Predigt über die Apostelgeschichte 16, 9-15

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

mit dem Ruf „Komm nach Mazedonien und hilf uns“ beginnt die Globalisierungsgeschichte des Christentums. Es ist keine neumodische Erscheinung, sondern ein Kennzeichen des christlichen Glaubens, dass er Menschen in aller Welt erreichen will und Grenzen überschreitet. Das ist in einem solchen Hafen wie hier in Rostock sehr schön sichtbar. Es war gerade auch die christliche Seefahrt, die den christlichen Glauben in alle Welt gebracht hat. Ich denke an die Kandaze, ein großes Segelschiff, das der Missionar Louis Harms eigens bauen ließ, um die Gute Nachricht durch Missionare nach Afrika bringen zu lassen. Und diese Männer und Frauen haben viel Mut gezeigt. Ihnen war klar, dass sie wohl kaum je wieder nach Hause kommen würden…

Mir ist dabei wichtig, dass sich zeigt: Der christliche Glaube lässt sich nicht festlegen auf Nationen, sondern wir sehen uns als Schwestern und Brüder in der Familie der Kinder Gottes. Er kennt keine EU-Außengrenzen, selbst die Briten gehören noch dazu. Und Afrikaner sind nicht Fremde, sondern sehr oft Glaubensgeschwister. Jede Kirche ist nur eine Provinz der Weltchristenheit, so hat es der Theologe Ernst Lange einmal ausgedrückt. Wer das begreift, weitet den Horizont….

Aber bis dahin war es ein weiter Weg. Schauen wir erst einmal, wie alles begann: Der Apostel Paulus hatte im Ringen mit den Aposteln in Jerusalem einen entscheidenden Durchbruch errungen. Der Glaube an Jesus Christus sollte nicht nur Jüdinnen und Juden zugänglich sein, sondern offen sein für alle Menschen. So erlaubt das Apostelkonzil in Jerusalem Paulus eine vorbehaltlose Verkündigung. Und schnell verbreitet er die Botschaft. Seine erste sogenannte Missionsreise dauert 15 Jahre, die zweite und dritte etwa 8 Jahre. Und es läuft großartig. Die Menschen hören auf das Evangelium, die Gemeinden wachsen, eine erfreuliche, ja optimal Situation.

Doch dann geht es plötzlich nicht weiter. Es stellt sich kein Erfolg mehr ein. Da ist kein Weg nach vorn in Sicht. Der Heilige Geist verwehrt ihnen, zu predigen, heißt es im Text. Das ist eine sehr irritierende Vorstellung finde ich. Ermutigt uns der Heilige Geist nicht zu predigen? Wir lesen doch, dass Gottes Geist brausen, erneuern will. Oder ist unsere Vorstellung da zu eng? Die Erfahrung von Paulus ist, dass es kein Weiterkommen gibt, der Geist Jesu „ließ es ihnen nicht zu“ – so erlebt der Missionar die Situation. Und er ist bitter enttäuscht.

Überraschend zeigt da eine Vision Paulus, dass sich ganz neue Wege eröffnen. Nicht nur soll er das Evangelium von Jesus Christus Menschen aus allen Völkern weitersagen, nein, er soll auch den großen Schritt über das Mittelmeer wagen, hin zu neuen, bisher völlig unerreichten Welten. Ja, ein Wagnis war das. Wer wie die Menschen hier am Fluss Warnow oder an der Ostsee lebt, weiß von den Gefahren, die ein Meer neben aller Schönheit auch birgt.

Liebe Gemeinde, wir können heute nicht von einem Ruf sprechen, der Menschen über das Mittelmeer nach Europa kommen lässt, ohne an das beispiellose Flüchtlingsdrama dieser Tage zu denken, das sich im Mittelmeer abspielt und uns in Deutschland, aber ja, die ganze Welt bewegt. Menschen kommen nach Europa in der Sehnsucht, Krieg, Elend und Zerstörung zu entfliehen, um hier eine Zukunft in Frieden zu finden. Mehr als 3000 sind in diesem Jahr schon auf ihrer Flucht ertrunken. Und wir Europäer stehen fassungslos da und wissen keine rechte Antwort. Unsere Gesellschaften sind gespalten in jene, die Flüchtlingen Zuflucht und Unterstützung bieten wollen und jene, die sich abschotten, Flüchtlinge anpöbeln und bedrohen. Ja, es gibt Fremdenhass in Europa, das können wir in diesen Tagen nicht leugnen. Aber auch die christliche Kultur der Barmherzigkeit, die unseren Kontinent geprägt hat, ist hörbar und sichtbar in Europa, das erlebe ich in vielen Kirchengemeinden immer wieder.

Sicher, Paulus kommt nicht als Flüchtling nach Europa. Nein, er wird gerufen. Es ist ein Ruf nach geistlichem Beistand, nach Hilfe zum Leben und Gottvertrauen wie der christliche Glaube ihn bringt, so glauben wir. Wenn wir uns auf dieses Bild einlassen, zeigt der Text eine ganz neue Perspektive. Europa hat Mangel, ist manchmal allzu geruhsam geworden und braucht Menschen, die neue Wege zeigen. Europa braucht Bereicherung! Bereicherung durch kreative junge Menschen, weil uns der Nachwuchs fehlt. Bereicherung durch eine lebensfrohe Kultur, weil wir oft allzu eng geworden sind. Bereicherung durch Menschen, die zu schätzen wissen, wie sehr wir in Wohlstand und Sicherheit leben. Wenn wir die Perspektive so wechseln, sind diejenigen, die über das Mittelmeer kommen, keine Gefahr, sie bedrängen uns nicht, sondern wir können uns freuen, dass sie kommen. Viele unserer Gemeinden haben das verstanden. Sie sind offen für Menschen in Not und auf der Flucht, weil sie erinnern, was Jesus gesagt hat: Wo ihr sie aufnehmt, da nehmt ihr mich auf. Diese Menschen, die Nächstenliebe üben, verteidigen das christliche Abendland, und nicht diejenigen, die sich Pegida nennen und Hassparolen skandieren.

Aber wie soll das funktionieren mit der Mission? Das fragen wir uns ja auch heute manchmal. Paulus fragt nicht lange nach großen Konzepten. Er baut auch nicht zuerst eine Kirche und wartet, dass jemand kommt. Er geht dorthin, wo sich die Menschen treffen, wo sie vielleicht auch beten: an den Fluss. Und er beginnt mit den Menschen zu reden über Gott und die Welt im wahrsten Sinne des Wortes.

Das finde ich sehr einleuchtend, denn alle Menschen haben ja existentielle Fragen: Macht mein Leben Sinn? Bin ich nur ein Zufallsprodukt? Und wie ist das eigentlich mit den Sackgassen in unserem eigenen Leben:

Du verlierst den Arbeitsplatz und siehst keine Perspektive mehr. Du hast Angst, weil Du nicht weißt, wie es weitergehen soll.
Oder der Arzt sagt: „Sie haben Krebs!“ Ein Albtraum wird Realität und Du kannst nichts mehr planen wie gedacht, alle Sicherheiten scheinen in Frage gestellt.
Ein Mann eröffnet seiner Frau: „Es gibt eine Neue in meinem Leben, ich werde mich scheiden lassen“. Ein Lebensmodell bricht zusammen, alles, was Du gebaut hast an Familie und Heim ist zutiefst erschüttert.

Wer das erlebt, weiß nicht gleich neue Wege in die Zukunft, sondern muss erst einmal ertragen, dass die Lebenspläne radikal in Frage gestellt sind. Erst einmal fassungslos stehen wir da und wissen nicht weiter. Und dann braucht es Zeit, für Gespräche über Gott und die Welt. Vielleicht am Fluss, vielleicht am Küchentisch oder auch beim Spaziergang.

Verzagen gibt es auch mit Blick auf unsere Kirche. Viele Jahrhunderte lang war es in Europa selbstverständlich, Kirchenmitglied zu sein. Die Menschen kamen zum Gottesdienst, weil es das zentrale Ereignis war im Dorf, in der Stadt, ja auch, weil sich ausgrenzte, wer nicht dabei war. Da haben sich die Zeiten in meinem Teil der Welt radikal geändert. In Eisleben, der Stadt in der Luther geboren und getauft wurde, schließlich auch starb, sind heute nur noch sieben Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche. In Europa sind die Christen vielerorts zu einer kleinen Minderheit geworden. Da entsteht Ratlosigkeit. Fragen die Menschen nicht mehr nach Gott? Was können wir tun, um die Sache mit Gott ins Gespräch zu bringen? Schweigt Gottes Geist, statt zu brausen?

Gottes Geist vermuten wir in solchen persönlichen und auch institutionellen Erfahrungen von Ausgebremst-Sein eher nicht. Aber vielleicht steht der Geist Jesu ja dafür, dass wir offen dafür sein können, dass Gott uns in eine solche Sackgasse führt, weil sie ganz neue Perspektiven eröffnet, die wir nur nicht gleich erkennen. Vielleicht waren es unsere Wege, die wir geplant haben, aber nicht Gottes Wege?

Paulus hat geträumt, dass seine Mission in Europa weitergeht. Und das Gespräch am Fluss zeigt, dass er auf fruchtbaren Boden beziehungsweise auf Menschen trifft, die offen sind für die gute Nachricht, dass Jesus uns zeigt, wer Gott ist, wie Gott ist. Vor allem die Frauen hören ihm offenbar zu. Ist das nicht interessant? Die erste europäische Christin ist Lydia, die sich mit ihrem ganzen Haus taufen lässt.

Das war oft so in der Geschichte, auch in der Reformationsgeschichte. Frauen haben den Glauben aufgenommen und umgesetzt. Geleitet dagegen haben die Kirche meist die Männer. Es hat 1500 Jahre gedauert, bis Martin Luther erklärt hat: Alle, die getauft sind, sind Priester, Bischof, Papst. Und dann hat es noch einmal 450 Jahre gedauert – aber mit Blick auf die Geschichte ist das ja gar nicht sooo lange – bis klar wurde: Frauen sind ja auch getauft, wie jene Lydia. Dann können sie auch die Gemeinde leiten, wie Lydia das offenbar tat, und auch die Kirche, ganz gleich in welchem Amt. Es ist heute Kennzeichen der Kirchen der Reformation, dass Frauen Pfarrerin und Bischöfin sein können, dass die Kirche gemeinsam geleitet wird und Synoden deshalb aus Männern und Frauen, Jungen und Alten, Ordinierten und nicht Ordinierten bestehen.

Aber Mission war nicht immer erfolgreich. Schon Paulus ist in Europa auf Widerstand gestoßen und hat sein Zeugnis von Jesus Christus am Ende mit dem Leben bezahlt. Und doch hat sich das Evangelium in Europa rasant verbreitet, hinein in alle Welt. Heute leben Christinnen und Christen in allen Ländern der Erde. In Westeuropa haben wir mit abnehmendem Glauben zu ringen, in China wachsen die Gemeinden. In Syrien, dem Irak, im Sudan und vielen anderen Ländern werden Christen verfolgt und zahlen auch heute mit ihrem Leben für ihren Glauben. Und manches Mal hat die Mission den Glauben an Jesus Christus verraten, wenn sie mit den Mächtigen einherging, mit dem Kolonialismus und mit Rassismus. Aber, so hat das Nelson Mandela einmal gesagt, die Missionare habe unwiderrufbar die Nachricht mitgebracht, dass jeder Mensch Gottes Ebenbild ist, ganz und gar unabhängig von der Hautfarbe.

Was Paulus erlebt hat, das erfahren wir auch heute immer wieder. Wir scheinen in eine Sackgasse zu geraten in unserem Leben, in unserem Glauben, aber auch als Kirchen. Wenn dann eine neue Abzweigung notwendig wird, hadern wir oft damit, es ist ein Ärgernis, Schrecken gar, wahrscheinlich auch angstbesetzt. Finden wir aber neue Wege, so mag es im Rückblick erscheinen, als habe uns Gott mit dem Heiligen Geist den anderen Weg versperrt. Als mussten wir diese Erfahrungen des Scheiterns, des Versagens, der Ausweglosigkeit machen, um offen und frei zu werden für neue Wege, für die Lebensadern, die uns tragen. Vielleicht brauchten wir die Sackgasse, um uns sozusagen erst einmal an den Fluss zu setzen, miteinander über Gott und die Welt zu reden, damit wir neu anfangen können.

Das gilt in unserem je eigenen Leben – wir können uns getrost auf Gott verlassen, der bei uns sein will alle Tage! Das gilt für unsere Kirchen – wir müssen nicht so viel Angst davor haben, kleiner und ärmer zu werden. Auch so können wir Salz der Erde sein, die Würde jedes Menschen anmahnen in der Konsum- und Erfolgsgesellschaft. Das gilt auch für die Länder, in denen wir leben.

Die Botschaft, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern Gott dieses letzte Wort hat, weil Gott die Menschen liebt, sie ist in alle Welt gegangen. Das feiern wir dieses Jahr in Deutschland in der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 mit dem Themenjahr „Reformation und die eine Welt“. Auch wenn Martin Luther nur einmal nach Rom und ansonsten über die deutschen Lande nicht hinaus kam, so ist doch seine Erkenntnis von der Freiheit eines Christenmenschen und der Rechtfertigung allein aus Glauben für Menschen in aller Welt überzeugend geworden. Dass Gott unserem Leben Sinn zusagt und wir daher alles tun wollen, als Kinder Gottes zu leben, das gibt uns Halt und treibt uns an, verantwortlich zu leben.

Wir gehen auf ein Reformationsjubiläum zu, das wir nicht nationalistisch, sondern als internationale Gemeinschaft feiern können, weil die Botschaft über das Mittelmeer mit dem Schiff nach Europa kam und von Europa mit Segelschiffen in alle Welt getragen wurde. Da ist die Hanse Sail hier in Rostock ein sehr passender Ort, darüber nachzudenken. Wir werden 500 Jahre Reformation nicht abgrenzend feiern, sondern in einem ökumenischen Horizont wie auch diesen Gottesdienst. Denn Gottes Geist ist ein Geist des Friedens, der Liebe, der Gerechtigkeit und der Versöhnung. Und Gottes Geist kennt keine Grenzen von Nation oder Kultur oder „Rasse“. Dass wir davon immer wieder reden mit anderen Menschen und uns immer neu dem Wirken dieses Geistes anvertrauen, dazu gebe uns Gott reichen Segen. Amen.