusage, dass der Frieden, den Jesus im Volk Israel zuerst verkündigt hat, allen Völkern gilt.
Es gibt keine christliche Predigt ohne Ostern, ohne die dadurch eröffnete Weite.

Aber auch in anderem Sinn gilt: Es gibt keine christliche Predigt ohne Ostern. Wäre Christus nicht auferstanden, hätte sich sein Evangelium nicht ausgebreitet – über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus. Wann immer wir Gottesdienst feiern, nehmen wir Jesu Auferstehung in Anspruch. Von ihr ist nicht nur einmal die Rede, nämlich an Ostern. Auf sie berufen wir uns das ganze Jahr. Deshalb ist jeder Sonntag ein Auferstehungstag. Deshalb auch hat es einen tiefen Sinn, dass im christlichen Kalender der Sonntag der erste Tag der Woche ist. Mit der Auferstehung, mit diesem Neubeginn des Lebens fängt alles an.

IV.

In wenigen Sätzen stellt Petrus dem heidnischen Hauptmann Kornelius das ganze Evangelium vor Augen. Er hat den Mut, in wenigen Sätzen das Ganze zu sagen: die Nähe Gottes in dem Wanderprediger Jesus, seine Bereitschaft, Gutes zu tun, wodurch er auch uns zum Guten anstachelt, aber ebenso die Gegenwart des Auferstandenen, sein Kommen zum Gericht, die Vergebung der Sünden. Diesen Mut will er uns heute weitergeben: den Mut, das Ganze zu sagen.

Das ganze Evangelium weitersagen, knapp aber unverkürzt: das ist der österliche Auftrag an uns. Leicht durchzuhalten ist dieser Auftrag nicht immer. Viele in unserer Gesellschaft – und vielleicht auch manche in der Kirche selbst – wollen unsere Kirche nur als Wertevermittlerin sehen, als eine Agentur, die sich den Schwachen zuwendet und der Gesellschaft Wertmaßstäbe vermittelt. Jedes Mal, wenn über den Verfall der Werte und der Sitten geklagt wird, höre ich den Ruf nach der Kirche. Doch wer nur ruft „Wir brauchen Werte“, verkürzt das Evangelium. Wer nur darauf achtet, auf welche Erwartungen die Kirche antworten soll, nimmt ihre Botschaft nicht ernst genug. Der Mailänder Kardinal Martini hat es einmal unübertrefflich gesagt: „Die Kirche erfüllt nicht Erwartungen, sie feiert Geheimnisse.“

Für mich ist dieses Osterfest 2002 eine große Einladung, dem Geheimnis des Glaubens mehr Raum zu geben, auch mich selbst nicht reduzieren zu lassen auf das, was gebraucht wird. Gewiss ist die Kirche nach evangelischem Verständnis kein Selbstzweck, sondern Dienerin des Evangeliums. Aber sie ist eben auch nicht dazu da, einfach nur Bedürfnisse und Erwartungen zu befriedigen. Und wenn sie mehr tut, wenn sie das Evangelium zur Sprache bringt, dann dient sie damit nicht einem Eigeninteresse und fördert ihren eigenen Nutzen, wie uns unlängst unterstellt wurde. Wenn wir auf evangelischen Schulen das christliche Bekenntnis weitergeben, so hieß es da, erfüllen wir nur ein Eigeninteresse der Kirche; deshalb könne, so hieß die Folgerung, auch der staatliche Zuschuss für kirchlich getragene Schulen geringer ausfallen als für andere Privatschulen. Ich halte an der Hoffnung fest, dass eine solche Schlechterstellung kirchlicher Schulen nicht das letzte Wort behält. Mit der Freiheit des Bekenntnisses wäre das auch nicht zu vereinbaren.

Aber auch solche Erfahrungen dürfen uns nicht dazu veranlassen, dass wir uns als Kirche auf das beschränken, was gerade gebraucht und gewünscht wird. Das ganze Evangelium zu verkündigen, es sei zur Zeit oder zur Unzeit, das ist unsere Aufgabe. Und das ganze Evangelium schließt Ostern ein, das Geheimnis der Auferstehung.

„Die Kirche erfüllt nicht Erwartungen, sie feiert Geheimnisse.“

Amen.