Predigt im Berliner Dom (1. Korinther 1,18)

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

vor einigen Monaten war ich in einer Schule. Diskussion mit der Oberstufe über Religion. Die interessantesten Fragen stellten muslimische Schülerinnen und Schüler, darunter die: „Wie können Sie an einen Gott glauben, der elend am Kreuz gestorben ist? Das kann doch nicht Gott sein!“ Die christlichen Schülerinnen und Schüler guckten mich gespannt an nach dem Motto: „Uff, ich hoffe, sie kann das jetzt anständig beantworten!“

Das ist aber doch interessant! Es ist dieselbe Frage, auf die der Apostel Paulus vor fast 2000 Jahren eingegangen ist in seinem Brief an die Gemeinde: Ist das Wort vom Kreuz eine Torheit oder eine Gotteskraft? Und es ist gut und wichtig, wenn Christen und Muslime in unserem Land, Juden und Humanisten über Gottesbilder und Grundüberzeugungen miteinander sprechen. Wer bin ich? Was glaube ich? Was ist meine Lebenshaltung. Gut, wenn wir darüber im Gespräch sind! Ich fand deshalb auch den Aufschrei merkwürdig, als eine muslimische Ministerin in Niedersachsen ihren Amtseid schwor: „So wahr mir Gott helfe!“ Die Trennung von Staat und Kirche ist für beide Seiten wichtig. Wir leben in einem freien Land, in dem es eben auch Religionsfreiheit gibt – Gott sei Dank! Und es ist gut, wenn Menschen offen legen, was sie glauben, vor wem sie sich verantworten. Das ist wesentlich besser als Geheimbünde oder Sekten, bei denen niemand weiß, was wirklich Zugehörigkeit und Grundüberzeugung sind.

Nun, der Apostel Paulus ist nicht unbedingt mein liebster biblischer Autor. Sein Verhältnis etwa zu den Frauen in der Gemeinde war – sagen wir - angespannt. Aber er hat es immer wieder geschafft, zentrale Fragen des christlichen Glaubens grundlegend zu durchdenken. Und zwar auf eine Art und Weise, die bis heute anregend und weiterführend ist. Auf drei Aspekte seiner Überlegungen will ich näher eingehen.

Torheit oder Gotteskraft

Wer die Geschichte des Jesus von Nazareth unter weltliche Kategorien anschaut, muss sagen, es ist die Geschichte eines Scheiterns. Da wird ein Kind in ärmlichen Verhältnissen geboren, die Herkunft ist nicht so ganz geklärt. Es wächst auf und verhält sich nicht gerade konform, etwas merkwürdig ist dieser Junge, der die Eltern verlässt und im Tempel die Schrift auslegen will. Obwohl: alle Eltern wissen: manchmal verstehst du wahrhaftig nicht, was in den Kindern vor sich geht. Vielleicht war das ja auch geradezu normal…

Später sammelt der junge Mann einige Männer und Frauen als Freundeskreis um sich, die allerdings ebenfalls nicht gerade zur Elite der Gesellschaft gehören. Geld macht er so jedenfalls nicht! Und mancher wird gedacht haben: Die armen Eltern! Hätte er doch die Werkstatt des Vaters übernommen! Das Ende ist tragisch: er wird als Verbrecher hingerichtet. Das ist nicht gerade eine „Hollywood happy end Story“. Und die Besetzung ist auch schlecht! Einer der besten Freunde verrät ihn bei erst bester Gelegenheit, eine Frau in seiner Nähe hat einen durchaus zweifelhaften Ruf. Wahrhaftig keine Elitetruppe! Das konnte ja nichts werden! Genau das ist die Analyse des ersten Blickes. Eine merkwürdige Religion, die so einen Versager verehrt, ja zu ihm betet. Die glaubt: das ist Gottes Sohn...

Aus dem Blickwinkel des Glaubens sieht die Geschichte aber ganz anders aus. Gott wagt es, den Menschen ganz nahe zu sein, ja auf die Menschen selbst angewiesen zu sein, in Beziehung zum Menschen zu treten. Gott kennt die Menschen, weil Gott selbst Mensch war. Gott weiß um Konflikt, Angst und Gewalt, weil Gott kein ferner Weltenlenker ist, sondern nahe beim Menschen. Gott kann uns Lebenskraft geben, weil Gott erfahren hat, wie wichtig es ist, solche Kraft zu finden. Und am Ende kehrt Gott die Verhältnisse um, weil Gott genau das in Frage stellt, was Menschen nicht in Frage stellen: der Tod ist das Ende des Lebens. Was das menschliche Auge als Sackgasse sieht, erfährt das Auge des Glaubens als Übergang. Wo der Arzt sagt: Exitus, Schluss-Aus-Vorbei, sagt der Glaube: Introitus, Übergang in ein anderes Leben, eine andere Wirklichkeit. Das ist übrigens in der Konsequenz gerade keine Weltflucht, kein Opium, mit dem sich das Volk ablenken sollte von den Auseinandersetzungen der Welt. Es ist keine Vertröstung auf ein besseres Jenseits, um Ungerechtigkeiten der Welt zu rechtfertigen. Sondern es bringt eine radikale Freiheit im Gepäck, sich einzumischen in die Welt. Klar einzutreten für Gerechtigkeit schon in dieser Welt, weil nur so eine Spur von Gottes zukünftiger Welt gelegt wird. Weil die Todesangst überwunden ist, entsteht eine radikale Freude am Leben, die dafür streitet, dass Menschen das Leben in Fülle haben. Alle Menschen, nicht nur eine Elite der Menschheit.

Die Bedeutung des Kreuzes

Als ich zu einer Veranstaltung im Februar in Berlin war, schrieb anschließend eine Zeitung: „Käßmann, die ein Kreuz um den Hals trägt, das bei Ungläubigen als modisches Accessoire durchginge, hat hier ein Heimspiel.“ Ich kenne Robin Alexander nicht, der das in der „Welt“ (4.2.2010) geschrieben hat, aber es war interessant. Denn wie müsste ein Kreuz beschaffen sein, dass nicht als „Accessoire“ gilt. Was ist die Vorstellung des Autors? Dick und fett und golden? Groß mit Diamanten besetzt? Wuchtig wie ein Ritterkreuz? Wobei die Gedankenkette zum Kreuzritter schnell gedacht wäre….

In der Tat, ich finde es merkwürdig, wenn Menschen sich ein Kreuz umhängen, weil sie das irgendwie schmückend finden. Es ist für mich eine Glaubensaussage, eine bewusste Entscheidung, ein Kreuz umzuziehen und nicht modischer Schnickschnack.. Das Kreuz aber kann doch niemals ein Herrschaftssymbol sein! Auch und schon gar nicht bei Amtsträgerinnen und Amtsträgern der Kirche! Wer ein Kreuz trägt, bekennt sich zum Gekreuzigten, das heißt zum gedemütigten Christus. Es geht um den, der sein Kreuz getragen hat. Ein Kreuz zu tragen sagt etwas aus über eine Lebenshaltung. Und die kann nicht triumphalistisch sein, sondern sie weiß etwas von der Demut gegenüber dem Leben, das sie verletzbar macht, angreifbar, ohnmächtig. Kreuz und Macht – das passt nicht zusammen. Auch wenn es in der Kirchengeschichte entsetzliche Irrtümer gab, in denen ein solcher Zusammenhang hergestellt wurde. Das Kreuz ist das Zeichen der Freiheit, des Respektes vor der Würde jedes Menschen, sei er ein Verbrecher, krank, sterbend, gedemütigt oder auch erfolgreich, leistungsstark, glücklich. „Gott ist ein Freund des Lebens“ – dieser Titel einer ökumenischen Handreichung drückt das wunderbar aus. Ein Freund des Lebens, der um die Ohnmacht weiß und um das Sterben.

Als ich in einer Diskussion gefragt wurde, ob Christen einen Karikaturenstreit anzetteln würden, musste ich zugeben, dass es so etwas gab. Denken wir an den Christus mit der Gasmaske von George Grosz. Als 21-Jähriger erlebt er den Ersten Weltkrieg. Er ist schockiert und zeichnet den Gekreuzigten als Opfer seiner Zeit. Am Rand der Zeichnung steht: "Maul halten und weiter dienen". Es kommt zu einem Blasphemieprozess. Grosz flieht 1933 in die USA flieht, seine Werke werden unter den Nationalsozialisten als "entartete Kunst" dargestellt.

Ich denke, das war keinesfalls Blasphemie! Es hat Jesus gezeigt als einen, der mitleidet. Mitleidet mit den Soldaten, die im ersten Weltkrieg so entsetzliche Sinnlosigkeit und Zerstörung erlebt haben. Jesus der Mitleidende mit den Opfern der Geschichte – dafür steht das Kreuz. Und genau das hat George Grosz zum Ausdruck gebracht. Letzten Endes kann keine Karikatur unser Gottesbild beleidigen, weil die schlimmste Karikatur schon stattgefunden hat. Nämlich als Gott selbst gekreuzigt wurde unter dem ironischen Schild: INRI – Jesus von Nazareth, König der Juden.

Keine Karikatur kann das toppen. Und niemals dürfen daher Christinnen und Christen gewaltsam eine Karikatur Gottes, dem sie sich anvertrauen, zum Anlass nehmen, um gewalttätig zu sein. Da gilt die Kontrastgesellschaft, die Jesus ausruft, wenn er sagt: Selig sind die Sanftmütigen!

Die Schwachheit Gottes ist stärker als die Menschen sind

So endet der Predigttext. Ich finde das faszinierend. Gott zeigt sich schwach, ohnmächtig und rüttelt damit geradezu an menschlichen Vorstellungen von Stärke und Schwäche. Was für eine Provokation! Bei uns gelten diejenigen stark, die sich durchsetzen können, die Ellenbogen haben, denen etwas gelingt. Eine Fußballmannschaft ist gut, wenn sie siegt – wir haben uns alle mitgefreut gestern. Und wenn ein Torwart sich dann das Leben nimmt, weil er dem Druck nicht mehr standhalten kann, gibt es große Betroffenheit – aber die währt nur wenige Tage. Auch die Kirche muss sich das immer wieder sagen lassen. Es kann für sie keine Theologie des Erfolges, keine Kirche von Triumph und Selbsterhöhung geben. Wenn ein solches Kirchengebäude wie dieser Dom in Berlin so prachtvoll gebaut wird, dann nicht zur Ehre der Kirche, sondern „soli deo gloria“ – allein zur Ehre Gottes!

Wie sehr Schwäche zur Stärke werden kann, können wir historisch und auch aktuell sehen. Ich denke an Helmut James Graf von Moltke. Anders als andere am Widerstand Beteiligte hatte der Initiator des Kreisauer Kreises das Attentat gegen Hitler abgelehnt. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ war ihm wichtiger als die mögliche Rechtfertigung eines Tyrannenmordes. Und doch wird er im Rahmen des Attentats gegen Hitler vom 20. Juli 1944 verhaftet. Am 10.1.1945 schreibt er einen Brief an seine Frau Freya von Moltke. Von einer tiefen Gotteserfahrung geprägt, reflektiert Moltke seinen bevorstehenden Tod. Er weiß, er wird am nächsten Tag zum Tode verurteilt werden. Das Sterben ist nahe. In dieser Situation spricht er mit einer bewegenden Zuversicht davon, wie er sich gehalten weiß von Gott, dem er sich anvertraut hat. Wie demütigend die Auseinandersetzungen vor dem Volksgerichtshof waren, kann nachempfinden, wer einmal die Filme gesehen hat, wie sie dort stehen, die Angeklagten. Die Gürtel wurden ihnen genommen, damit die Hosen rutschen und sie ein möglichst schäbiger Anblick sind. Und Roland Freisler brüllte geifernd auf sie ein. Aber Helmuth James von Moltke blickt auf diese Tage zurück und schreibt: „Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, daß das hysterisch klingt: ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die 2 Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht...“

Da zeigt sich in aller Schwäche Glaubenskraft gegen all die Mächte und Gewalten, die so selbstgewiss waren! Ein solcher Widerstandsgeist gegen den Zeitgeist zeigt wahrhaftig wie Torheit zu Weisheit werden kann!

Ich denke an die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Diese kleine zarte Frau ist seit mehr als 20 Jahren offenbar eine derartige Bedrohung für die Militärdiktatur in Myanmar, dass sie ständig unter Hausarrest steht. Sie hat aber einen Platz in den Herzen der Menschen in aller Welt und im Gedächtnis der Menschheit, weil ihre innere Kraft stärker ist, als ein bis auf die Zähne bewaffnetes korruptes Regime.

Ich denke als drittes Beispiel an einen Menschen, der mitten im Leben an Krebs erkrankt ist. Ein von Energie, Lebensfreude und Gesundheit strotzender Mann mit Familie und vielen Lebensplänen. Er hat – für viele überraschend - die Krankheit angenommen, ist mit Würde seinen letzten Weg gegangen. Er hat sich verabschiedet und das Leben zurück gegeben in Gottes Hand. Gerade als er schwach war, war er ganz besonders stark.

Liebe Gemeinde, dafür steht das Kreuz! Gottes Schwäche, ja Gottes Ohnmacht angesichts von Gewalt und Zerstörung von Leben, ist langfristig stärker als alle menschlichen Kategorien. Wer das glauben darf, dessen Leben verändert sich radikal. Und zwar nicht hin zu Leid und Traurigkeit, sondern hin zu Lebensfreude und Lebenskraft. Weil ein solcher Mensch im tiefsten inneren frei wird. Frei vom Urteil anderer. Frei von Erfolgskategorien dieser Welt. Frei davon, mit dem eigenen Leben oder Lebensstil irgendwelche Bedeutung zu erlangen.

Eine solche Haltung der Freiheit kann gefährlich werden für die Gewalt- und Machtstrukturen der Welt. Wie sagte Martin Luther King am 28. August 1963: „Lass die Freiheit klingen! Und wenn das passiert und wir das erlauben, dann werden wir schneller an dem Tag sein, an dem Schwarze und Weiße, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken fähig sind, sich die Hände zu reichen und in den Worten des alten Spirituals zu singen: Endlich frei! Danke allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!“

Ja, Ohnmacht und Schwäche können zur Stärke führen, zu einer Glaubensheiterkeit wie Spitta sagt und zu einer inneren Freiheit, die die Welt bewegt. Das ist das Zeugnis des Kreuzes. Der sterbende Mann am Kreuz hat mehr verändert als all die Armeen der Welt. Der Gefolterte wird zum Symbol der Freiheit. Einer Freiheit, die der Tod nicht schrecken kann. Weil er nicht das letzte Wort hat. In diesem Sinne sind Christinnen und Christen „Free at last“ – wirklich und wahrhaftig frei, auch vor dieser letzten und wohl größten Angst jedes Menschen, der Angst vor dem Tod.

Liebe Gemeinde, wir werden diese Freiheit feiern, wenn wir Brot und Wein teilen. Das ist ein Freudenfest. Als ich Kind war, wurde scheel geguckt, wenn jemand dreimal im Jahr zum Abendmahl ging: Der muss ja viel gesündigt haben, wenn er das nötig hat! Heute sagen wir: zu seinem Gedächtnis. Eben nicht schuldbeladen, sondern frei. Ein Fest des Lebens können wir feiern! Fröhliche Christenmenschen dürfen wir sein mitten in einer Welt, die uns manchmal drückt mit all ihrem Unrecht und Krieg. Zu seinem Gedächtnis: das heißt: Dankbar und frei. Die Zurechnung von Torheit kann uns nicht schrecken. Und Schwachheit ist kein Schimpfwort für uns. Also: Fröhliche Weltkinder dürfen wir sein, engagiert und getröstet, verlacht und ermutigt, gestärkt und klar im Engagement für die Welt, die Gott liebt. Jetzt und hier und in Gottes zukünftiger Welt.

Amen