Ansprache bei der Ökumenischen Vesper zur Verleihung der Preise Pro Europa im Berliner Dom

11. Mai 2002

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.

Pro Europa steht über diesen Tagen hier in Berlin. Pro Humanitate ist der Preis benannt, der gerade verliehen wurde. Die Freude der jungen Generation an der Musik wurde bestärkt. Und das alles in einem ökumenischen Gottesdienst. Der Geist des christlichen Glaubens wird in Anspruch genommen für den Zusammenklang von Kultur, Humanität und Europa, der diese Stunde prägt.

Gibt es einen solchen Zusammenklang?

Der Schritt des Evangeliums nach Europa bahnt sich unscheinbar an, aber seine Bedeutung reicht weit. Es beginnt mit einer Begebenheit, von der die Apostelgeschichte des Lukas berichtet. Der Apostel Paulus befindet sich im kleinasiatischen Troas, als ihn der Ruf nach Europa erreicht. „Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.“

Mit dieser Vision des Paulus beginnt das christliche Europa. In der Bitte des Mazedoniers ist es vorgebildet. Es beginnt mit dem Ruf: „Komm herüber und hilf uns.“ Es war seinem Wesen und seinem Auftrag am nächsten, wenn es in dieser Gestalt der Bitte verblieb. Es geriet immer dann in die Gefahr, sich selbst zu verfehlen, wenn die Bitte sich in einen Triumph verwandelte, wenn der christliche Glaube aus dem demütig Erbetenen zum Herrschaftsmittel wurde.

Geschichtlich betrachtet konnte die Rede vom christlichen Europa oder auch vom christlichen Abendland durchaus etwas Triumphal-Bollwerkartiges annehmen. Dabei liegt wie dem Europa-Begriff so auch dem Begriff des Abendlands von seiner Entstehungsgeschichte ein solcher Überlegenheitsgedanke an sich fern. Den Begriff des Abendlands verdanken wir übrigens indirekt der Bibelübersetzung Martin Luthers, den sie als einen der Reformatoren hier in der Kirche sehen können. Die Rede vom Abendland kam nämlich erst auf, nachdem Luther den Orient, von dem in der Kindheitsgeschichte Jesu die Rede ist, als „Morgenland“ übersetzte. „Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem“ (Matthäus 2,1). Das Abendland entsprach dem Morgenland, der Okzident dem Orient. Weltgegenden waren gemeint, Himmelsrichtungen gar, nicht einfach Kontinente. Erst allmählich wurde das Abendland mit dem weströmischen Reich und seinen Nachfolgern gleichgesetzt.

Heute ist uns bewusst, dass wir uns nicht länger auf einen abendländisch orientierten Europabegriff beschränken dürfen. Dass wir das Gegeneinander von Jahrhunderten in ein neues Miteinander verwandeln, ist die historische Aufgabe, die vor uns liegt.

Aber auch dann ist Europa nicht zureichend verstanden, wenn wir nur von seinen christlichen Wurzeln sprechen.  Denn für Europas kulturelle und religiöse Prägung sind drei Namen kennzeichnend: Athen, Rom und Jerusalem. Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Den Römern verdankt es die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen; die Bibel der Christen schließt die Hebräische Bibel ein. Wann immer das Christentum sich von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen.

Wer nach der christlichen Prägung Europas sucht, blickt über Europa hinaus, in den Nahen Osten zumal, die Ursprungsregion des christlichen Glaubens. Ich bin gerade von einer Reise nach Ägypten und in den Libanon zurückgekehrt. Vor mir steht das Bild der ägyptischen Wüste, die seit dem 4. Jahrhundert eine Stätte ununterbrochenen mönchischen Lebens ist.

Europa hat mehrere Wurzeln. Aber das Gesicht Europas ist durch das Christentum mitgeprägt. Der Kontinent ist überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche, die mit dem Tag der Auferstehung ihren Anfang nimmt, bis zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Und vor allem: Das Bild vom Menschen ist von hier aus geprägt: das Bild von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt.

Heute von Europas christlicher Prägung zu sprechen, heißt wahrzunehmen, wie sich auf diesem Kontinent Säkularisierung und religiöse Pluralität überlagern. Entkirchlichung im Osten, Materialismus im Westen, das Einwandern des Islam nach Europa tragen dazu bei. Angesichts dieser Situation, aber vor allem um ihrer Botschaft willen treten die Kirchen in eine neue Phase ihrer ökumenischen Zusammenarbeit ein. In einem Jahr, im Mai 2003, wird der erste Ökumenische Kirchentag hier in Berlin dafür ein deutliches Zeugnis ablegen. Die Differenzen zwischen den Kirchen behalten ihr Gewicht. Doch ihr Sinn besteht gerade darin, dem Gemeinsamen zur Sprache zu verhelfen: der Botschaft von Gottes Gnade für Mensch und Welt.

„Komm herüber und hilf uns“: der Hilferuf des Mazedoniers an den Apostel Paulus ist heute so aktuell wie vor zwei Jahrtausenden, als das Christentum nach Europa kam. Der Kontinent wird sich in dem Maß wieder dem christlichen Glauben öffnen, in dem dieser wieder in der besonderen Autorität der Bitte auftritt. „Komm, heiliger Geist, und erneuere deine Christenheit“: nicht in der Gestalt einer triumphalen Behauptung, sondern in pfingstlicher Demut  wollen wir vom christlichen Europa sprechen. So mögen sich Schritte ergeben zu dem Zusammenklang zwischen Europa, Humanität und Kultur, dem dieser Tag gewidmet ist.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.