Predigt am Reformationstag (Jesaja 62, 6-7. 10-12)

Wolfgang Huber

Von einer Glaubenserneuerung hören wir heute, von einem Neubeginn, von einer Reformation eigener Art. Berichtet wird darüber im dritten Teil des Jesajabuchs, also bei dem dritten der Propheten, deren Botschaft man unter dem Namen des großen Jesaja zusammenfasste. Er wirkte im sechsten vorchristlichen Jahrhundert, nach der Zeit des babylonischen Exils. Er wandte sich an die Israeliten, die aus dem Exil nach Jerusalem zurückgekehrt waren, wie auch an diejenigen, die in einer dürftigen Zeit in Jerusalem geblieben waren. Den einen wie den anderen rief er zu:
 
„O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.

(Jesaja 62, 6-7. 10-12)


Ja, von einer Glaubenserneuerung ist hier die Rede, von einem Neubeginn, von einer Reformation eigener Art. Aber es geht dabei außerordentlich kläglich zu. Von einem strahlenden Aufbruch ist keine Rede. Statt der Schönheit von Gottes geliebter Stadt sieht man nur Chaos. Statt der Pracht des Tempels finden sich nur kärgliche Versuche des Neuaufbaus, die schon in den ersten Anfängen wieder stecken bleiben. Die eingefallenen Mauern der Stadt bieten keinen Schutz. Die Menschen in Jerusalem fühlen sich so kläglich wie eine verstoßene Frau. Keineswegs alle Glieder der nach Babylon verschleppten Oberschicht sind in die Heimat zurückgekehrt. Nicht alle hatten an den Wasserbächen Babylons nur geweint. Manche hatten sich dort auch behaglich eingerichtet und wollten bleiben, wo sie wussten, was sie hatten. Die Kräfte der Zurückgekehrten aber reichten nicht aus. Sie übernahmen sich, wenn sie die Aufgabe des Neuaufbaus allein schultern wollten.

Eine eigentümliche Glaubenserneuerung ist das,  eine merkwürdige Art von Neubeginn, kein reformatorisches Modell. Oder doch? „Ich habe Wächter über deine Mauern bestellt“, sagt Gott durch den Mund des Propheten. Wächter halten Ausschau danach, wer sich der Stadt nähert: Freund oder Feind. Sie haben die Tore zu schließen und den Einlass zu verweigern oder gastfreundlich Zugang zu gewähren.

Aber was machen Wächter dort, wo die Mauern verfallen sind und gar keinen Schutz gewähren? Dort, wo die Tore sich ohnehin nicht mehr schließen lassen? In einem solchen Fall haben die Wächter eine andere Aufgabe. Sie erinnern sich daran, dass sie ihre Verantwortung vor Gott wahrnehmen und nicht nur vor den Menschen. Sie sind Wächter vor Gott und für Gott. Tag und Nacht sollen sie das Schicksal Jerusalems vor Gottes Ohr bringen. Sie sollen nicht müde werden, ihm das Geschick des Volkes zu klagen. Sie sollen Gott um Beistand bitten, damit der Neuaufbau der Stadt gelingt und die Wiederherstellung des Tempels nicht stockt. So sollen sie Wächter vor Gott sein; sie sollen darum flehen, dass Gott sein Volk und sein Haus nicht vergisst.

Und zugleich sollen sie Wächter für Gott sein. Ihr Auftrag ist es, den Namen Gottes in seiner Stadt lebendig zu halten, der Gottvergessenheit entgegenzuwirken, die sich im Lande ausbreitet. Sie sollen den Menschen bewusst halten, wo allein sie in ihrer Ratlosigkeit Orientierung finden können: nicht bei ihren eigenen Fähigkeiten, nicht bei der Hilfe fremder Mächte, sondern bei Gott.

Wer ein solcher Wächter sein will, kann nicht auf dem Turm bleiben und nur Ausschau halten. Er muss vom Turm herabsteigen und zu den Menschen gehen. Er kann nicht nur mahnen, sondern muss selbst die Steine beiseite räumen, die lange Zeiten der Zerstörung zurückgelassen haben.
Wer ein solcher Wächter sein will, kann die Botschaft, die ihm anvertraut ist, nicht für sich behalten. Er muss ein Zeichen für die Völker aufrichten, Versöhnung unter die Menschen bringen, für den Frieden eintreten.


2.

An Jerusalem richtet sich dieses prophetische Wort. Der Name mag ja ursprünglich auf eine ammonitische Gottheit verweisen und deshalb „Stadt des Salimu“ heißen. In den Ohren von Juden, von Christen und auch von Muslimen kann der Name „Jerusalem“ nur heißen: Stadt des Friedens, Stadt des Schalom.

Ich habe Jerusalem vor zehn Tagen besucht. Ich habe keine Stadt des Friedens gefunden. Die Enttäuschung darüber sitzt mir noch in den Knochen und in der Seele. Nein, das ist die Stadt auf dem Berg Zion nicht – eine Stadt des Friedens, eine Heimstatt für Juden, Christen und Muslime. Ich war in Jerusalem, um an der Einführung des neuen Propstes der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde, des Propstes an der Erlöserkirche Martin Reyer mitzuwirken. Die Friedlosigkeit begleitete uns vom ersten Augenblick an. Kaum hatten wir unseren Fuß auf israelischen Boden gesetzt, waren wir schon hineingezogen in die bittere Zwietracht zwischen Israelis und Palästinensern. Hinterhältiger Mord auf beiden Seiten hat den Boden vergiftet. Bevor man auch nur anfangen kann, über Wege zum Frieden zu reden, ist man schon verstrickt in die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Es ist immer der andere Schuld an den Gewalttaten, die Tag für Tag verübt werden. Dem ohne Zweifel guten Rat der Offiziellen zum Trotz besuchten wir die evangelische Gemeinde im palästinensischen Beit Jala, das in diesen Tagen von Gewalt und Tod besonders betroffen war. Unter Maschinengewehrsalven lasen wir das Evangelium: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ In Erwartung der nächsten Panzer, aber auch eines nächsten Selbstmordattentats hörten wir auf die apostolische Mahnung: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ Auf dem Weg zum Trauergottesdienst für eine junge Frau, die am Vortag einem Scharfschützen zum Opfer gefallen war, beteten wir: „Verleih uns  Frieden gnädiglich, / Herr Gott, zu diesen Zeiten.“

All das geht mir jetzt durch den Sinn, wenn ich höre, wie der Prophet sich an die Stadt Jerusalem wendet: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt.“ Von diesem prophetischen Wort weiß auch ich mich aufgefordert, im Gebet nicht nachzulassen, Gott keine Ruhe zu geben, „bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden.“

Ein Lobpreis Gottes auf Erden aber wird Jerusalem erst sein, wenn die drei Religionen, die sich auf Abraham als den Stammvater ihres Glaubens berufen, nicht mehr Gewalt gegeneinander üben, sondern friedlich um die Wahrheit streiten. Sie ist ohnehin viel größer ist als all unsere Versuche, ihr nahe zu kommen. Aber von einem solchen Zeugnis für die überwältigende Größe der Wahrheit Gottes ist Jerusalem heute weit entfernt. Die Christen fühlen sich an den Rand gedrängt wie nie zuvor; viele palästinensische Christen vor allem suchen das Weite, weil sie um ihr Leben fürchten, eingeklemmt zwischen dem Selbstbehauptungswillen Israels und einer oft unheiligen Koalition zwischen muslimischer und palästinensischer Identität. Manche fürchten sogar, eines nicht zu fernen Tages könne Jerusalem nur noch ein Museum christlicher Gedenkstätten ohne eigenes christliches Leben sein. Einstweilen freilich wird auch dieses Museum kaum noch besucht. Die Touristen bleiben aus; am lautesten klagen darüber die Händler im Sukh.

Und doch: Wir lassen nicht ab von der Verheißung für Jerusalem. Wir hören nicht auf damit, als Wächter herunterzusteigen und das Unsere dazu beizutragen, dass die Steine weggeräumt werden, in Offenheit gegenüber unseren israelischen und unseren palästinensischen Partnern zugleich. „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, Gesuchte“ und „nicht mehr verlassene Stadt“: gerade heute wollen wir daran festhalten, dass in diesen Namen die Verheißung aufklingt, unter der Jerusalem steht.


3.

Ist es vermessen, den Trost, den Jerusalem zu hören bekommt, auch auf uns als christliche Kirche zu beziehen? Nein, es ist nicht vermessen. Es ist uns nicht verwehrt, diesen Zuspruch auch für uns gelten zu lassen. Denn die prophetische Botschaft ist auch uns zugeeignet, uns Christen ebenso wie allen suchenden und fragenden Menschen. Denn der Jude Jesus von Nazareth ist für uns und für alle gestorben; in seinem Tod hat er uns den Zuspruch der Propheten zugeeignet, ohne ihn dem Volk Israel zu rauben. Die eingestürzten Mauern unserer Kirche, die liegen gebliebenen Ruinen unserer Reformversuche hindern uns nicht daran, uns an diese prophetische Botschaft zu halten; sie nötigen uns gerade dazu.

Gewiss: unsere Probleme sind anderer Art. Unser Wohlstand ist unvergleichlich mit dem Elend in Jerusalem nach dem Exil. Auch viele unserer Kirchengebäude konnten wiederhergestellt werden – erstaunlich ist diese Gemeinschaftsleistung, auch wenn noch sehr viel zu tun bleibt. Aber trotzdem: Viele, allzu viele Menschen finden keine Heimat in der Kirche. Die Entfremdung, die über Generationen gewachsen ist, ist noch nicht überwunden. Und die innere Stimmung in unseren Gemeinden ist nicht immer einladend. Struktur- und Finanzprobleme entmutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder. Die Abwendung der vielen, die irgendwo anders ihr Heil suchen, macht bisweilen auch die Hoffnung der Glaubenden mürbe. Zu selten ist der Glaube von ansteckender Fröhlichkeit.

Selbstkritik ist in unserer Kirche häufiger wahrzunehmen als Selbstbewusstsein. Der Jahresempfang unserer Kirchenleitung ist noch nie zur stolzen Leistungsbilanz entgleist. Eher hört man Töne, wie sie ein frecher Hamburger Pastor unlängst geäußert hat: „Luther wollte die Erneuerung der einen Kirche – gekommen aber sind die vielen Konfessionen und Kirchen. Luther wollte die Rückkehr zum Urchristentum – und gekommen sind Synodenerklärungen mit dem Esprit eines Telefonbuches. Luther wollte zum unverfälschten Bekenntnis der ersten Christen zurück – gekommen aber sind die herzensguten Sowohl-als-auch-Erklärungen der Gutmenschenidealisten. Luther wollte die weltliche Allmacht der Kirche brechen – gekommen aber sind Beamtenrecht, kameralistische Buchführung und ein Gremienwesen, das die europäischen Behörden in Brüssel zu einer Art Sponti-Treffen macht.“ Inzwischen ist der Hamburger Pastor, der sich noch vor kurzem so frech äußerte, übrigens Oberkirchenrat. 

Wie könnte ein evangelisches Selbstbewusstsein aussehen, das diese Selbstkritik ernst nimmt, ihr aber nicht das letzte Wort lässt? Evangelisches Selbstbewusstsein nimmt die reformatorische Zuwendung zum gnädigen Gott ernst. Der reformatorische Glaube hält sich an Gott – gerade dort, wo wir mit unserer eigenen Weisheit an ein Ende kommen. In den Wochen seit dem 11. September haben wir das wieder und wieder erlebt. Dass unser Gottesglaube an den zerfallenden Mauern dieser Welt nicht zerschellt, wollen wir gerade in dieser Zeit mit neuer Gewissheit bekennen: „Ein feste Burg ist unser Gott, / ein gute Wehr und Waffen.“ 


4.

Als Bekenntnis zu dem Gott des Friedens wollen wir das in diesem Jahr singen, gerade in diesem Jahr. An Gott wollen wir uns halten, der mit der Zusage seiner Gnade für die Ohnmächtigen streitet. Ihn wollen wir verkündigen in eine Welt hinein, die wir nicht ihrer Gottvergessenheit überlassen. „Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ, / der Herr Zebaoth/  und ist kein anderer Gott, / das Feld muss er behalten.“ Dieses Bekenntnis zu Gott in Christus gilt es zu erneuern. Es gibt nichts Wichtigeres in unserer Zeit!

Martin Luthers Reformationslied, in persönlicher Not mitten in Wittenbergs Pestzeit geschrieben, steigert das Bekenntnis zu Christus bis zum äußersten: „Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr, Kind und Weib, / lass fahren dahin, / sie haben’s kein Gewinn, / das Reich muss uns doch bleiben.“ Wie sollte man einem solchen Glaubenszeugnis den Respekt verweigern? Aber für mich selbst übernehmen kann ich es nicht. Wie sollte ich meiner Frau oder meinen Kindern ins Gesicht sagen: „Lass fahren dahin“? Ich kann Luthers kühnes Glaubenszeugnis nicht unverändert in unsere Tage hineinsagen. Die Familie in Beit Jala, der die Ehefrau, Mutter und Tochter genommen worden war, steht dagegen. Die afghanischen Männer und Frauen, Kinder und Alten auf der Flucht auch. Ich will dagegen setzen: Lasst den Menschen Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib! Denn jedes Menschenleben ist unendlich kostbar vor Gott, der will, dass wir alle gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Deshalb halte ich mich an einen anderen Schluss, der mit Luthers Reformationslied auch schon vor langer Zeit verbunden und mit ihm gemeinsam gesungen wurde: „Preis, Ehr und Lob dem Höchsten Gott, / dem Vater aller Gnaden, / der uns aus Lieb gegeben hat / sein Sohn für unsern Schaden, / den Tröster, heilgen Geist, / von Sünd er uns reißt, / zum Reich er uns heißt, / den Weg zum Himmel weist, / der hilft uns fröhlich. Amen.“