Predigt im Berliner Dom (2. Thessalonicher 3, 1-5)

30. Juni 2002

"Weiter, liebe [Schwestern und] Brüder, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und die Geduld Christi." 

(2. Thessalonicher 3, 1-5)

1.

Der Ball muss laufen. Das ist das Gebot des Tages. Heute nachmittag wird die Nation vor Fernsehgeräten und Großleinwänden sitzen und ihn laufen sehen. Schneller muss der Ball sein als die Spieler, wenn es klappen soll. Und dann plötzlich das Tor, das „erlösende“ Tor, auf das so viele hoffen – diejenigen eingeschlossen, die noch vor wenigen Tagen mit ziemlichem Hochmut auf die deutsche Mannschaft geschaut haben. Jetzt plötzlich reden sie alle von dem Jahrhundertspiel zwischen den beiden erfolgreichsten Fußballnationen der letzten fünfzig Jahre. Jetzt rufen sie alle: Der Ball muss laufen.

Das Wort muss laufen. So sagt es der Apostel Paulus. Das ist das Gebot unseres Lebens. Dass das Wort der Wahrheit uns erreicht, darauf kommt es an. Dass Menschen hineingenommen werden in das Wort der Liebe, das haben wir vorhin in Luises Taufe gefeiert: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Dass Menschen in dieser Zusage geborgen sind, ist entscheidend. Dass sie Gott trauen, hilft ihnen dabei, dass sie sich auch selbst etwas zutrauen. Das bleibt über die Jahrhunderte hin der entscheidende Halt unseres Lebens. Das Wort muss laufen.

2.

Der Ball muss laufen – das Wort muss laufen. Ist das ein Gegensatz? Das kann schon passieren. Alles im Leben kann man so vergötzen, dass es zum Wort der Wahrheit in Widerspruch gerät. „Sind Fußballer unsere wahren Götter“ – so heißt die Frage, die unsere Kirche in diesem Monat der Öffentlichkeit vorlegt. Über das Internet haben mehrere tausend Menschen geantwortet. Drei Viertel sagen: „Nein, Fußballer sind nicht unsere wahren Götter“. Aber immerhin jeder Fünfte antwortet: „Ja, Fußballer sind unsere wahren Götter“. Ob die Antwort aus Spaß oder im Ernst so gegeben wird, bleibt ungewiss.

Auch zwischen Sport und Glaube kann ein Gegensatz entstehen, dann nämlich, wenn der Sport zum Idol, der Körper zum Kultobjekt, der Sieg zum Heilsgegenstand und der Sportler zum Götzen wird. Aber wo Menschen Menschen bleiben und nicht Götter werden, wo der Sieg ein Grund zur Freude, aber nicht ein Glaubensartikel ist, wo der Körper eine gute Gabe Gottes ist, ohne verherrlicht zu werden, dort schließen Glaube und Sport sich keineswegs aus.

Das Neue Testament kann den menschlichen Körper sogar als einen Tempel Gottes beschreiben, den man nicht vernachlässigen darf. Dem Kult des Körpers gibt die biblische Botschaft nicht nach, sondern sie setzt ihm Widerstand entgegen. Der Vorrang des Glaubens vor der sportlichen Übung wird deutlich markiert. Aber zugleich kann der sportliche Wettkampf für den Apostel Paulus sogar zum Sinnbild des Glaubens werden: „Wisst ihr nicht, dass die Läufer im Stadion zwar alle laufen, aber nur einer den Siegespreis bekommt? Lauft so, dass ihr ihn gewinnt! Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen Siegeskranz zu bekommen, wir aber einen unvergänglichen. Darum laufe ich nicht wie einer, der ziellos läuft Ich boxe nicht wie einer, der bloß in die Luft schlägt, sondern ich treffe mit meinen Schlägen den eigenen Körper und mache ihn mir gefügig, damit ich nicht etwa anderen predige und selbst untauglich dastehe.“

Der Glaube hilft dazu, den Sinn für Proportionen zu bewahren. Denn er weiß, dass es Wichtigeres gibt als unsere Leistungen, die sportlichen eingeschlossen. Wer glaubt, freut sich über den Erfolg; aber der Erfolg ist ihm nicht alles. Er jubelt mit den Jubelnden, aber er trauert auch mit den Betrübten. Er hat einen Sinn für den Sieg; aber er vergisst den Verlierer nicht. Wer glaubt, weiß, dass das Wort laufen muss. Aber deshalb freut er sich auch, wenn der Ball läuft. Deshalb sage ich allen, die sich für Fußball interessieren: Viel Freude heute nachmittag; und der deutschen Mannschaft viel Erfolg. Aber meine Sympathie gilt auch den Verlierern, egal wer es sein wird. Und einen guten Sonntag wünsche ich allen – auch den Fußballmuffeln.

3.

Denn dass der Ball läuft, ist nicht jedermanns Ding. Das mag ja auch angehen. Der Apostel Paulus aber erklärt in unserem Predigtabschnitt: Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Das ist eine Provokation. So schnell lässt sie einen nicht los. Die Frage ist unausweichlich: Beziehst du das auf dich oder auf andere – „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“?

Hochmut kommt vor dem Fall, heißt es in den Sprüchen Salomos. Wer den eigenen Glauben als allzu sicheren Besitz ansieht, kann ihn besonders gründlich verfehlen. Dass zum Glauben auch die Anfechtung gehört, ist feste evangelische Überzeugung. Evangelischem Glaubensverständnis entspricht es deshalb nicht, wenn man den Glauben wie einen Besitz betrachtet, der anderen vorenthalten ist. Dass der Glaube nicht jedermanns Ding ist, wie Martin Luther so einprägsam übersetzte, enthält auch die Wahrheit über mich selbst.

Und die Wendung, die Luther dafür prägte, hat bis zum heutigen Tag Eingang in unsere Sprache gefunden. "Das ist nicht mein Ding" sagen wir leichthin und über alles Mögliche. Aus dieser Lutherschen Prägung ist längst ein geflügeltes Wort geworden. Die Auswahl ist groß: Arbeit oder Müßiggang, Kino oder Kultur, Popmusik oder Fußball, Kaugummi oder Kaviar, Urlaub zuhause oder auf den Seychellen – das eine oder das andere „ist nicht mein Ding“. Darüber kann man dann nicht diskutieren. Ob man Fußball schaut, Kaugummi kaut und im Urlaub verreist, ist Geschmackssache. Wird der Glaube in eine solche Reihe einsortiert, so wird auch er wie eine Geschmacksangelegenheit betrachtet. Und über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten.

In der Tat wird der Glaube heute von vielen wie eine Geschmackssache behandelt. Er erscheint ihnen wie ein preisgünstiges Angebot, das man - wie in der "freien" Marktwirtschaft - kaufen oder auch liegen lassen kann.  Er geht über den Tisch und wird bezahlt. Was der Käufer damit macht, geht niemanden etwas an. Ja, ob er überhaupt zugreift, bleibt ohne weitere Folgen. Da kann man dann nur noch mit dem alten Fritz sagen, jeder solle nach seiner Fasson selig werden.

4.

„Der Glaube ist nicht jedermanns Ding.“ Mehr wäre nicht zu sagen, wenn der Apostel Paulus nicht unmittelbar ein eigentümliches Widerwort anschlösse. Das Thema wäre erledigt, wenn nicht eine Aussage folgte, die dazu nötigt, alles noch einmal von vorn zu bedenken. Doch diese Aussage folgt auf dem Fuße. Sie heißt: „Treu aber ist der Herr.“

Gottes großes Trotzdem kommt hier zur Sprache. Er lässt es nicht bei unserem Unglauben. Er legt uns nicht auf unsere Gleichgültigkeit fest. Er findet sich nicht damit ab, dass wir den Glauben zu einer Geschmacksfrage erklären. Er kommt in seiner Treue auf uns zu und schließt uns die Tür zum Glauben auf. „Jesus von Nazareth“ – so heißt der Name für diese offene Tür. An Gottes Treue gemessen ist das, was wir an Glauben aufbringen, ohnehin Stückwerk. Wenn sich daran Hoffnung knüpfen soll, so nicht, weil wir so prächtige Glaubende sind, sondern weil auf Gottes Treue Verlass ist. Damit fängt der Glaube in Wahrheit an. Wegen Gottes Treue läuft sein Wort. Und es erreicht uns.

Der Glaube ist ein großes Geheimnis. Es begegnet uns im Wasser der Taufe. Es tritt uns entgegen in Brot und Wein. Aber weil wir dieses große Wunder feiern, brauchen wir uns der kleinen Märchen nicht zu schämen. Ein Märchen ist wie eine kleine gute Nachricht, ein kleines Evangelium. Es ist wie ein Pfennig: wer den nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. Heute Nachmittag also wieder ein Pfennig, ein kleines Märchen, egal wer gewinnt. Heute morgen der Taler, das Geheimnis: die Taufe und die Gemeinschaft um den Tisch des Herrn.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.