Predigt im Abschlussgottesdienst des Kreiskirchentages in Cottbus

09. Juni 2002

I.

„Steh auf und geh“. Diese Aufforderung, liebe Kirchentagsgemeinde hier in Cottbus, begleitet Sie nun schon den ganzen Tag. Den ganzen Tag über zeigen Sie schon, dass Sie zu den Leuten gehören, die sich das nicht zweimal sagen lassen. Sie sind miteinander keine Stubenhocker. Sie haben sich auf den Weg gemacht. Aus Cottbus, aus Peitz oder Forst oder Burg, aus der Lausitz, dem Gubener Land  oder dem Spreewald sind Sie gekommen. Niemand von Ihnen bleibt vor dem Wetter zu Hause. Wir sind doch nicht aus Zucker. Christen sind unterwegs, sie sind mobil – von der frühen Jugend bis ins hohe Alter. Christen sind mobile Eingreiftruppen Gottes. Sie stehen auf und setzen sich für andere ein. Sie sind von Gottes Liebe bewegt und deshalb für ihre Nächsten im Einsatz.

Aber die Aufforderung kann natürlich auch ganz anders verstanden werden: „Steh auf und geh!“ Das kann auch heißen: „Mach dich aus dem Staub.“ Soll man die Menschen nicht eher zum Bleiben auffordern – die Jungen zum Beispiel, die auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder einem Arbeitsplatz von dannen ziehen und dann aus Westdeutschland schreiben, dass es geklappt hat. Zu Recht revoltieren wir dagegen, dass es nicht hier klappt. Noch immer gibt es zu wenig Arbeitsplätze hier in Brandenburg und zu wenig Ausbildungsplätze dazu. Wir wollen, dass die Menschen sich hier regen, bewegen und betätigen können. Sie sollen arbeiten können, ohne dafür ihre Heimat verlassen zu müssen. Hier wollen wir aufstehen und gehen. Aber man muss uns auch den Raum dafür geben.

Nicht auf Vorzeigeprojekte kommt es den Menschen an, sondern auf verlässliche Arbeitsmöglichkeiten. Wirt merken deutlich, dass nicht der Lausitzring oder der Cargolifter die Lage verändert. Es geht um verlässliche Arbeitsplätze in der Industrie und in der Landwirtschaft, in den Dienstleistungen und in der Kultur. „Steh auf und geh“ – das heißt gerade: Tu etwas, damit die Leute bleiben können.

Ich habe viel Verständnis für die, die aufbegehren, für die evangelische Gemeinde in Guben beispielsweise, die mir schreibt, dass es so nicht weitergeht. Wir stellen uns als Kirche auf die Seite der Betroffenen. Wir streiten für alle, die hier aufstehen und gehen wollen. Hier soll das Leben eine Zukunft haben: Steh auf und geh.

II.

Ausgerechnet einem Lahmen hat diese Aufforderung zuerst gegolten. Tag für Tag wurde er an die Schöne Pforte des Tempels in Jerusalem getragen. Man brachte ihn in den Tempelbezirk, damit er trotz seiner Hinfälligkeit etwas zum eigenen Lebensunterhalt beitrug. Wenn er schon nicht arbeiten konnte, sollte er wenigstens betteln. Dass sich an seinem Zustand etwas ändern würde, erwartete niemand. Er war “Bettler von Beruf” – und vielleicht fügte mancher mit beißender Ironie hinzu: “Er ist Bettler von Beruf – ein dreimal Hoch dem, der dies edle Handwerk schuf!” Denn er war ein vergleichsweise glücklicher Bettler. Keiner warf ihm vor, er sei einfach ein Faulenzer. Dass er, gelähmt wie er war, nicht arbeiten konnte, wurde von allen akzeptiert.

So hielt er seine Hand hin und wartete auf die Münzen, ohne aufzusehen. Aber Petrus, der mit Johannes vorbeikommt, lässt sich darauf nicht ein. Er schaut ihn richtig an und fordert ihn auf, auch ihn anzusehen.

Das ist die entscheidende Wende in dieser Geschichte. Dem achtlosen Wegschauen wird ein Ende gemacht; das mitleidige Achselzucken wird überwunden. Da gehen zwei zum Gottesdienst – Petrus und Johannes. Wer zum Gottesdienst geht, der schaut hin und nicht weg. Er hofft darauf, dass sein Blick erwidert wird. Hinschauen ist der erste Beitrag dazu, dass Menschen menschlich miteinander umgehen. In diesem Fall hilft es sogar dazu, dass einer gehen lernt. Er richtet sich auf und macht sich auf den Weg. Gerechnet hatte damit niemand.

Auch wir rechnen mit so etwas nicht. Man würde uns ja für verrückt erklären. In einer Umgebung, in der man gleich für verrückt erklärt wird, haben Wunder es schwer. Es ist wie in einer Umgebung, in der Singen als unschicklich gilt. Würden Sie dort ein Lied anstimmen? So ist es auch mit einer Umgebung, in der Wunder als unanständig angesehen werden. Würden Sie dort an Wunder glauben?

Aber es kommt vor. Das Leben verändert sich, wenn Menschen hinschauen. Menschen schauen hin, wenn andere verlacht, an den Rand gedrückt, bedroht oder geschlagen werden. Menschen schauen den Kranken an, der sich nicht bewegen kann; dadurch verändert sich für ihn viel. Wenn Behinderte bei ihrem Weg durch die Stadt einem offenen Blick und einem deutlichen Gruß begegnen, geht ihr Weg anders weiter. Wenn Bettlägrige nicht achtlos beiseite geschoben, sondern geachtet werden, gewinnt ihr Leben wieder einen Sinn. Wenn Fremde nicht gemieden werden, sondern einbezogen, dann ist es nicht mehr so leicht, sie zu isolieren. Hinschauen ist der Beginn der Menschlichkeit. Es ist auch der Beginn jedes Wunders.

Zum Hinschauen kommt das Hinhören. Denn auch mit Worten werden Menschen abgeschoben. Das erleben wir in diesen Tagen. Wieder sind es Juden, die abgeschoben werden sollen, diesmal mit Worten. In den letzten Wochen haben wir den Versuch erlebt, antisemitische Parolen hoffähig zu machen. Der eine brüstet sich, dass er die militärischen Maßnahmen des Staates Israels mit Naziverbrechen verglichen hat. Der andere schiebt den Juden selbst die Schuld am Antisemitismus zu. Wir Christen stehen auf und gehen hin, wenn andere verächtlich gemacht werden. Deshalb suchen wir gerade jetzt den Kontakt mit Juden, wo immer das möglich ist. Gegen Ausgrenzung protestieren wir auch dort, wo sie mit Worten geschieht.  Wenn einige wieder auf der Klaviatur des Antisemitismus spielen, dann soll der Klavierdeckel so zugeschlagen werden, dass sie es spüren müssen.  Wir sagen klar: Antisemitisches Denken darf in Deutschland nie wieder ein Echo haben. Es verstößt gegen elementare Gebote der Menschlichkeit. Es verleugnet die Lehren aus der deutschen Geschichte. Und wir Christen fügen hinzu: Auch Jesus war Jude.

III.

„Steh auf und geh“. In der Geschichte von dem Gelähmten hat diese Aufforderung etwas Überraschendes. Der Gelähmte erwartet ein Almosen. Petrus enttäuscht die Erwartung, um sie zu überbieten. Die Nickelmünze, die er vielleicht geben könnte, verweigert er mit der pathetischen Erklärung: “Silber und Gold habe ich nicht” – als hätte der Gelähmte damit im Ernst gerechnet. Es ist, wie wenn wir den einen oder auch die fünf Euro für die Kollekte mit der Erklärung verweigern würden: Fünfhundert Euro habe ich gerade nicht dabei.

Petrus verweigert das Almosen. Was gibt er stattdessen? Ein Wort im Namen Jesu. Er hilft. Und er sagt zugleich, wessen Geschichte sich in dieser Hilfe fortsetzt: die Geschichte des Jesus von Nazareth, der gekreuzigt wurde und doch lebt. Wer im Namen Jesu spricht, traut dem andern zu, dass er ein selbständiger Mensch werden kann und zum aufrechten Gang fähig ist. Dieses Zutrauen gibt Petrus weiter, indem er sagt: “Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher.” Und der Bettler, der mit einer Änderung seines Zustands niemals gerechnet hatte, steht auf, geht in den Tempel, springt herum und lobt Gott.

IV.

Solche Wunder geschehen auch heute. Und sie fangen unscheinbar an. Menschen machen sich einfach auf den Weg. “Wir haben uns einfach selbst als Hilfe geschickt”. So antwortet Jakub Verdral aus Prag auf die Frage, was er mit seinen dreizehn Freunden unternommen hatte. Tschechen sind diese Freunde alle, Schauspielstudenten sind sie zum größten Teil. Sie wollten den Kosovo-Flüchtlingen, die in albanischen Lagern eine notdürftige Zuflucht gefunden hatten, nicht “nur” Geld auf “irgendein imaginäres Konto” überweisen. Sie wollten wirklich etwas tun. Sie besorgten sich einen Autobus, nahmen ein paar Requisiten mit und vor allem Malstifte, Papier, Knete und Bälle; mit all dem machten sie sich auf in die albanischen Flüchtlingslager. “Wir wollten die Leute dort aus dem Grau des Alltags holen und ihnen etwas Freude bringen”, begründet Jakub Verdral ihr Vorhaben. An Hilfe für die Seele werde bei der Flüchtlingshilfe oft zuletzt gedacht, meint der Prager Student. Mit Clown-Auftritten, mit Kunststücken und mit kleinen Theaterszenen wollten sie den Kindern “das Lachen zurückgeben”.

Dass uns das Lachen zurückgegeben wird, ist so wichtig, wie dass die Beine funktionieren. Das Gehen ist nicht nur eine Frage unsere Gehwerkzeuge. Dass wir lachen können, ist genauso wichtig. Und dass wir die Schritte nicht zu groß wählen, die wir gehen wollen. Um gehen zu können, brauchen wir die „Kunst der kleinen Schritte“, um die Antoine de Saint-Exupéry, der Autor des „Kleinen Prinzen“, gebeten hat: „Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr, sondern um Kraft für den Alltag. Ich bitte um Kraft für Zucht und Maß, dass ich nicht durch das Leben taumle. Hilf mir, das Nächste so gut wie möglich zu tun und die jetzige Stunde als die wichtigste zu erkennen. Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Misserfolge und Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe des Lebens sind, durch die wir wachsen und reifen. Bewahre mich vor der Angst, ich könnte das Leben versäumen. Gib mir nicht, was ich mir wünsche, sondern was ich brauche. Herr, lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.“

Ja, so können wir alle aufstehen und gehen. „Steh auf und geh!“ Amen.