Predigt in der St. Marien-Kirche zu Berlin (Lukas 18, 1-8)

Wolfgang Huber

„Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir soviel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“  

         
(Lukas 18,1-8)

I.

Was kann die Kirche in dieser Situation tun? Genau zwei Monate sind seit den Terroranschlägen auf New York, Washington und Pittsburgh vergangen. Vier Wochen nach dem Ereignis, das die Welt aufgewühlt hat, haben Amerikaner und Engländer mit ihren militärischen Gegenmaßnahmen begonnen. Fünf Wochen nun dauern diese Maßnahmen, und man sieht keinerlei Erfolg. Inzwischen gliedern sich andere Staaten in die militärische Phalanx ein: Franzosen, Italiener, vorgestern auch die Holländer und in der kommenden Woche voraussichtlich auch wir Deutschen. Mit Leidenschaft und Trauer wird um diesen Schritt gerungen.

Leidenschaft und Trauer bestimmte auch die Diskussion in der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die in der vergangenen Woche stattgefunden hat. Aber die Stimmen derer, die ganz genau zu wissen meinten, worin in diesem Augenblick die richtige oder gar die einzig mögliche Antwort besteht, wurden immer wieder von Zweifel und Ratlosigkeit übertönt. Der Terror kann nicht ohne Antwort bleiben, aber auf der Gewalt liegt kein Segen. Unser Gewaltverzicht wird die Terroristen nicht an ihrem Tun hindern; aber der Versuch, ihnen mit militärischer Gewalt das Handwerk zu legen, blieb bisher auch ohne jeden erkennbaren Erfolg. Und dann vor allem die bohrende Frage: Wohin wird das führen? Geht es wirklich nur um Osama Bin Laden und die Taliban oder entwickelt sich ein Flächenbrand? Was hat es zu bedeuten, dass die Bereitstellung von Bundeswehrsoldaten für ein so weites Einsatzgebiet und für einen so langen Zeitraum beantragt ist?

Was kann die Kirche tun? Als ich in der vergangenen Woche so gefragt wurde, entfuhr es mir unwillkürlich: Sie kann beten, beten ohne Unterlass. Wir können tun, womit wir gleich am Abend des 11. September begonnen haben: die Opfer der Gewalt beklagen und dem Geist der Vergeltung absagen, um Gottes Beistand für die bitten, deren Aufgabe es ist, Vergleichbares zu verhüten, und einen gerechten Frieden einfordern.

Was kann die Kirche tun? Beten kann sie – so sagte ich. Da scholl es mir entgegen: Beten – ist das nicht ein bisschen wenig?

Die Frage ging mir nach. Mit dieser Frage im Herzen begegnete ich unserem Predigtabschnitt, der Jesu Aufforderung zu uns bringt, „dass wir allezeit beten und nicht nachlassen sollen.“ Und ein Dichter kam mir in den Sinn, der auf Jesu Aufforderung in dunkelster Zeit geantwortet hat, in der dunkelsten Zeit des Nazi-Regimes und des Zweiten Weltkriegs. Reinhold Schneider dichtete damals: “Allein den Betern kann es noch gelingen, / das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten, / denn Täter werden nie den Himmel zwingen; /  was sie vereinen, wird sich wieder spalten, / was sie erneuern, über Nacht veralten, / und was sie stiften, Not und Unheil bringen.“

Tausendfach wurden damals diese Zeilen von Reinhold Schneider abgeschrieben; auf verknitterten Zetteln trugen die Menschen sie bei sich. Ich habe in meiner Kindheit den Dichter noch über die Straßen Freiburgs gehen sehen, hager, im schwarzen Anzug und auf einen Stock gestützt, als trüge er noch immer schwer an dieser Vision von der Vergeblichkeit dessen, was die Täter unternehmen. „Allein den Betern kann es noch gelingen, / das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten.“

II.

Befremdlich ist das Bild, in dem Jesus uns diese Aufforderung vor Augen stellt, dass wir beten sollen ohne Unterlass. An einer Witwe wird uns das gezeigt, die um ihr Recht kämpft. Witwen gehören in der sozialen Wirklichkeit nahezu aller Zeiten zu den Gruppen, die es am schwersten haben. Waisen, Witwen und Fremde sind schon im Verständnis des Alten Testaments die Gruppen, die durch ihre Lebensumstände an den Rand gedrängt, der Armut ausgeliefert, von Rechtlosigkeit bedroht sind. Man kann es nur erstaunt resignieren, aber es ist so: Bestimmte Mechanismen der sozialen Ausgrenzung bleiben sich über die Jahrhunderte, ja über die Jahrtausende sehr ähnlich. Es fällt uns nicht schwer, uns in die Situation einer Witwe zu versetzen, die um ihr Recht kämpft: um ihren Anspruch auf die ohnehin geringe Witwenrente oder um einen Besitz, der ihr verblieben ist und den ein ungleich Stärkerer ihr nehmen will.

Wer sein Recht sucht, empfindet seine Abhängigkeit besonders intensiv. Der moderne Rechtsstaat hat daran viel geändert, indem er die Gleichheit vor dem Gesetz feststellte und den Armen ein besonderes Armenrecht gewährte, um ihre Rechtsansprüche durchzusetzen. Aber aufgehoben hat auch der moderne Rechtsstaat diese Abhängigkeitserfahrung nicht. „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“, sagt der Volksmund. Und er hat auch recht damit. Freilich muss man hinzufügen: Auch sonst sind wir alle in Gottes Hand, nicht nur auf hoher See oder vor Gericht. Doch in solchen Situationen spürt man es deutlich. Plötzlich hängt Entscheidendes davon ab, ob ein anderer sich meines Schicksals annimmt. Aber für den bin ich nur ein Routinefall, eine anonyme Größe, ein Aktenzeichen, mehr nicht. Anders kann es nur sein, wenn der Richter oder die Richterin sich mit meiner Lage auseinandersetzt, wenn ich eine Anwältin oder einen Anwalt auf meiner Seite habe, der oder die sich einfühlt in das, was mich beschäftigt, und Empathie entwickelt.

Für den Richter, von dem das Gleichnis Jesu berichtet, gilt das alles nicht. Zweimal wird seine Haltung mit den gleichen Worten geschildert: „Er fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.“ Dieser Richter ist ein Mensch, der nur ein einziges Maß für sein Verhalten kennt, nämlich sich selber.

Jeder von uns hat eine derartige Erfahrung schon einmal gemacht; und jeder hat sich über ein solches Verhalten auch schon kräftig aufgeregt. Aber, wenn wir ehrlich mit uns selber sind, müssen wir zugeben: Wir kennen dieses Verhalten auch von uns selbst. Ganz direkt gefragt: Wem von uns wäre diese Frau nicht auf die Nerven gefallen – mit ihrem unerbittlichen Bohren? Ich selbst jedenfalls kenne das Gefühl ziemlich gut, das mich überfällt, wenn jemand wieder und wieder mit demselben Anliegen auf mich zukommt und sich einfach nicht abwimmeln lässt. Ich bin manchmal ganz schön genervt von den Menschen, die einfach nicht von ihren Lieblingsideen lassen wollen, immer wieder dasselbe Schreckensszenario vor mir aufbauen, sich wieder und wieder ungerecht behandelt fühlen. Dass ich mich ihnen entziehe, erscheint mir als unausweichlich. Ich habe anderes zu tun; und wenn ich das nicht selber merke, gibt es einen wohlmeinenden Menschen in meiner Umgebung, der mich davor warnt, dem Drängen eines einzelnen Menschen zu viel Zeit zu widmen. Denn die Probleme anderer sind wichtiger; schon die Unverschämtheit, in der das Anliegen vorgebracht wird, provoziert eine negative Antwort.

Auch ich verhalte mich manchmal wie der ungerechte Richter; sein Verhalten ist mir nicht so fern, wie mir lieb wäre; ich habe mehr mit ihm gemeinsam, als mir lieb ist. Erst wenn ich mich in ihn hineinversetze, merke ich, wie befreiend die Wendung ist, die Jesu Gleichnis nimmt. Wenn es denn sein muss, sagt der Richter, will ich dieser Witwe, die mich so bedrängt, Recht verschaffen. Es könnte sonst sein, dass sie mir ins Gesicht schlägt. Bevor der Konflikt weiter eskaliert, sagt er damit, will er nachgeben und das tun, was er von Amts wegen ohnehin hätte tun müssen: Recht sprechen, der Frau ihr Recht gewähren, nicht mehr und nicht weniger.

III.

Dieser Richter ist uns näher, als uns lieb sein kann. Wieso wird er zum Gleichnis dafür, wie Gott mit uns umgeht? Wenn sogar ein solcher Richter sich schließlich erweichen lässt, wie viel mehr Gott! Deshalb hören wir dieses Gleichnis mit seinen zum Teil übertriebenen, grotesken Zügen: einem Richter, der über alle Maße hinaus herzlos ist, einer Witwe, die über alles Normale hinaus hartnäckig bei ihrer Sache bleibt. Das anhaltende „Schaffe mir Recht“ aus dem Mund der rechtlosen Witwe stört schließlich sogar den brutalen Richter auf. Es geht um mehr Recht für Rechtlose, um mehr Gerechtigkeit für die Misshandelten und Entwürdigten. In unserem menschlichen Umgang mit dem Recht soll das Gottesrecht, Gottes vorbehaltlose Parteinahme für Arme und Schwache, sich endlich durchsetzen; durch unser unverdrossenes und beharrliches Klagen und Bitten sollen wir als Christen dazu beitragen, dass die Stimme der Armen und Schwachen nicht überhört wird – heute vor allem die Stimme der schon seit Jahren notleidenden Bevölkerung in Afghanistan, insbesondere auch die Stimme der Frauen, die öffentlich in Sportstadien hingerichtet werden – was, wie man mir berichtet hat, so häufig geschieht, dass die Stadien für den Sport schon gar nicht mehr zur Verfügung stehen; heute aber ganz gewiss auch die Stimme derer, die im World Trade Center starben, die Stimme ihrer Kinder, die nun ohne Väter oder Mütter aufwachsen werden, und auch die Stimme derer, die jetzt im Visier künftiger Terroranschläge stehen – mit Einschluss chemischer und atomarer Waffen, wie Osama bin Laden sagt. Für sie alle unbeirrbar einzutreten, verlangt genauso viel Hartnäckigkeit wie der Rechtskampf der rechtlosen Witwe.

Aber diese unerbittliche Hartnäckigkeit des Bittens verweist uns zugleich auf das Geheimnis des Betens. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch scheint sich umzukehren. Gott legt seine Zukunft in die Hände einer schwachen Frau, in unsere schwachen Hände. Uns vertraut Gott die Bitte an: „Dein Reich komme“. Uns vertraut er es an, ob der Menschensohn, wenn er kommt, Glauben findet. Uns räumt Gott ein, dass wir ihm in den Ohren liegen und in unserem Gebet nicht nachlassen.

Jesu Beten kann uns dabei Vorbild sein. Er hat das Gebet, zu dem er sich häufig zurückzog, eben nicht als Rückzug aus der Welt  verstanden. Wer betet, zieht sich nicht aus der Weltgeschichte oder der eigenen Lebensgeschichte heraus. Sondern jedes Gebet hat seinen entscheidenden Rahmen in der Bitte: „Dein Reich komme.“Es hat seinen Bezugspunkt in der Gottesherrschaft, für die Jesus einsteht.

Aber unser Gebet um die Zukunft der Gottesherrschaft, die wir doch nur aus Jesu Hand empfangen können, braucht auch eine Innenseite. Unser Engagement für Frieden und Gerechtigkeit, unser Bangen um den Frieden gerade in diesen Tagen, auch unsere Sorge um das eigene Leben braucht eine Quelle. Diese Kraftquelle liegt nicht in uns selbst. Gerade in solchen Zeiten äußerer oder innerer Bedrängnis dürfen wir uns auf den verlassen, der unsere Erwartungen trägt, unserem Leben Halt gibt, uns in der Gefährdung beisteht, uns den Frieden verbürgt über alle Friedlosigkeit hinaus. Der Glaube öffnet uns für die unerwarteten Möglichkeiten Gottes, für die Überraschungen seiner Liebe, für seine Lebenszusage, für sein versöhnendes Handeln über Abgründe hinweg, für seine bewahrende Hand. Wo Menschen glauben, wiederholt sich das dreiste Handeln der bittenden Witwe an jedem Tag, ein beharrliches Drängen auf Gottes unerwartete Möglichkeiten.

„Wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“ Weil wir auf diese Frage antworten wollen, sind wir heute hier. „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Amen.