Predigt am Pfingstsonntag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin (Römer 8, 10-11)

19. Mai 2002

„Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“

(Römer 8, 10-11)

I.

Pfingsten gehört zu den großen Festen im Kirchenjahr. Hinter Weihnachten und Ostern, das ohne den Karfreitag nicht gefeiert werden kann, steht es nicht zurück. Gott ist Mensch geworden, so heißt die Weihnachtsbotschaft. Der Gekreuzigte ist auferstanden. So sagt es die Botschaft von Ostern. Und Pfingsten?

Welches Ereignis verbinden die christlichen Kirchen mit Pfingsten? So wurde unlängst in einer Umfrage des evangelischen Magazins Chrismon gefragt. Die Unsicherheit der Antworten ist beachtlich. Im Westen Deutschlands können 21 Prozent der Befragten, im Osten Deutschlands sogar fast 50 Prozent mit Pfingsten nichts anfangen. Viele verwechseln das Pfingstfest auch mit Ostern oder Himmelfahrt. 16 Prozent der Deutschen ordnen die Auferstehung Jesu dem Pfingstfest zu, 14 Prozent verbinden das Fest mit Jesu Erhöhung zum Vater. Manche sind der Auffassung, an Pfingsten habe Mose von Gott die Zehn Gebote erhalten. Die Antwort, an Pfingsten sei der Heilige Geist auf die Apostel herabgesendet worden, halten in Westdeutschland nur 39 Prozent der Befragten, in Ostdeutschland sogar nur 12 Prozent der Befragten für richtig. In Berlin haben angeblich sogar nur vier Prozent der Befragten die richtige Antwort parat.

Ich gebe es zu: Das Kommen des Geistes ist nicht so leicht anschaulich zu machen wie das Wunder der Geburt in der Krippe. Das Drama des Heiligen Geistes ist unscheinbarer als das Drama von Kreuz und Auferstehung. Aber das Kommen des Geistes ist deshalb nicht weniger wichtig. Es bewirkt eine Schubumkehr. Und diese Schubumkehr kann Leben retten.

Wie wichtig eine Schubumkehr ist, erlebe ich immer wieder beim Fliegen. Bei jedem Flug gibt es einen Augenblick, bei dem ich die Luft anhalte. Er ist so ungewohnt wie beim ersten Mal. Es ist der Augenblick der Landung. Ich warte nicht so sehr, ob die Räder richtig auf der Landebahn aufsetzen. Ich warte auf die Schubumkehr. Wenn die Räder aufgesetzt haben, spüre ich plötzlich sehr deutlich, welcher gewaltigen Kraft ich mich anvertraut habe. Die Geschwindigkeit, die mir in der Luft gar nicht so auffiel, nun wird sie beängstigend. Wird der Pilot sie unter Kontrolle bringen? Wird er das Tempo verlangsamen. Es gäbe eine Katastrophe, wenn die Triebwerke das Flugzeug nicht mit derselben Kraft abbremsten, mit der sie es auf Geschwindigkeit gebracht haben. Erst wenn diese Umkehr der Kraft, die in dem Flugzeug steckt, gelingt, verlangsamt es seine Fahrt. Mich zieht diese Kraft unwiderstehlich nach vorn, in den Sicherheitsgurt. Aber ich atme erleichtert auf, wenn ich das Gefühl habe, das Tempo ist unter Kontrolle, das Flugzeug kann an seinen Zielpunkt gesteuert werden. Schubumkehr nennen die Techniker das, wenn die Beschleunigungskraft in eine Bremskraft verwandelt wird. Auch das Umgekehrte ist denkbar. Gut, wenn diese Umkehr immer wieder gelingt.

Pfingsten ist ein Fest der Schubumkehr. Natürlich kommt dieses Wort in der Bibel nicht vor. Von Fliegen ist dort noch nicht die Rede. Es erscheint dort allenfalls als eine der Versuchungen des Teufels, gegen die Jesus sich verwahrt. Von den Zinnen des Tempels soll er sich hinabstürzen, denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Da sprach Jesus zu dem Versucher: „Wiederum steht auch geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“

Das ist doch ein gutes Bild für das Fliegen: von den Engeln auf Händen getragen werden. Und es ist ein gutes Bild für das Wirken des Geistes: die Schubumkehr. Wie gesagt, die Bibel kennt dieses Wort nicht. Aber sie beschreibt mehrfach die Umkehr vom rasenden Weg ins Verderben zu einem neuen Anfang. Die Umkehr des ängstlichen Sich-Verkriechens der Jünger Jesu ist der mutige Auftritt  des Petrus vor der Menge in Jerusalem. Die Umkehr der babylonischen Sprachverwirrung ist das Pfingstwunder: Fremde können sich verstehen. Das Ende, das Jesu Weg auf Erden findet, kehrt sich um in den Beginn des Weges der christlichen Kirche durch die Zeiten.

Der Schub dazu kommt nicht aus der besseren Einsicht vernünftiger Menschen; er ist auch nicht die Frucht pädagogischer Sonderprogramme. Einzig und allein der Schub, den Gott selbst uns Menschen mitgibt, schafft die Umkehr in eine neue, heilsame Richtung. Wie ein himmlisches Triebwerk hören die Menschen das „Brausen“, mit dem der Heilige Geist in das Haus einbricht, in dem sich die Jünger verschanzen.

Es geht nicht nur darum, dass die Jünger begeistert sind. Es geht um die Richtung, die ihr Leben nimmt. Und es geht um die Richtung, die sie dem Leben anderer geben: Einssein mit Gott, Gemeinschaft untereinander, Abkehr von der Selbstzerstörung, Gelingen des Lebens: das sind die Richtungsangaben, um die es geht. Leib und Geist, Sünde und Gerechtigkeit – das sind die schwergewichtigen Worte, mit denen der Apostel Paulus klarmacht: An Pfingsten geht es um eine Richtungsentscheidung. Pfingsten hat es nicht mit irgendeinem diffusen Geist zu tun. Es geht um den Geist Gottes, der Orientierung gibt.

II.

Eine neue wissenschaftliche Disziplin wird angekündigt. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hat ihr seine Pfingstausgabe gewidmet. „Neurotheologie“ soll diese Disziplin heißen. Ihre Aufgabe besteht darin, herauszufinden, in welcher Gehirnregion die Religion ihren Sitz hat. Man will wissen, welche Teile des Gehirns aktiviert werden, wenn Menschen an Gott denken, religiöse Empfindungen haben. Was geht in dem Gehirn eines Menschen vor, der eine Erleuchtung hat? Welche Gehirnregionen werden durch Meditation aktiviert, gibt es einen besonderen Gehirnbereich für Spiritualität? Vilayanur Ramachandran heißt der Forscher an der kalifornischen Staatsuniversität in San Diego, der es auf diesem Gebiet angeblich besonders weit gebracht hat. Im Schläfenlappen vermutet er das Gott-Modul. „Haben wir jetzt die Hotline zum Himmel?“ So fragt er allen Ernstes. Und er will damit an die gewaltigen Erfolge anknüpfen, die in der Erforschung des menschlichen Gehirns gelungen sind: So klärten die Hirnforscher „auf, wie das Großhirn Bilder und Töne verarbeitet, sie spürten die Überlebenszentren im Stammhirn auf. Sie entdeckten den Sitz des Lächelns in den Basalganglien und das Portal der Erinnerung im Hippokampus. Ja, selbst vor dem Rätsel, wie das Gefühl von Glück, Angst oder Scham entsteht, schreckten sie nicht zurück.“ Nur davor, den Sitz des Gottesbewusstseins aufzufinden, scheuten sie bisher noch zurück.  Nun ist das angeblich anders geworden.

Warum soll daran nicht etwas Richtiges sein? Dass wir Menschen Religion haben, hängt damit zusammen, dass wir uns zu unserer Welt verhalten können. Wir sind nicht an das Reiz-Reaktions-Schema gebunden, dem die Tiere unterworfen sind. Zwischen Reiz und Reaktion tritt vielmehr die Möglichkeit bewusster Entscheidung. Wir Menschen sind offen für die Schubumkehr. Unser Leben kann eine neue Orientierung annehmen. Darin liegt nicht nur die Wurzel menschlicher Kultur; hier sind wir auch beim Kern von Religion.

Aber damit ist noch nichts über deren Wahrheit gesagt: Im Namen einer göttlichen Kraft könne die größten Grausamkeiten geschehen. Die Täter des 11. September haben sich ganz offenbar als Gotteskrieger verstanden und für ihr Verbrechen eine göttliche Autorität in Anspruch genommen. Christen haben die Religion der Barmherzigkeit und der Liebe zur Rechtfertigung von Kreuzzügen missbraucht. Die Freiheit, die sich für uns Menschen daraus ergibt, dass wir nicht an ein tierisches Reiz-Reaktions-Schema gebunden sind, kann auf schreckliche Weise verkehrt werden. Das kann auch im Namen Gottes geschehen; es kann mit religiöser Erregung verbunden sein, die Neurologen meinetwegen im Schläfenlappen messen können. Über die Wahrheit dessen, was dabei im Namen Gottes geschieht oder wofür religiöse Erregung in Anspruch genommen wird, sagt die Neurotheologie nichts.

Der Heilige Geist scheidet die Geister. An welcher Stelle das Gottesbewusstsein seinen Ort hat, ist nicht so entscheidend. Es kommt darauf an, dass es sich wirklich auf den lebendigen Gott richtet. Deshalb die schroffen Entgegensetzungen, mit denen der Apostel Paulus arbeitet wie kein anderer: Fleisch und Geist, Sünde und Gerechtigkeit, Tod und Leben. Ichumsorgtheit und Gottoffenheit, Unterwerfung unter die Gewalt des Todes und Zuwendung zum Licht des Lebens – das ist die Grundentscheidung, in der wir durch die Schubumkehr des Geistes Klarheit gewinnen sollen.

Übrigens hat diese scharfe Entgegensetzung – auch die Entgegensetzung von Fleisch und Geist – mit Leibfeindlichkeit nichts zu tun, wie man allzu lange gedacht hat. Gott „wird eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt“: so heißt die Richtung, die sich aus der Schubumkehr des Geistes ergibt. Da ist unser Leib einbezogen. Gottes Freundlichkeit richtet sich nicht gegen unseren Körper, sondern bezieht ihn ein. Zwar braucht nicht alles so zu bleiben, wie es ist – auch nicht im Umgang mit mir selbst, mit meinem Körper, mit meinen Wünschen. Aber das Neue, das entsteht, wenn ich mich auf das Wirken des Geistes einlasse, schließt nichts aus, auch meinen Körper nicht. Auch meine Wünsche gewinnen eine neue Bedeutung. Das, woran ich mich freue, rückt in einen neuen Horizont. Das, worüber ich spreche, gewinnt eine neue Bedeutung.

Es kommt eben darauf an, ob es dem Fleisch dient oder dem Geist, der Sünde oder der Gerechtigkeit, dem Tod oder dem Leben. Welche Richtung mein Leben nimmt, danach bin ich gefragt. Pfingsten stellt diese Frage.

III.

Der Heilige Geist scheidet die Geister. Das löst Streit aus. Und in diesem Streit stehen wir mitten drin, im Kleinen wie im Großen.

Nehmen Sie ein Beispiel, bei dem man in diesen Tagen jedes einzelne Wort, das man sagt, zuvor auf die Goldwaage legen muss: den neu entbrannten Streit um den Antisemitismus. Ich hätte nicht erwartet, dass wir in Deutschland noch einmal einen Streit darüber ausfechten müssen. Aber jetzt müssen wir es. Jetzt muss man klar und unzweideutig sagen, dass eine politische Partei, die mit antisemitischen Emotionen spielt, sich um den politischen Kredit bringt. Auch die Kritik an der gegenwärtigen Politik des Staates Israel darf kein Vorwand dafür sein. Wenn es uns nicht gelingt, die kritische Auseinandersetzung über die gegenwärtige Politik Israels von antisemitischen Tönen freizuhalten, dann breitet sich ein Ungeist aus, der gerade in unserem Land keinen Platz mehr finden darf. Freilich geht es auch nicht an, jedem Antisemitismus vorzuwerfen, der befürchtet, dass Israels Politik den Frieden nicht fördert, sondern ihn in noch weitere Ferne rückt.

Wenn jüdische Frauen fürchten müssen, dass ihnen der Davidsstern, den sie an einer Kette tragen, vom Hals gerissen wird, ist dies unerträglich. Wenn ein jüdischer Rabbiner Stadtviertel meiden muss, in denen er mit Pöbeleien konfrontiert ist, ist das beschämend. Schweigen können wir dazu nicht; wir haben auch nicht geschwiegen – und so wird es auch weiterhin sein.

Welcher Geist wird die nächste Woche bestimmen? Wird ein pfingstlicher Geist unsere Stadt prägen, wenn der amerikanische Präsident Bush in ihr zu Besuch ist? Ein Geist der Erneuerung und des Friedens, ein Geist der Versöhnung und der Überwindung von Gewalt? Am Turm der Marienkirche hat vor einigen Tagen ein Unbekannter unautorisiert und rechtswidrig ein großes Poster angebracht: Frieden für die Welt, Brezeln für Bush. Mit diesem geschmacklosen Poster wollte er daran erinnern, dass Bush sich an einer Brezel verschluckt hatte und dadurch gestürzt war. Ist das der Geist, in dem in den nächsten Tagen für den Frieden demonstriert werden soll? Ich hoffe nicht. Mit Konfrontation, Abwertung und Gehässigkeit ist dem Frieden nicht gedient.

Das Plakat an der Marienkirche wurde entfernt, so schnell das möglich war. Mein Wunsch ist, dass nicht nur dieses Plakat entfernt wird, sondern auch der Geist, der aus ihm spricht. Mein Wunsch ist, dass wirklich die Hoffnung auf Frieden, auf ein Ende von Gewalt und Gegengewalt die nächsten Tage bestimmt, und dass diese Hoffnung auch das Ohr das amerikanischen Präsidenten erreicht. Dass die für die nächsten Tage geplanten Demonstrationen diesem Zweck dienen werden, bezweifle ich. Wir brauchen einen anderen Ton, wir brauchen einen pfingstlichen Geist. „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein; verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“ Amen.