Predigt in St. Marien und in St. Matthäus zu Berlin (1. Petrus2, 4-10)

07. Juli 2002

„Kommt zu Christus als dem Lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als die lebendigen Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus. Darum steht in der Schrift: ‚Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden.’
 Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist er ‚der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses’; sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst ‚nicht ein Volk’ wart, nun aber ‚Gottes Volk’ seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.“

(1. Petrus 2, 4-10)

1.

„Kein Stein bleibt mehr auf dem andern.“ Das ist das Schreckensbild, das uns allen auf die eine oder andere Weise im Gedächtnis geblieben ist vom 11. September des vergangenen Jahres. Da war ein Gebäude, das auf ganz besondere Weise für überlegene Macht und unbeirrbaren Reichtum stand: ein World Trade Center – ein Handelszentrum für die eine Welt. Und es wurde plötzlich und heimtückisch, unerwartet und doch für alle Welt sichtbar in Schutt und Asche gelegt.

Kein Stein bleibt mehr auf dem andern. Das Ereignis von New York hat nicht nur die große Politik verändert. Wie gefährdet der Frieden nach wie vor ist, spüren wir heute erneut – nach dem Mord an dem afghanischen Vizepräsidenten Kadir gestern in Kabul. Wunden sind aufgerissen, die noch lange nicht heilen wollen. Fronten haben sich gebildet, mit deren Hilfe wir meinen, wieder klar zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Aber dieses Geschehen hat auch persönliche Lebensgewissheiten erschüttert. Blindes Zutrauen zu aller Art von festen Häusern ist uns verwehrt. Was wir selbst bauen, gibt keinen letzten Halt. Wer sein Zutrauen auf Gebäude aus Stein gründet, hat in Wahrheit auf Sand gebaut.

Kein Haus, nicht einmal ein Stadtschloss gibt uns Sicherheit. Man mag sich in dem Haus, in dem man lebt, wohlfühlen. Man mag sich über die Entscheidung, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen, freuen. Im einen wie im andern Fall aber gilt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt“.

Diese Glaubenseinsicht hat sich vielen von uns neu eingebrannt. Wir mögen uns an dem Ort freuen, an dem wir jetzt leben – eine allerletzte Heimat ist er nicht. Wir mögen mit Freude Neues entdecken, wenn wir in den nächsten Wochen die Gelegenheit zu Urlaub und zum Reisen haben – keiner dieser Orte ist das Paradies. Es kann kein letztgültiges Vertrauen auf Fundamente geben, die wir selbst fest betoniert haben. Das gilt auch dann, wenn man für eine solche Art von Fundamentalismus Gott selbst und seine Autorität in Anspruch nähme.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“. Aus dieser Erfahrung heraus sind Christen in ihrem Leben unterwegs. Sie verlassen sich im Bau ihres Lebens auf ein Fundament, das selbst lebendig ist: „Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Der Eckstein, der das Gebäude unseres Lebens trägt, der Schlussstein, der alles zusammenhält, ist ein lebendiger Stein.

2.

Das ist ein spannungsvolles, ja ein widersprüchliches Bild: ein lebendiger Stein. Unter allem, was uns in der Natur begegnet, ist der Stein am schwersten zu verändern. Es ist nicht leicht, sich Steine nutzbar zu machen. Je größer sie sind, desto größer auch die Anstrengung. Kraft ist nötig, um sie dorthin zu bringen, wo man sie haben will. Es braucht Gewalt, um ihnen die Gestalt zu geben, die wir gern haben wollen. Menschen holen sich schrundige Hände, wenn sie mit Steinen arbeiten. Unter den Künstlern bewundere ich deshalb die Steinmetze und die Bildhauer ganz besonders.

Eigentlich sprengt das Bild von einem lebendigen Stein alle gewohnten Vorstellungen. Man fühlt sich an den Stein erinnert, der durch die Kraft der Auferstehung Jesu ins Rollen kam. Jesu Befreiung aus der Macht des Todes räumte auch den Stein des Todes beiseite. Offen war das Grab nun und leer. Jesu Auferweckung setzte aber auch Menschen wieder in Bewegung, die vereinzelt und zerstreut, erstarrt und versteinert waren. Nun begann ihr Leben wieder neu.

An das lebendige Wasser der Taufe erinnern wir uns an diesem Sonntag, das uns in dieses neue Leben hinein nehmen und die Macht des Todes aus unserem Leben vertreiben will. Diese Kraft des Lebens, die versteinerte Verhältnisse wieder in Bewegung setzt, sucht nach kühnen Bildern. Das Bild vom lebendigen Stein ist ein solches kühnes Bild.

Christus ist dieser Stein. Der ganze Reichtum, in dem schon das Alte Testament die Tragfähigkeit der Gottesbeziehung in das Bild vom Stein kleidet, wird aufgeboten, um uns diese Bedeutung Jesu Christi vor Augen zu stellen. Er ist der auserwählte Stein, auf dem das ganze Haus ruht. Er ist der von den Bauleuten verworfene Stein, der von Gott zum Eckstein erwählt ist. Er ist der Stein, an dem sich alle Ungläubigen und mit ihnen auch unser eigener Unglaube immer wieder stößt. Denn auch wir selbst verwerfen Christus als den Eckstein immer wieder und schieben ihn beiseite, weil uns andere Fundamente für unser Lebens wichtiger sind; dann legt er sich uns in den Weg, dann wird er auch für uns zum Stein des Anstoßes.

3.

Aber damit nicht genug. Der Verfasser des 1. Petrusbriefs lässt sich von dem kühnen Bild des lebendigen Steins noch weiter tragen. Nicht nur Christus bezeichnet er als einen lebendigen Stein, auch die Christen nennt er so. Nicht nur den, auf den die Taufe sich bezieht, sondern auch jeden Getauften nennt er einen lebendigen Stein. „Weiches Wasser höhlt den Stein“.

Noch einmal greift dieser Brief auf die kühnsten Bilder aus der Sprache des Alten Testaments zurück. Das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums – mit so kühnen Ehrentiteln bezeichnet er die Gemeinschaft der Christen. Er tut das nicht aus Hochmut. Es geschieht nicht, weil er die Überlegenheit der christlichen Gemeinde gegenüber allen anderen herausstreichen wollte. Es liegt ihm übrigens auch fern, das Volk Israel herabzusetzen – das Bundesvolk Gottes, auf das diese kühnen Bezeichnungen ursprünglich gemünzt sind. Der Brief, der in die Tradition des Apostels Petrus gestellt wird, stammt aus einer Zeit, in welcher der Tempel in Jerusalem schon zerstört ist und für das Volk Israel eine neue Zeit der Zerstreuung, der Diaspora begonnen hat. Die Erfahrung, dass man sein Vertrauen nicht auf tote Steine setzen darf, ist handgreiflich geworden. Die Christengemeinde hat sich vom Judentum bereits getrennt. Die Verheißungen des Alten Testaments beginnt sie, auf sich selbst zu beziehen. Aber das geschieht ohne jede hochmütige Absicht.

Zu solchem Hochmut bestünde auch überhaupt kein Anlass. Denn klein sind die christlichen Gemeinden der damaligen Zeit. Nur verschwindende Minderheiten zählen sich zu ihnen. Sie leben in einer weithin heidnischen Umgebung. Und bedrängt sind diese Minderheitsgemeinden auch noch. Wir sehen uns in eine Zeit zurückversetzt, in der Christsein als strafbare Handlung gilt – das pure Christsein als solches. Unbewusst schätzen die Verfolger die christliche Taufe als das ein, was sie ist: ein revolutionärer, nämlich ein das Leben umwälzender Akt. Unbewusst bezeugen sie, dass christlicher Glaube als solcher versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringt – nämlich durch den Wärmestrom der Liebe, der von Jesus Christus ausgeht. Wenn die Christen tote Steine wären, bräuchte man sich über sie nicht aufzuregen. Weil sie lebendige Steine sind, deshalb bauen sie auf und stoßen an – das eine nicht ohne das andere.

4.

Die christliche Gemeinde als Haus der lebendigen Steine – unter den Bildern, die in der Bibel zur Beschreibung der christlichen Gemeinde angeboten werden, ist mir dieses das liebste. Es nimmt ernst, dass wir Gebäude brauchen und suchen, in denen unser Glaube heimisch werden kann. Unsere Marienkirche ist ein solches Gebäude. Aber wir spüren an ihr deutlich: Solche Gebäude sind niemals fertig. Immer wird an ihnen gebaut, auch im ganz handgreiflichen Sinn. Selbst wenn uns das eine oder andere auf diesem Weg gelingt, wissen wir: Auch denen nach uns bleibt noch viel zu tun. So viel unsere Generation auch zustande bringen wird, auch für kommende Generationen bleibt noch viel genug übrig.

„Lebendige Steine – offene Kirche“: Unter dieser Überschrift machen wir gegenwärtig auf die besondere Anziehungskraft unserer Kirchengebäude aufmerksam. Ich wünschte mir sehr, mehr von ihnen wären häufiger geöffnet, damit die Menschen auch etwas von dieser Anziehungskraft spüren. Nicht nur große Stadtkirchen gehören dazu; auch Dorfkirchen haben ihr besonderes Gesicht. Auch sie tragen ihre Geschichte in unsere Gegenwart hinein und bauen dadurch an der Zukunft. Viele Menschen wirken heute daran mit, dass diese Kirchen erhalten und erneuert werden; viele Menschen erweisen sich dadurch als lebendige Steine, die unsere Kirchengebäude lebendig erhalten. Direkt oder indirekt erneuern sie das Gebälk, rücken die Ziegel zurecht, warten Uhren und Orgeln, bringen die Glocken wieder zum Läuten: Lebendige Steine.

Aber die Kirche ist eben nicht nur ein steinernes Haus. Es ist ein Haus der lebendigen Steine. Die Eltern des berühmten Afrika-Missionars David Livingston entschlossen sich eines Tages, ihren Namen zu ändern. Dem Namen Livingston fügten sie ein bedeutungsschweres „e“ an. Von nun an nannten sie sich Livingstone, zu deutsch: lebendige Steine. Sie machten sich zu eigen, was jedem Christenmensch zugetraut wird: ein lebendiger Stein zu sein, der zum gemeinsamen Leben etwas Unverwechselbares und Einmaliges beiträgt. 

Dass wir nicht nur auf die toten Steine achten, sondern uns auch den lebendigen Steinen zuwenden, ist ein großer und wichtiger Wunsch. Die Christen im Nahen Osten haben in den letzten Jahren das Bild von den lebendigen Steinen neu für sich entdeckt. In der bedrängten und bedrängenden Situation, in der sie leben, wollen sie nicht aufgeben. In einer Umgebung, die von einem bisweilen sehr aggressiven Islam geprägt ist, wollen sie ihren Platz nicht räumen. Aber sie werden weniger; und auch der Touristenstrom wird angesichts der politischen Verhältnisse dünner. Doch wenn wir in die Ursprungsregion des christlichen Glaubens kommen, weisen unsere dortigen Mitchristen uns darauf hin, dass es auch lebendige Steine gibt. „Wenn ihr in den Nahen Osten kommt – so sagen sie – , dann beseht nicht nur die vielen interessanten Steine, die es hier gibt. Soweit sie christliche Erinnerungsstätten sind, wären sie ohne unsere Vorfahren nicht mehr da. Wenn ihr in die Länder der Bibel kommt, dann vergesst auch uns als die lebendigen Steine nicht. Sonst sind diese Länder bloß noch christliche Ruinenstätten ohne gelebten Glauben – eine Ursprungsregion des Christentums ohne gelebtes Christentum.“

Was sind tote Steine ohne die lebendigen Steine? So werden wir gefragt. Diese Frage gilt nicht nur für das Heilige Land und die anderen Ursprungsregionen des christlichen Glaubens. Sie gilt auch uns. Aus unseren festen Häusern heraus wollen wir uns deshalb so auf den Weg machen, wie Hans von Lehndorff das gedichtet hat:

„Komm in unser festes Haus, / der du nackt und ungeborgen, / mach ein leichtes Zelt daraus, / das uns deckt kaum bis zum Morgen. / Denn wer sicher wohnt, vergisst, / dass er auf dem Weg noch ist.“

Amen.