Predigt im Festgottesdienst zum 160. Jubiläum der Sacrower Heilandskirche

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

I.

Von einem Menschen, dem leicht die Tränen in die Augen steigen, sagt man, er habe dicht am Wasser gebaut. Wir sind heute am 14. Jahrestag der Deutschen Einheit in der Sacrower Heilandskirche zusammengekommen. Hart an der ehemaligen Grenze und dicht am Wasser gebaut, so steht das Gotteshaus seit nunmehr 160 Jahren als steinerner Zeuge des Evangeliums in der Landschaft zwischen Himmel und Havel.

Dicht am Wasser gebaut kann man schon sein, wenn die Erinnerung daran wach wird, dass eine Mauer unser Land zerschnitten hat. Zu Weihnachten 1989 fand ein bewegender deutsch-deutscher Gottesdienst in der Heilandskirche statt, der so manchem die Tränen in die Augen steigen ließ. Es waren Freudentränen darüber, dass Gott uns half, über Mauern zu springen. Freudentränen, weil 1989 die seit 1961 gesperrte Kirche im Niemandsland wieder von der Gemeinde als Gotteshaus genutzt werden konnte. Heute steht die nach einem Entwurf von Ludwig Persius gestaltete Heilandskirche den Menschen für die Feier des Lebens zur Verfügung, so als ob es hier niemals einen Todesstreifen gegeben hätte.

Rufe mich an in der Not. So will ich Dich erretten, so sollst Du mich preisen. Unter diesem Bibelwort stehen Menschen, wenn Sie Ihre Kirche betreten. Dieses Bibelwort lädt ein zum Innehalten und zur Zwiesprache mit Gott.

Sofern sich den Touristen und Ausflugsgästen erschließt, wie es hier vor 15 Jahren ausgesehen hat, so werden sie bemerken, dass Ihre Gemeinde Mut zur Zukunft bewiesen hat. Viele haben dabei unermüdlich geholfen. Dazu möchte ich Sie beglückwünschen. Und diesen Glückwunsch spreche ich an einem besonderen Tag aus: am Tag der deutschen Einheit, der zugleich Erntedankfest ist. Welch ein Zusammentreffen! Ich bin froh darüber, dass wir den Tag der deutschen Einheit in diesem Jahr hier in der Heilandskirche feiern. Ich bekenne mich dazu, dass diese Kirche für mich immer in besonderer Weise ein Symbol der Einheit war. Kein Zweifel konnte an dem Wunsch bestehen, dass sie von Ost und West wieder in gleicher Weise erreicht werden sollte. Dieser Wunsch war ebenso eindeutig wie der andere, dass man die Glienicker Brücke wieder von Ost wie von West frei begehen konnte. Nun geht beides. Manchmal frage ich mich, ob uns eigentlich bewusst ist, dass unsere kühnsten Hoffnungen erfüllt wurden – über all unser Bitten und Verstehen hinaus. Tag der deutschen Einheit am Erntedankfest – das ist ein gutes, ja in gewisser Weise ein nötiges Zusammentreffen.

II.

Eine uralte Geste geht mir an diesem Tag durch den Sinn. Sie führt uns hinaus aus der großstadtnahen Idylle von Sacrow in ländliche Gegenden unseres Landes. Sie erinnert uns an unsere Zukunft. In Gedanken atme ich die Weite der Landschaft. Die goldgelben Felder sind abgemäht. Feuchter Staub liegt auf den Sensen, die ihren Zweck erfüllt haben und nun an die Scheune gelehnt stehen. Die Ernte ist eingebracht. Das Wetter hat – Gott sei Dank – gehalten. Die Hofgemeinschaft sitzt erschöpft und doch erleichtert um den Küchentisch. Gemeinsam wollen Sie das Vesperbrot verzehren. Der Bauer spricht ein Dankgebet. Von den Kindern bis zu den Großeltern, sie alle stimmen in das Amen ein. Ehe die Mutter für die um den Küchentisch versammelte Runde das Brot aufschneidet, ritzt sie ein Kreuz in den Brotlaib. Dann verteilt sie die Scheiben von dem frisch angeschnittenen Laib. Mit dem Brot gibt sie die uralte menschliche Erfahrung weiter, dass wir von den Segensgaben leben, die Gottes gute Schöpfung für uns bereithält. Diese Gaben werden geteilt, wie Christus sich selbst dahingab. Diese Gaben werden uns in die leeren Hände gelegt. Sie sind uns anvertraut.

III.

Den Predigttext für den heutigen Sonntag bildet ein Abschnitt aus dem2. Korintherbrief des Apostels Paulus. Er hat, wie wir gleich sehen werden, ein besonderes Thema. Aber er passt zugleich zum Erntedankfest. Denn er spricht vom Säen, vom Ernten und vom Segen. Er spricht von den Themen des heutigen Tages:

Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. Ein jeder, wie er’s sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.

Wer sät, wird ernten; wer frohen Herzens gibt, den hat Gott lieb. Paulus wirbt in diesem Brief für sein großes Spendenprojekt. Unermüdlich ist er unterwegs, um für die allererste christliche Gemeinde, für die Gemeinde in Jerusalem, Geld zu sammeln. Er hat sich dazu verpflichtet; das geht auf ein Treffen in Jerusalem zurück, bei dem die Einheit der jungen Christenheit auf dem Spiel stand.

Aber was hat denn die Sammlung einer Kollekte mit dem Erntedankfest zu tun? Ich möchte Sie, liebe Gemeinde, einladen, sich auf diese Überlegung einzulassen.

Diese Kollekte war die Antwort auf einen heftigen Konflikt. Mit seinen Mitarbeitern Barnabas und Titus musste Paulus sich auf den Weg nach Jerusalem machen, um sich mit Jakobus, Petrus und Johannes, den Säulen der Jerusalemer Gemeinde, zu treffen. Der Streit ging um den weiteren Weg des christlichen Glaubens. War das Evangelium nur für die Juden da oder auch für die Heiden? Petrus, Jakobus und Johannes hatten Jesus zu Lebzeiten gekannt und ein inniges Verhältnis zu ihm gehabt. Sie waren Juden so wie Jesus. Die judenchristliche Gemeinde beobachtete die Heidenmission des Paulus mehr als argwöhnisch.

Den Christen, die aus der jüdischen Gemeinde stammten, war sehr fraglich, ob es denn mit dem Kommen Jesu, in dem sie immer deutlicher den Messias sahen, nun erlaubt sei, auch Nichtjuden einfach in die Gemeinde Gottes aufzunehmen. Nach jüdischem Verständnis war die Tora, das alttestamentliche Gesetz, zu befragen. Sie hatte die oberste Autorität und regelte das Leben der Gläubigen verbindlich. Paulus jedoch war der Meinung, dass die Tora und die anderen Schriften der Hebräischen Bibel genau auf Jesus Christus zuliefen. Insofern sah er die Geschichte Gottes mit Israel und den anderen Völkern an einem historischen Scheitelpunkt: Jesus Christus war zu ihren Lebzeiten gekommen, um ein Volk Gottes aus allen Völkern zu sammeln. Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau, sondern ihr seid alle einer in Jesus Christus. Bisher vorhandene Schranken wie etwa die Speisegebote oder die Beschneidung der neu geborenen Knaben waren keine Bedingung mehr, um zum erweiterten Volk Gottes zu gehören.

Bei dem Gipfeltreffen in Jerusalem wurde keine Einigung erzielt. Die judenchristliche Gemeinde Jerusalems wollte Paulus in seiner Auffassung nicht zustimmen. Es gab allerdings einen praktischen Kompromiss: Petrus solle weiter sein Apostelamt unter den Juden ausüben und Paulus möge doch unter den Heiden wirken. Darüber hinaus versprach Paulus, dass er eine Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem sammeln werde.

Ausdrücklich nennt der Apostel diese Kollekte eine Segensgabe. Das ist ein großes Wort. Segen, der doch Gott vorbehalten ist, wird hier einer menschlichen Handlung zugesprochen. Im Denken des Volkes Israel war das allerdings vertraut. Für Segen und Lob, für Segnen und Loben verwandte es dasselbe Wort. Dass der Mensch Gott segnet, kann man in dieser Denkweise sich genauso vorstellen wie dass Gott den Menschen lobt. Auf diesen alten Zusammenhang verweist Paulus wenn er die Geldsammlung für Jerusalem als Segensgabe bezeichnet. Die Erinnerung an die empfangene Fülle zielt auf die erhoffte Gabe. Wer einmal in der Fremde erfahren hat, wie segensreich Hilfe und Gastfreundschaft sein können, der wird Freude daran haben, selbst Gäste aufzunehmen und für sie segensreich zu wirken. Die Aufnahme eines Gastes  ist keine Minderung, sondern eine Mehrung dessen, was unser Leben ausmacht. Die Fröhlichkeit des Gebenden rührt her aus der Dankbarkeit für die Fülle, die ihm zuteil wurde und zur Verfügung steht.

Obwohl der Segen des Menschen und das Lob Gottes, der Segen Gottes wie das Lob aus Menschenmund in der Hebräischen Bibel mit dem gleichen Wort beschrieben werden, haben doch Mensch und Gott verschiedene Rollen. Erst diese Unterscheidung verdeutlicht die Gottheit Gottes und lässt den Menschen menschlich bleiben. Nie sind wir Menschen lebendiger, nie menschlicher als dann, wenn wir Gott segnen, indem wir ihn loben. Denn wer Gott lobt und darin bekennt, dass er sich mit allem, was seine Existenz ausmacht, Gott verdankt, ist von dem Zwang befreit, wie Gott sein zu wollen.

Die große Sammlung des Paulus sollte die sehr unterschiedlichen Gemeinden der Urchristenheit verbinden und einen Ausgleich herstellen. In das Gründungsdokument der Christenheit hat Paulus den Gedanken hineingetragen, dass die von Gott Beschenkten zu diesem Ausgleich beitragen werden: Menschen werden durch die Hilfe ihrer Mitmenschen in die Lage versetzt, Gott zu loben.

IV.

Liebe Gemeinde, das ist ein besonderer Blick auf das Erntedankfest. Es fragt uns danach, wie wir heute und hier Gott segnen und um sein Lob bitten. Gott beschenkt auch uns: mit dem Nötigen für unser tägliches Leben, mit der Schönheit der Natur um uns, mit Würde und Gnade. Aber wir sehen und spüren auch: die Schere zwischen arm und reich klafft in unserem Land immer stärker auseinander. Ein jährlicher Armuts- und Reichtumsbericht würde dies belegen. Wenn also zukünftig in unserer Stadt Menschen in Not geraten, und das Lebensnotwendige nicht mehr bezahlen können, dann kann es sein, dass die Wohltätigkeit der Christen und der christlichen Gemeinden von den Bedürftigen herbeigesehnt und als Segensgabe wie ein Wunder entgegengenommen wird. Die Pankower Suppenküche oder die Obdachlosenhilfe der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße, hier ganz in der Nähe, können davon berichten.

Ich habe Sie an die Geste der Mutter erinnert, die ein Kreuz in den Brotlaib ritzte. Sie prägte ihr Vertrauen zu Gott in das tägliche Brot ein und gab es weiter. Das Lob Gottes und das Teilen, in dem wir als Beschenkte weitergeben, was wir empfangen haben: beides gehört zusammen.

Am 3. Oktober 2004, am 14. Jahrestag der Deutschen Einheit, verbindet uns als Christen hier in der Havellandschaft ebenso wie im Schwarzwald und auf der Insel Usedom, in Hamburg und in Hoyerswerda die Dankbarkeit dafür, dass wir gemeinsam berufen sind, aus dem Vertrauen zu Gott zu leben und deshalb Tag für Tag Gott mit der Arbeit unserer Hände zu dienen. Gott lädt alle dazu ein. Hier zählt nicht, ob jemand vermögend ist oder bald das Arbeitslosengeld II beziehen wird, es zählt nicht die Geburt in Eisenhüttenstadt oder in Bamberg, egal, ob krank oder gesund, wir sind alle verbunden in Christus Jesus. Es geht um die Beteiligung und Befähigung der ganzen Gemeinschaft zum Lobe Gottes und zu einem segensreichen Leben. Darum geht es auch hier in diesem Kleinod, der Heilandskirche Sacrow, an der wir uns weiterhin freuen und in der wir weiterhin Gott loben wollen.

Amen.