Predigt in der St. Marien-Kirche zu Berlin (1. Thessalonicher 5,14-23)

01. September 2002

"Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder (und Schwestern):
Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann.
Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch.
Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles, und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.
Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.
Treu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun."

 (1. Thessalonicher 5,14-23)

I.

Das Leben eines Christen lässt sich mit einer Seefahrt vergleichen. Das behauptet jedenfalls der Reformator Martin Luther. Er erläutert das so: So wie die Seeleute sich an dem Hafen ausrichten, zu dem sie ihre Fahrt lenken wollen, weil sie hoffen, dann sicher und außerhalb von aller Gefahr zu sein, so geht es auch den Christen: sie hoffen auf das ewige Leben, in dem sie wie in einem Hafen sanft und sicher ruhen können. Und dann Luther wörtlich: „Weil aber das Schiff, in dem wir unterwegs sind, schwach ist und große, gewaltige, gefährliche und ungestüme Winde, Wetter und Wellen über uns einfallen und uns bedecken wollen, so brauchen wir einen verständigen, geschickten Seemann und Patron, der das Schiff mit seinem Rat und Verstand so leitet und führt, dass es nicht an eine Steinklippe stößt oder gar versäuft und untergeht. Nun ist unser Kapitän und Patron allein Gott, der das Schiff nicht nur leiten und erhalten will, sondern das auch kann, so dass es, selbst wenn es von ungestümen Wellen und Sturmwinden hin und her geweht und überfallen wird, gleichwohl unversehrt und unzerbrochen, ganz ans Ufer und in den Hafen kommen wird. .... Wenn allerdings die, die im Schiff sind, in der größten Gefahr den Kapitän und Patron mutwillig aus dem Schiff werfen, der sie doch durch seine Gegenwart und seinen Rat erhalten könnte, dann muss das Schiff umkommen und verderben. Und man sieht klar, dass der Schiffbruch nicht aus Verwahrlosung und Schuld des Kapitäns, sondern aus Mutwillen und Unsinnigkeit derer entstanden ist, die im Schiff waren.“

Luthers Gleichnis liegt uns in diesen Tagen nicht fern. Was geschieht, wenn das Wasser Gewalt über die Menschen gewinnt, haben wir in den vergangenen Wochen verfolgen können. Nicht Sturm und Wellen, die ein Schiff überwältigen, sondern Hochwasser, das ganze Häuser vom Boden reißt, haben wir erlebt. Menschliche Existenzen wurden entwurzelt, Firmen und Arbeitsplätze wurden weggespült. Warum ist das geschehen, so fragen viele. Von einer Sintflut ist die Rede – obwohl doch am Ende der biblischen Sintflutgeschichte die göttliche Zusage steht: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen. ... Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Freilich heißt es dort auch: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Und auch Luther verweist auf „Mutwillen und Unsinnigkeit derer, die im Schiff waren“ und den Kapitän und Patron aus solchem Mutwillen aus dem Schiff geworfen haben. Hilft uns das weiter angesichts des Geschehens der letzten Wochen? Können wir für die Naturkatastrophe, die wir erlebt haben, menschlichem Versagen die Schuld geben? Nein, zu gewaltig war dieses Geschehen. Menschlichen Mutwillen und Unsinnigkeit wollen wir dafür nicht gern verantwortlich machen. Und doch fangen wir an zu begreifen, dass menschliches Handeln die Gewalt des Wassers verschärft. Eine Sintflut waren die Wassermassen der letzten Wochen nicht, aber doch ein Zeichen an der Wand. Die Schadstoffe, die wir durch unseren Energiekonsum an die Atmosphäre abgeben, verschärfen die globale Erderwärmung. Die Verdichtung der Flussufer lässt das Wasser nicht abfließen. Von nun an ist es wichtig, dass wir uns nicht nur nach den Folgen der Flut, sondern auch nach Folgerungen aus der Flut fragen. Wie gehen wir mit unseren Flusslandschaften um, wie zügeln wir unseren Energiekonsum, was tragen wir durch unser eigenes Verhalten zur globalen Erderwärmung ein? Solchen Fragen können wir nicht mehr ausweichen. Auch die große Konferenz, die in diesen Tagen in Johannesburg stattfindet, sollte sich solchen Fragen stellen.

Um solchen Fragen gewachsen zu sein, brauchen wir einen klaren Kurs. Eine Einstellung zum Leben ist nötig, wie sie sich auch in den letzten Wochen gezeigt hat. Sie leuchtete für mich immer dann auf, wenn Menschen sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern an der Solidarität mit anderen ausrichteten. Die Helfer auf den Sandplätzen und an den Deichen, aber auch die Spendenbereitschaft, die über alle Erwartungen hinausging, waren für mich solche Zeichen für einen klaren Kurs. Angesichts einer Katastrophe, die viele Menschen erschüttert hat, fragen Menschen wieder danach, was wichtig und was weniger wichtig ist.

II.

Gott als Kapitän und Patron unseres Lebensschiffes – das ist gleichwohl ein kühnes Bild. Spiegelt es nicht eine Klarheit vor, die so gar nicht besteht? Wie halten wir denn  das Schiff auf klarem Kurs? Worin dieser Kurs besteht, ist doch gar nicht so klar zu sagen. Als einzelne stehen wir vor einer Vielfalt von Vorschlägen, in welcher Richtung wir unser Lebensschiff lenken sollen. Es zählt nur, was sich rechnet, sagen die einen und locken uns in den Hafen, der von Erfolg und Konsum bestimmt ist. Es zählt nur, was sich in der Vergangenheit bewährt hat, sagen die andern und fordern uns auf, den Kurs total zu wechseln und dorthin zurückzufahren, woher wir kamen. Ein neues Ziel ist nötig, sagen die dritten, und locken uns auf das offene und stürmische Meer mit allen unwägbaren Gefahren.

Doch dann diese Zusage: „Treu ist er, der euch ruft.“ Das ist der Anfang und das Ende des Evangeliums. Das ist der einzige Halt im Leben und im Sterben. Das ist die einzige Richtung für den Kurs unserer Kirche: Treu ist er, der euch ruft, der Gott des Friedens.

Dieser kurze, einprägsame, befreiende Satz steht in einem besonderen Teil unseres Neuen Testaments. Er steht in einem bemerkenswerten, häufig zu Unrecht gering geschätzten Brief des Paulus. Wahrscheinlich ist es der älteste Brief, der uns von Paulus überhaupt überliefert ist und damit das älteste im Zusammenhang erhaltene Dokument im Neuen Testament überhaupt. Paulus war dem Ruf Gottes gefolgt, das Evangelium nach Europa zu bringen. Thessalonich, das heutige Saloniki in Nordgriechenland, war einer der ersten  Orte, an denen er christliche Gemeinden gründete. Wenige Jahre nach dem Entstehen dieser Gemeinde richtet er einen Brief an sie; er will die Verbindung festhalten.

Gespannte Erwartung prägt diesen Brief. Paulus und die Gemeinde in Thessalonich sind gemeinsam der Überzeugung, dass die Wiederkunft Jesu Christi unmittelbar bevorsteht. Sie denken, noch zu ihren Lebzeiten werden sie die Verwandlung der Welt erleben, die eintritt, wenn Jesus als Richter und Retter wiederkehrt. Jeder Todesfall in der Gemeinde löst eine doppelte Erschütterung aus; die Betrübnis über den Verlust wird durch die Trauer überboten, dass ein Mensch vor der Wiederkunft Christi gestorben ist.

Dieser Ton des Briefs nach Saloniki ist unsere Sache nicht mehr. Wir wissen, dass wir über die Vollendung von Gottes Herrschaft nicht verfügen. Sie liegt allein in Gottes Hand. Es hatte immer verheerende Folgen, wenn Menschen sich anmaßten, in Gottes Plan mit dem Lauf der Zeiten hineinregieren zu wollen. Die Zukunftshoffnung ist uns geblieben; die Naherwartung haben wir hinter uns gelassen.

III.

Doch was sagt uns dann der Brief nach Saloniki, der Brief an die Thessalonicher noch? Die wirkliche Überraschung, die er bereithält, kommt überhaupt erst jetzt ans Licht. Das Erstaunliche ist, wie intensiv Paulus sich mit den Problemen des Alltags beschäftigt. Man sollte denken: Wenn der Blick so stark in die Zukunft gerichtet ist, wird die Gegenwart gleichgültig. Davon aber kann keine Rede sein. Vielmehr ist es so: Im Licht der Zukunft Gottes erscheinen alle Züge der Gegenwart bedeutungsvoll. Die Zukunftserwartung führt nicht zu einer Gleichgültigkeit gegenüber der Gegenwart. Nichts soll aufgeschoben, nichts soll vertagt werden.

Es gibt einen Bericht aus dem amerikanischen Mittelwesten, in dem diese Haltung zur Gegenwart im Licht der Zukunft Gottes eindrücklich geschildert war. Aus der ganzen Region waren Abgeordnete zu einer Beratung zusammengekommen. Kaum hatten sie damit begonnen, verfinsterte sich der Himmel von jetzt auf gleich. Weltuntergangswetter brach los. Angst überfiel die Versammelten. Manche wollten aufstehen und fliehen. Sinnlos war das, denn wie sollten sie durch dieses Unwetter nach Hause kommen. Doch der Vorsitzende setzte seine ganze Autorität ein und brachte sie zur Ruhe: „Entweder, so sagte er, ist das, was sich da zusammengeballt hat, nur ein Unwetter; dann geht es vorüber und es lohnt sich nicht, in sinnloser Flucht nass zu werden. Oder das ist nun wirklich der liebe jüngste Tag und unser Herr Jesus Christus kommt. Wenn es so ist, dann soll er uns bei der Arbeit finden. Die Sitzung geht weiter.“

Christen sind Menschen, die um der Zukunft Gottes willen der Gegenwart treu bleiben. Christen sind Menschen, die um Himmels willen der Erde treu sind. Es sind Menschen, die um der Hoffnung willen ihren Nächsten auf der Spur sind. Deshalb sind sie fröhlich, beten ohne Unterlass, sind dankbar in allen Dingen. Das macht den Unterschied aus. Wo es geschieht, kann es nicht unbemerkt bleiben. Eine Gemeinschaft von Menschen, die fröhlich sind, ohne Unterlass beten und in allen Dingen dankbar bleiben – eine solche Gemeinschaft fällt auf.

Eine solche Gemeinschaft hält sich an den Gott des Friedens. In einer Welt, in der weithin Böses mit Bösem vergolten wird, fällt das auf. Sich an den Gott des Friedens zu halten, bedeutet nicht, dem Bösen seinen Lauf zu lassen – welchen Namen dieses Böse auch immer tragen mag. Der Name des irakischen Präsidenten Saddam Hussein wird zur Zeit dafür vor allem verwendet. Ein schrecklicher Diktator ist er, gewiss. Und doch soll niemand denken, man habe sich das Böse in sich selbst und bei sich selbst schon vom Halse geschafft, indem man dem Bösen einen fremden Namen gibt. Radikaler geht mit dem Bösen um, wer sich an den Gott des Friedens hält. Er folgt dem Grundsatz: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Auch heute und auch im Blick auf den Irak gilt: Wer Gewalt allein mit Krieg überwinden will, treibt nur den Teufelskreis der Gewalt weiter. Mehr und anderes ist nötig als Krieg und Kriegsgeschrei.

Wer sich vom Gott des Friedens den Kurs vorgeben lässt, der gewinnt einen offenen Blick und ein offenes Herz. Der offene Blick sagt: „Prüfet alles und das Gute behaltet“. Die fundamentalistische Blickverengung, der starre Blick auf das eine, das ich selber wichtig finde, kann unsere Sache nicht sein. Und das offene Herz sagt: „Seid geduldig gegen jeden Menschen.“ Schneidet keinem das Wort und vor allem nicht die Ehre ab. Wendet euch den Schwachen zu und richtet die auf, die gebeugt sind. Ja, darin vor allem zeigt sich die Freiheit eines Christenmenschen: im offenen Blick und im offenen Herzen.

Luther hat doch recht: Es ist nicht verkehrt, Gott als Kapitän und Patron im Schiff zu haben. Es gibt für unser Schiff einen klaren Kurz, zu dem er uns verhilft, der Gott des Friedens. Amen.