Predigt im Ökumenischen Gottesdienst am Pfingstsonntag in der Katholischen Pfarrkirche St. Augustinus

20. Mai 2002

I.

Welches Ereignis verbinden die christlichen Kirchen mit Pfingsten? So hieß in diesen Tagen das Thema einer Umfrage im evangelischen Magazin Chrismon. Die Unsicherheit der Antworten war beachtlich. Im Westen Deutschlands können 21 Prozent der Befragten, im Osten Deutschlands sogar fast 50 Prozent mit Pfingsten nichts anfangen. Viele verwechseln das Pfingstfest auch mit Ostern oder Himmelfahrt. Nahezu ein Fünftel der Befragten behauptet, an Pfingsten sei Jesus auferstanden, beinahe genauso viele verbinden das Fest mit Jesu Erhöhung zum Vater. Man kann sogar die Auffassung finden, an Pfingsten habe Mose von Gott die Zehn Gebote erhalten. Die Antwort, an Pfingsten sei der Heilige Geist auf die Apostel herabgesandt worden, halten in Westdeutschland nur 39 Prozent der Befragten, in Ostdeutschland sogar nur 12 Prozent der Befragten für richtig. Angeblich sollen in Berlin sogar nur 4 Prozent der Befragten die richtige Antwort gewusst haben. Aber ich weigere mich, das zu glauben. Das darf einfach nicht wahr sein.

Vielmehr habe ich die Umfrage schnell zur Seite gelegt, als ich zu den Behauptungen über uns Berliner kam. Aber eigentümlich fand ich doch, wie viel schwerer sich die Menschen mit Pfingsten tun als mit Weihnachten oder Ostern. Das Kommen des Geistes ist nicht so leicht anschaulich zu machen wie das Wunder, dass Gott als Kind in der Krippe zu uns kommt. Das Drama des Heiligen Geistes ist unscheinbarer als das Drama von Kreuz und Auferstehung.

Aber das Kommen des Geistes ist nicht weniger wichtig. Dass er uns erreicht, kann über unser Leben entscheiden. Das Leitwort für unseren Gottesdienst weist uns darauf hin: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Wenn wir von diesem Geist verlassen sind, steht es schlecht um uns. Wenn er uns erreicht, gewinnen wir Klarheit für unser Leben.

II.

Der Heilige Geist fällt nicht einfach vom Himmel. Dass er die Menschen erreicht, ist alles andere als selbstverständlich. Menschen können ihm Raum geben oder sich ihm in den Weg stellen. Er weht, wo er will; aber manchmal hören wir vor lauter eigenem Getöse sein Wehen nicht. Wie er einen Menschen erreicht, wird beispielhaft in dem Abschnitt geschildert, aus dem das Leitwort für unseren Gottesdienst stammt.

Im zweiten Brief an Timotheus lesen wir im ersten Kapitel: „Ich weiß Gott Dank, dem ich von den Voreltern her mit reinem Gewissen diene, wie ich unablässig deiner gedenke in meinen Gebeten Tag und Nacht, voll Verlangen, dich zu sehen, eingedenk deiner Tränen, damit ich mit Freude erfüllt werde; denn ich bin erinnert worden an den ungeheuchelten Glauben, der in dir ist, der zuerst in deiner  Großmutter Lois und deiner Mutter Eunike wohnte, nach meiner Überzeugung aber auch in dir. Und aus diesem Grunde erinnere ich dich daran, die Gnadengaben Gottes anzufachen, die durch die Arbeit meiner Hände in dir sind. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Timotheus 1,3-7).

In der Autorität des Apostels Paulus ist der Brief an Timotheus geschrieben, wenn auch wohl erst später zu Papier gebracht. Im Gefängnis müssen wir uns den Apostel denken, in einer Situation der Bedrängnis, in der man umso inständiger Ausschau hält nach dem, was einem Freude machen kann. Timotheus wiederzusehen, das wäre ein solcher Grund zur Freude.

Timotheus, zu deutsch Fürchtegott, ist ein oft genannter Schüler, Gefährte und Mitautor des Apostels Paulus; auf vielen Missionsreisen hat er ihn begleitet. Er stammt aus der kleinasiatischen Stadt Lystra, in der heutigen Türkei gelegen. Dort ist er als Sohn eines griechischen Vaters und einer jüdischen Mutter aufgewachsen. Multireligiöses und multikulturelles Aufwachsen vor zweitausend Jahren tritt uns vor Augen. Wo findet der kleine Fürchtegott eine Glaubensheimat? Wer erinnert ihn an die Wurzeln der eigenen Existenz? Wer spannt für ihn den Horizont der Hoffnung auf, ohne den der Atem kurz wird? Der Vater – ein griechischer Heide – weiß sich natürlich nicht an das biblische Gebot gebunden: „Wenn dich dein Sohn – oder deine Tochter – fragen wird: Woher kommen alle diese Gebote?, dann sollst du antworten: Ein umherziehender Aramäer war mein Vater.“ Sondern was wir so leichthin den „Gott der Väter“ nennen, begegnet ihm im Vorbild und aus dem Mund der Mütter. So vollzieht sich religiöse Sozialisation, nicht nur bei Timotheus, unserem kleinen Fürchtegott. Die Mütter und Großmütter sind es, denen wir allermeist die frühen Anfänge unseres Glaubens verdanken. In diesem Fall werden sie glücklicherweise mit Namen genannt und bleiben nicht – wie sonst so oft – namenlos. Wir kennen ihre Namen; trotzdem hat man nur selten auf sie geachtet – auf Lois und Eunike, die taten, was seitdem viele Frauen getan haben. Sie gaben ihren Glauben weiter und hielten dadurch den Raum für den Heiligen Geist offen.

Der so Erzogene hat einen guten Ruf. Darauf, ihn beschneiden zu lassen, hat die jüdische Mutter interessanterweise verzichtet. Heutige Ausleger unterschätzen vielleicht ihren Weitblick, wenn sie deshalb sagen, sie sei nur „mittelfromm“ gewesen. Vielleicht suchte sie einen Weg, dem Sohn auch den Zugang zum heidnischen Vater zu bewahren. Auffälligerweise hält Paulus es für nötig, die Beschneidung noch nachzuholen, damit der Weg des Timotheus zum Glauben an Christus den Juden jener Zeit als unanstößig erscheint. Mittelfromm oder nicht: ungeheuchelt wird der Glaube der Mutter Eunike und der Großmutter Lois genannt. Da sage ich: Lieber mittelfromm und ungeheuchelt als überfromm und geheuchelt. Die Geradlinigkeit der Frauen jedenfalls war es, was Timotheus zum Glauben brachte und zu einem wichtigen Glaubenszeugen werden ließ.

Mutter und Großmutter erzählten ihm, wie Gott sein Volk Israel zum Bundesvolk berief, aus der Bedrängnis in Ägypten befreite, in der Verbannung in Babylon bewahrte, wie er ihm durch sein Gesetz zur Treue verhalf und durch die Propheten aus der Verirrung zurückrief. Lois und Eunike brachten ihm die Hoffnung auf den Messias nahe; miteinander waren sie darauf vorbereitet, als Paulus ihnen deutlich machte, in Jesus von Nazareth sei dieser Messias gekommen, der Retter für Juden und Heiden. So wurden Lois und Eunike Christinnen und mit ihnen wurde auch Timotheus, der junge Fürchtegott, Christ. Von Paulus nicht nur beschnitten, sondern auch getauft, wird er für ihn zu einem wichtigen Mitarbeiter. Aber er wäre das nicht geworden ohne die Frauen, die Gemeinde bauen – auch in diesem Fall in weit größerer Zahl als die Männer.

III.

Im Gedanken an Timotheus, den uns inzwischen lieb gewordenen Fürchtegott, an seine Mutter Eunike und seine Großmutter Lois ist dem Schreiber unseres Briefes ein Satz in die Feder geflossen, der zu den wichtigen Kurzformeln unseres Glaubens schlechthin gehört. Für mich persönlich ist er zu einem Wahlspruch geworden: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Es ist kein Geist der Verzagtheit. Die Bedingungen der Gegenwart nimmt er nicht wahr, um vor ihnen zu resignieren, sondern um sich ihnen zu stellen. Der Gottesmangel unserer Zeit, manchmal sogar in der Kirche, ist ein Signal zum Aufbruch, nicht zum Rückzug. Gott zur Sprache zu bringen, die Freude an Gott leuchten zu lassen, ist angesagt. Mürrische Gesichter dagegen sind Ausdruck der Verzagtheit. „Die Wahrheit hat ein fröhliches Gesicht“, hat der Reformator Huldreich Zwingli einmal gesagt. Wenn wir uns das zu Herzen nehmen, können wir Friedrich Nietzsches getrost entgegentreten: „Fröhlicher müssten mir die Christen aussehen“ – hat er gesagt. Nun gut, er kann es haben.

Einen Geist der Kraft gibt uns Gott. Nicht der Überheblichkeit wird das Wort geredet, nicht dem maßlosen Vertrauen auf die eigenen Kräfte. Von der Kraft ist die Rede, von der es bei Paulus heißt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Diese Kraft trägt, wo die Stärke der Superstarken schon längst am Ende ist.

Einen Geist der Liebe gibt uns Gott. Nicht irgendeine unbestimmte Gefühligkeit ist damit gemeint. Es geht um die Liebe, die einen Namen hat: „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.“

Und schließlich gibt uns Gott den Geist der Besonnenheit. Klingt das nicht allzu beschaulich nach der aufrüttelnden Rede von Kraft und von Liebe? Nein, der Geist der Besonnenheit bewahrt uns davor, wie Kerzen zu werden, die von beiden Seiten brennen. Besonnenheit hilft dazu, das Leistbare zu unterscheiden von dem, was unsere Kräfte übersteigt. Besonnenheit hilft dabei, dass wir unsere Liebe so einsetzen, dass sie die Menschen erreicht, und sie nicht auch dort noch verzehren, wo sie nichts bewirken kann. Zur Besonnenheit gehört die Gelassenheit, manche Dinge auf sich beruhen zu lassen, weil wir sie doch nicht ändern können. „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die geändert werden sollten; und gib mir die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“ So beten wir um die Besonnenheit, die uns erst dabei hilft, vom Geist der Liebe und der Kraft wirksamen Gebrauch zu machen.

IV.

http://www.offene-kirchen.de/. Unter diesem Zeichen stand die Nacht, die hinter uns liegt. Über hundert Kirchen in Berlin und weitere Kirchen in Brandenburg hielten ihre Türen offen. Durch Musik und Meditation, Theater und Tanz, Lesungen und Liturgien, Gebet und Gesang wurde verdeutlicht, für welchen Geist Kirchen in dieser Stadt und in diesem Land stehen. Diese dritte Nacht der offenen Kirchen war ein wichtiger Schritt hin auf den Ökumenischen Kirchentag, der in genau einem Jahr Hunderttausende von Christen hier in Berlin zusammenführen wird. Am 28. Mai 2003 soll er eröffnet werden. Die Zahl der Menschen, die sich auf ihn freuen, wächst. Auf dem Weg dahin wollen wir uns von dem Geist leiten lassen, der uns verbindet: dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

Aber der Heilige Geist verbindet nicht nur, er scheidet auch die Geister. Er löst auch Streit aus. Wenn es sein muss, können wir diesem Streit nicht ausweichen.

Nehmen Sie ein Beispiel, bei dem man in diesen Tagen jedes einzelne Wort, das man sagt, zuvor auf die Goldwaage legen muss: den neu entbrannten Streit um den Antisemitismus. Ich hätte nicht erwartet, dass wir in Deutschland noch einmal einen Streit darüber ausfechten müssen. Aber jetzt ist es nötig. Es muss klar gesagt werden: Wer mit antisemitischen Emotionen spielt, bringt sich um jeden Kredit, auch um den politischen. Es muss gelingen, die kritische Auseinandersetzung über die gegenwärtige Politik Israels von antisemitischen Tönen freizuhalten. Freilich geht es auch nicht an, jedem Antisemitismus vorzuwerfen, der befürchtet, dass Israels Politik den Frieden nicht fördert, sondern ihn in noch weitere Ferne rückt.

Wenn jüdische Frauen davor Angst haben müssen, dass ihnen der Davidsstern, den sie an einer Kette tragen, vom Hals gerissen wird, ist das unerträglich. Wenn ein jüdischer Rabbiner Stadtviertel meidet, in denen er mit Pöbeleien rechnen muss, ist das beschämend. Schweigen können wir dazu nicht; wir haben auch nicht geschwiegen – und so wird es auch weiterhin sein.

Welcher Geist wird diese Pfingstwoche bestimmen? Wird ein pfingstlicher Geist wehen, wenn der amerikanische Präsident Bush in unserer Stadt zu Besuch ist? Ein Geist der Erneuerung und des Friedens, ein Geist der Versöhnung und der Überwindung von Gewalt? Mein Wunsch ist, dass die Hoffnung auf Frieden, auf ein Ende von Gewalt und Gegengewalt die nächsten Tage bestimmt, und dass diese Hoffnung auch das Ohr des amerikanischen Präsidenten erreicht. Ob die für die nächsten Tage geplanten Demonstrationen diesem Zweck dienen werden, bezweifle ich. Wir brauchen einen anderen Ton, wir brauchen einen pfingstlichen Geist: nicht einen Geist der Angst, sondern der Kraft; nicht einen Geist des abschätzigen Redens über den anderen, sondern der Liebe; nicht einen Geist des maßlosen Aburteilens, sondern der Besonnenheit. Um dieses Geistes willen feiern wir Pfingsten, das ökumenische Fest schlechthin. „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Amen.