Weihnachtspredigt in St. Matthäus, München (Lukas 2, 15-20)

25. Dezember 2002

Liebe Gemeinde,

Nur ganz wenige werden unter uns sein, für die Weihnachten nicht auch mit Geschenken zu tun hat. Geschenke gehören zu Weihnachten wie das Brandenburger Tor zu Berlin oder die Lebkuchen zu Nürnberg.

Dabei ist nicht von vornherein klar, worüber wir uns mehr freuen: über die Geschenke, die wir bekommen, oder die, die wir selbst machen. Dabei gehen einem viele Gedanken durch den Kopf: Welches Gesicht wird sie machen, wenn sie mein Geschenk auspackt? Wird es ihr gefallen? Wird sie lächeln, so dass ich weiß: Ich habe das Richtige getroffen? Wird mein Geschenk angenommen? Oder löst es Enttäuschung aus? Im Geschenk schenkt sich der Geber ja immer selbst ein wenig mit. Mein Geschenk ist ein Stück von mir.

Oft geht es gar nicht in erster Linie um den materiellen Wert des Geschenks, sondern um das Signal von Herz zu Herz: Schau her, ich habe an dich gedacht. Ich wende mich dir zu. Ich bin dir zugetan.

Leid tun mir die Menschen, die beschlossen haben: Wir schenken uns nichts, weil sie entweder schon alles haben oder sich dem so genannten „Konsumterror“ entziehen wollen. Hat es nicht doch seinen guten Sinn, sich gerade an Weihnachten ein Signal von Herz zu Herz zu geben, sich ein Stück gegenseitig zu schenken und sich einander zuzuwenden? Geschenke gehören zu Weihnachten. Sie sind keine Erfindung der modernen Konsumgesellschaft. Schenken und sich beschenken lassen, sind menschliche Grundbedürfnisse. Es hat schon seinen guten Sinn, dies gerade zu Weihnachten zu tun.

Auch der Weihnachtsbaum mit seinen vielen Lichtern gehört zu Weihnachten. Vereinzelte Versuche in meiner Familie, einmal ein Jahr ohne Weihnachtsbaum auszukommen, sind bisher immer fehlgeschlagen, auch heuer. Denn da geht es um mehr als Sentimentalität. Adventskranz und Lichterbaum sind von hoher Symbolkraft. Sie sind gewissermaßen eine sich steigernde Gegenbewegung gegen die immer dunkler werdenden Tage. Je länger die Nächte, je grauer und kälter die Tage werden, desto mehr steigert sich das Licht, Woche für Woche eine Kerze mehr am Adventskranz, bis schließlich zu Weihnachten die vielen Lichter am Baum leuchten. Das Dunkel von Tod und Sünde, das im November unsere Gedanken beherrscht: Totensonntag, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, ist besiegt durch das Licht, das an Weihnachten leuchtet.

Viele stellen unter dem Christbaum eine Krippe auf. Auch bei uns daheim haben wir eine Weihnachtskrippe, eine selbst gemachte, und ich habe mich dabei erwischt, wie ich mich vergangenes Jahr wie ein kleiner Junge auf den Bauch vor die Krippe gelegt und die einzelnen Figuren einmal wieder ganz genau betrachtet habe.

Am besten gefallen mir Krippen, in denen buntes Treiben herrscht und es vor Figuren nur so wimmelt. Krippen mit lediglich Maria, Josef und dem Kind erscheinen mir irgendwie unvollständig. Da fehlen mir gar nicht mal unbedingt Ochs und Esel und erst recht nicht die so genannten heiligen drei Könige. Sondern die Hirten. Hirten gehören dazu. Die Hirten sind mit die wichtigsten Figuren bei der Weihnachtskrippe – fast so wichtig wie Maria und Josef.

Freilich waren sie keine besonderen Leute. Wir wissen ja auch so gut wie nichts über sie. Wir kennen ihre Namen nicht. Wir wissen nicht einmal, wieviele da nachts ihre Schafe hüten auf der Flur bei Bethlehem.  Unauffällige Leute, die einer ganz und gar unauffälligen Tätigkeit nachgehen.

Wie das mit dem Engel war, der ihnen in jener Nacht erschienen ist, weiß ich auch nicht. Niemand weiß das wohl so richtig außer ihnen selbst. Leider können wir sie nicht fragen. Immerhin ist deutlich. Sie haben eine Botschaft erhalten, die lautet: „Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren, der Christus, der Herr. Das ist eine große Freude, die wird das ganze Volk erfassen.“ Und: Aufgrund dieser Botschaft machen sie sich auf den Weg: „Lasst uns die Geschichte mit eigenen Augen ansehen, die da geschehen ist!“

Als Hirte arbeiten, das war damals schwer verdientes Brot. Einheimische gaben sich für ein solches Leben unter freiem Himmel selten her. So stellte man durchziehende Wanderarbeiter für die Herden als Hirten ein, die sich in der Fremde ihr Geld verdienten, aus welchem Grund auch immer. Eher ein zwielichtiges Volk. Nicht gut angesehen. Hart gesotten waren sie, mehr misstrauisch als vertrauensselig. Ihnen machte man so leicht nichts vor.

Aber sie wimmeln nicht gleich ab, was sie da in der Nacht hören. Sie stellen ihre Ohren nicht auf Durchzug. Sie lassen sich auf das Evangelium von der Geburt ein. Sicher – sehen wollen sie schon, ob da was dran ist. Das Evangelium des Engels muss sichtbar und greifbar sein. Wenn da kein neu geborenes Kind ist, ist an der Sache auch nichts dran. Das wollen wir doch mal sehen! Sie machen die Probe aufs Exempel. Niemand fordert sie auf: Geht und sucht das Kind! Was immer es ist, das sie treibt, vielleicht bloß die Neugier: Sie lassen sich auf die Botschaft von der Geburt des Heilands der Welt ein. Deshalb sind mir, wenn ich das mal so sagen darf, die Hirten so wichtig und meine Lieblings-Krippenfiguren.

Sie haben, erzählt die Weihnachtsgeschichte, den Stall mit dem neu geborenen Kind gefunden. Wieder ist es an sich nichts Außergewöhnliches, was sie da sehen. Die Geburt eines Kindes – täglich kommt sie vor. Überdies sind die Rahmenbedingungen dieser Geburt eher dürftig. Aber für die Hirten ist wichtig, dass alles gerade so ist. Bei aller Alltäglichkeit, in all seiner Dürftigkeit: Es ist alles genauso, wie der Engel in der Nacht gesagt hatte. Für sie ist es die Bestätigung von der Wahrheit des Weihnachtsevangeliums: Siehe, ich verkündige euch große Freude, die alles Volk erfassen wird; euch ist heute der Heiland geboren, der Christus, der Herr. Es scheint sich bei diesen Worten nicht um bloße Einbildung zu handeln, um einen schönen Seelentrost, sondern es ist wahr: Gott wird im Alltag dieser Welt offenbar: sichtbar und greifbar.

An dieser Stelle beginnt nun die eigentliche, die unverzichtbar wichtige Rolle der Hirten in jener Weihnacht. Sie sagen das, was sie gehört und gesehen haben, weiter. Zuerst sagen sie es den Eltern des neu geborenen Kindes. Sie deuten die Geburt. Den Eltern, die ja von alledem nichts wissen, sagen sie, wie bedeutend diese Geburt sei. Bis dahin wissen sie nur: Wir haben einen Sohn bekommen, und zwar unter unwirtlichen Umständen. Ohne dass es ihnen jemand gesagt hätte, wäre Ihnen die Bedeutung dieser Geburt verborgen geblieben: Dieses Kind ist der Heiland der Welt,.

Für Maria ist das alles in doppelter Weise aufschlussreich. Sie bewegte diese Worte in ihrem Herzen, heißt es. Das griechische Wort, das da steht, lautet wörtlich: Sie warf eins mit dem anderen zusammen. Auch sie hatte ja eine Verkündigung vom Heiland der Welt durch einen Engel erfahren. Und nun bestätigen diese Hirten, was der Engel ihr gesagt hatte.

Auf diese Weise erscheint alles in einem neuen Licht:  der triste Alltag dieser Geburt bekommt eine Deutung. Die Deutung hebt die Tristesse nicht auf, aber die Botschaft des Evangeliums bekommt Lebensgestalt. Sie bewegt die Menschen. Die Hirten, diese hart gesottenen Skeptiker, denen normalerweise eher Flüche über die Lippen kommen, loben Gott.

Wir wissen nicht, was weiter aus ihnen geworden ist. Wir wissen nicht, ob sie durch diese Nacht zu anderen Menschen geworden sind. Wir wissen nur: Sie haben gehört und gesehen, sie haben, was sie gehört haben, weitergesagt und Gott ein Lob dargebracht. Danach sind sie wieder in die Nacht eingetaucht und zu ihren Schafen zurückgekehrt. Aber ihre Geschichte ist geblieben: die Geschichte von den Burschen, die sich auf die Botschaft eines Engels eingelassen und die Probe aufs Exempel gemacht haben. Noch heute, nach 2000 Jahren, bewegt sie die Menschen, auch hier in München, in Bayern, überall.

Auch wenn die Hirten selbst ungebildete Leute waren - lernen kann man trotzdem etwas von ihnen: Wie sie sich einlassen auf Jesus Christus und auf das Evangeliums des Engels, das macht sie zu Vorbildern. Wer sich so auf Gottes Botschaft einläßt, der erlebt ähnliches: So angerührt werden, dass man gar nicht anders kann als Gott zu loben.

Wenn ich „anrühren“ sage, meine ich nicht Rührseligkeit. Was kann Menschen wie die Hirten schon so berühren, dass sie Gott das Lob anstimmen? Was sie in Bewegung gebracht hat, ist jedenfalls die Anrede, die ihnen durch die Engel widerfahren ist. Das Weihnachtsevangelium ist nicht eine zeitlose Wahrheit, es spricht Menschen persönlich an. Es ist Anrede. Der Engel sagt „Euch“ ist heute der Heiland geboren. Er sagt nicht: Der Heiland ist geboren. „Euch“ ist das geschehen. „Ihr“ seid gemeint. Das bringt sie in Bewegung.

Das Weihnachtsevangelium will auch uns keine ewigen Wahrheiten präsentieren, sondern will uns ansprechen, Sie und mich: Für dich und mich ist Gott Mensch geworden. Gott wendet sich uns so zu, wie sich der Engel den Hirten zugewandt hat. Und wie sich zeigt, war alles nicht nur Schein. Die Hirten haben sich auf das Evangelium eingelassen und fanden so Christus: Gott schenkt sich uns in diesem Menschen Jesus Christus.

Ob Gott so gespannt auf unsere Reaktion wartet wie wir, wenn wir jemandem, den wir gern haben, zu Weihnachten etwas schenken? Im Geschenk geben wir uns selbst. Ein Geschenk ist Zuwendung von Herz zu Herz. Im Geschenk Gottes, in  Jesus Christus erfahren wir, wie Gott ist und wie er es mit uns meint. Gott ist nicht Appell, Gott ist nicht eine Forderung, Gott ist kein Moralapostel. Er wendet sich uns zu. Und er tut das nirgendwo deutlicher als in Jesus Christus, dem, der zu Bethlehem geboren wurde.

Das ist der tiefe Grund, warum wir uns zu Weihnachten beschenken. Darum gehören Geschenke zu Weihnachten und sind nicht Ausgeburt einer Kommerzgesellschaft. Weil Gott uns etwas schenkt, schenken wir einander etwas. Martin Luther hat dies immer wieder betont. Vor Luthers Zeit brachte der Nikolaus die Geschenke. Bescherung war am 6.Januar. Luther änderte das in seiner Familie, und viele folgten seinem Beispiel, so dass sich Weihnachten und Geschenke miteinander verbanden. Die Zuwendung, die Gott uns erweist, geben wir im Geschenk weiter an andere Menschen.

So ist ein Geschenk zu Weihnachten nicht bloß etwas Materielles, sondern ein Zeichen von Mensch zu Mensch, das seinen Grund hat in dem Zeichen, das Gott uns in Christus gibt.

Auf diese Weise fällt Licht ins Dunkel der Nacht, in der die Hirten ihrer Arbeit nachgehen.

Sicher haben die recht, die nun sagen werden: Und? Was hat das an der Tristesse des Hirtenlebens geändert? Nein, die Nacht wurde objektiv nicht heller, die Arbeit wurde nicht einfacher. Hirten wurden durch das, was in jener Nacht geschah und was sich dann herumsprach, nicht angesehener in der Gesellschaft.

So werden  wir heute zugeben müssen: Dadurch dass es auch in diesem Jahr 2002 wieder Weihnachten geworden ist, lösen sich die Nöte und Probleme des Jahres 2002 nicht einfach auf. Der internationale Terror legt keine Pause ein. Fanatisierte Selbstmordattentäter sprengen weiterhin sich selbst und andere im Heiligen Land in die Luft. Ich sehe nicht, dass die, die zu Kriegen rüsten, mit ihren Vorbereitungen einhalten. Hunger und Bürgerkrieg treiben weiter verzweifelte Menschen in die Wohlstandsländer. Die Seuche AIDS rottet in Afrika halbe Völker aus. In Familien bei uns wird auch an Weihnachten gestritten. Eltern und ihre halbwüchsigen Kinder leben sprachlos aneinander vorbei, haben sich gegenseitig nichts mehr zu sagen. Ändert sich wirklich nichts?

In jener heiligen Nacht ist etwas Grundlegendes geschehen, das an so nüchternen Zeitgenossen wie den Hirten nicht spurlos vorüber geht: Gott wendet sich zu. Er wendet sich uns in einem Menschen zu. Das bewegt die Hirten. Sie lassen sich darauf ein und schließlich davon in Bewegung setzen. Sie werden der Zuwendung Gottes in dem Menschen in der Krippe gewahr und wenden sich den Eltern dieses Kindes zu, um ihnen, die ihr Kind in Not und Elend bekommen, das Evangelium weiterzusagen. Das wiederum setzt Maria in Bewegung: Sie bewegt die Worte der Hirten in ihrem Herzen. So können wir auch einander zum Gottesgeschenk werden und uns gegenseitig als Gottesgeschenk entdecken.

Und das gilt natürlich auch: Seit wir wissen, dass Gott uns zugewandt und Mensch geworden ist, müssen wir die Dinge nicht einfach hinnehmen, wie sie sind. Sinnlose Menschenopfer, wie der Terrorismus sie produziert, müssen nicht sein. Es gibt –weiß Gott - intelligente Alternativen zum Krieg, und die zu suchen, gebietet die Menschlichkeit, gebietet das Weihnachtsevangelium vom „Frieden auf Erden“. Sprachlosigkeit in Familien und zwischen den Generationen lässt sich überwinden, gerade weil wir Menschen erfahren, dass Gott uns anspricht und sich uns zuwendet.

Die Hirten ließen sich ein auf das Geschehen der Heiligen Nacht, und sie gaben weiter, was sie gesehen und gehört hatten. So wirbt das Weihnachtsevangelium um uns. Wir bekommen ein Gottesgeschenk. Und wer es empfangen hat, wer sich von Gott in Jesus Christus beschenkt weiß, kann davon auch etwas an andere Menschen weitergeben. Selbst die Hirten konnten das.

Ob unsere Welt davon besser wird? Zumindest gibt es gute Chancen, dass sie menschlicher wird. Und ich erhoffe mir davon, dass Menschlichkeit nicht nur im Persönlichen verbleibt, sondern auch politisch wird. Wenn Gott sich unserer Welt menschlich zuwendet, um sie zu heilen, sollten wir diese Hoffnung nicht aufgeben.

Das Weihnachtsevangelium lädt uns ein, die Botschaft zu hören, sich auf sie einzulassen und sich in Bewegung zu setzen, auf den Weg zu machen. Mitten heraus aus dem Dunkel des alltäglichen Lebens und wieder in dieses Dunkel zurück. Vielleicht hilft es uns, dass es Hirten sind, an denen uns das gezeigt wird, einfache Menschen also ohne besondere Vorkenntnisse oder religiöse Schulung.

Und wenn Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, mal wieder Ihre Weihnachtskrippe betrachten, dann sollten Sie sich vielleicht auch auf den Bauch davor legen und nachdenklich die Hirten in den Blick nehmen. Sie sind aus der Geschichte nicht wegzudenken. Wenn wir uns In ihnen selbst entdecken, haben wir viel vom Weihnachtsevangelium Gottes verstanden.

Amen