Um Gottes Willen für den Menschen! - Die Würde des Menschen am Ende seines Lebens

Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann

„Die Würde des Menschen am Ende seines Lebens“: Unter diesem Motto findet vom 24. April bis 1. Mai die Woche für das Leben 2004 statt. Die Woche für das Leben ist eine gemeinsame Initiative der katholischen und der evangelischen Kirche. Mit ihr wollen wir die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf die umfassende Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit menschlichen Lebens in allen seinen Stadien lenken.

Unter dem Leitthema „Um Gottes Willen für den Menschen“ steht in den Jahren 2002 bis 2004 der Schutz menschlichen Lebens an seinem Beginn (2002), in seiner Entfaltung (2003) und an seinem Ende (2004) im Mittelpunkt unserer Initiative. Welchem Lebensstadium man sich auch zuwendet, immer geht es um die Frage: Wie kann das Leben des Menschen in einer Weise geschützt werden, die seiner Würde als Person gerecht wird?

Diese Frage stellen wir in diesem Jahr mit besonderem Blick auf das Lebensende. Die aktuelle Diskussion um „aktive Sterbehilfe“ bzw. Euthanasie zeigt den Orientierungsbedarf vieler Menschen, die für sich und für andere Möglichkeiten eines menschenwürdigen Sterbens jenseits einer „Lebensverlängerung um jeden Preis“ oder einer „aktiven Tötung“ suchen. Bundesweit werden während der Woche für das Leben in Kirchengemeinden, in kirchlichen Verbänden, Bildungseinrichtungen und Einrichtungen von Diakonie und Caritas Fachvorträge, Gesprächsforen und Gottesdienste zu diesem Thema veranstaltet.

Wenn wir die unbedingte Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens auch und gerade am Lebensende einfordern, sind wir uns durchaus bewusst, dass der Rückgriff auf die Würde des Menschen heute in der Gefahr steht, geradezu inflationär gebraucht zu werden. Vielen kommt der Begriff Menschenwürde wie eine leere Hülse oder ein ungedeckter Scheck vor. Selbst in der Fachdiskussion unter Verfassungsrechtlern wird die unbedingte Geltung der Menschenwürde in Frage gestellt. Deshalb tun alle, die von der Würde des Menschen sprechen, gut daran, zu erläutern, was sie damit meinen.

Wir legen bei unserer Rede von der Menschenwürde ausdrücklich Wert auf die grundlegende und unverzichtbare Feststellung, dass die Würde dem Menschen als Mensch zukommt, unabhängig von jeder äußeren Situation. Es geht nicht um die Frage, wie viel Würde ein Mensch ausstrahlt. Es geht auch nicht um die Frage, wie würdig und „lebenswert“ das Leben eines Menschen noch erscheint. Die Würde eines Menschen ist einer Taxierung nicht zugänglich. Sie kann nicht bemessen werden. Die Menschenwürde ist unantastbar und bedeutet einen unbedingten Anspruch auf Achtung und Schutz. Dieser Geltungsanspruch liegt jeder positiven staatlichen Gesetzgebung voraus. Wer ihn aufgibt, kann die Dynamik nicht mehr aufhalten, durch welche die Würde des Menschen mehr und mehr eingeschränkt wird. Sie gerät dann zusehends unter die Verfügungsgewalt herrschender gesellschaftlicher Meinungen. Dies hat nichts mit einer „Dammbruch-Rhetorik“ zu tun, wie manche meinen. Wer die Diskussion auf verschiedenen Ebenen verfolgt, sieht deutlich, dass die Gefahr eines Dammbruchs ausgesprochen real ist.

Wenn wir von der Würde des Menschen am Ende seines Lebens sprechen, geht es um die Frage: Wie können dem je einzelnen Menschen bis zum Ende seines Lebens und im Sterben die Achtung und der Schutz zuteil werden, die seiner Würde entsprechen? Diese Frage lässt sich nicht auf die Tage oder Stunden des Sterbens eines Menschen beschränken. Sie ist eng damit verbunden, wie wir als einzelne Menschen und als Gesellschaft insgesamt mit der Vergänglichkeit und Gebrechlichkeit menschlichen Lebens umgehen. Wir haben uns dazu in den letzten Jahren immer wieder gemeinsam und einzeln geäußert. So sei zum Beispiel hingewiesen auf die gemeinsame Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“ (1989), auf die gemeinsame Textsammlung „Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe“ (2003) und auf entsprechende Erklärungen der deutschen Bischöfe, zusammengefasst in „Die deutschen Bischöfe Nr. 47“.

Der Jugendkult einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft erschwert eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Lebens und mit dem eigenen Tod. Wir setzen ihm eine „Kultur des ganzen Menschen“ entgegen: eine Kultur, die die eigene Bedeutung jedes Lebensalters sieht und auch die Würde eines gebrechlichen Menschen im Blick behält. Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, dürfen nicht als „Auslaufmodelle“ und „Altlasten“ beiseite geschoben werden. Das Sterben soll nicht verdrängt und tabuisiert werden. Auch die letzte Phase des menschlichen Lebens ist als bedeutsame Lebenszeit zu sehen.

Gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Konventionen, die einer aktiven Sterbehilfe den Weg ebnen, sind ein Irrweg, den wir entschieden ablehnen. Eine solche Praxis kann die von ihr zuweilen erhoffte Förderung der Humanität nicht erbringen. Vielmehr setzt sie alte, behinderte, schwerstkranke und sterbende Menschen unter einen enormen Druck, der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen und sich deren Forderungen zu beugen. Angebliche Freiwilligkeit und faktischer Zwang lassen sich in einer solchen Praxis kaum mehr trennen. Die Erfahrungen aus Belgien und den Niederlanden sprechen eine deutliche Sprache: Der Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin" des Deutschen Bundestags, Thomas Rachel, spricht von etwa 3000 Menschen jährlich, die dort auf Verlangen aktive Sterbehilfe durch Ärzte erhalten. Bei ungefähr 1000 Patienten werde aktive Sterbehilfe durchgeführt, ohne dass sie darum gebeten hätten. Nur etwa die Hälfte der Fälle werde den Aufsichtsbehörden gemeldet. Diese Zahlen sind alarmierend.

Die Angst vieler Menschen vor einem schmerzhaften, qualvollen und einsamen Sterben nehmen wir sehr ernst. Diese Angst lässt viele Menschen nach „aktiver Sterbehilfe“ fragen. Insbesondere wenn in Umfragen im Zusammenhang mit einem leidvollen Lebensende nach der Akzeptanz einer „aktiven Sterbehilfe“ gefragt wird, sprechen sich in Deutschland 70% der Befragten für diese Möglichkeit aus (Allensbach-Umfrage 2001). Wird jedoch in der Fragestellung die Alternative zwischen „aktiver Sterbehilfe“ einerseits und Schmerztherapie und Hospizarbeit andererseits angesprochen, sinkt die Akzeptanz auf – immerhin noch - 35, 4 %. Bei Frauen ist diese Akzeptanz deutlich geringer als bei Männern. (Zahlen der Deutschen Hospizstiftung). Bei aller Vorsicht ist die Tendenz deutlich erkennbar: Je weniger sich Menschen vor einem qualvollen Sterben fürchten müssen, desto weniger drängen sie auf eine aktive Tötung Sterbender. Zu einem achtungsvollen Umgang mit Sterbenden gehören unabdingbar persönliche Begleitung und Betreuung, respektvolle Pflege, aber auch eine medizinische Versorgung, die Schmerzen lindert und den Prozess des Sterbens begleitet, ohne ihn in unnötiger Weise zu verlängern.

Die Palliativmedizin hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Instrument der medizinischen Betreuung Schwerstkranker und Sterbender etabliert. Die Erkenntnisse in diesem Bereich ermöglichen heute ein ausgesprochen individuelles Eingehen auf die jeweilige Situation eines im Sterben liegenden Menschen. So ist eine medizinische Betreuung möglich, die tatsächlich eine erhebliche Linderung von Schmerzen und Qualen bedeutet. Die Herausbildung eines eigenen Profils von „Palliative-Care“ spiegelt diese Entwicklung in Wissenschaft und Praxis der Pflege wider. Es bleibt eine Herausforderung, diese Versorgung der Bevölkerung mit palliativpflegerischer und palliativmedizinischer Betreuung gerade am Lebensende in unserem Land auszubauen und zu fördern.

Nachdrücklich begrüßen wir die Entfaltung und immer breitere Umsetzung der Hospizidee. Viele Menschen engagieren sich hier im Sinn einer „Kultur des ganzen Menschen“. Bischof Huber wird hierzu im Anschluss noch einige Sätze sagen.

Ob in der Hospizarbeit, in der Klinik, in ambulanter oder stationärer Pflege, im Besuchsdienst oder in der Familie – alle, die Menschen in ihrem Sterben achtsam begleiten, leisten einen unersetzlichen Dienst an der Würde des Menschen. Mit der diesjährigen Woche für das Leben wollen wir auch diese Menschen unterstützen und ihnen unsere Solidarität ausdrücken. Wir rufen dazu auf, die Begleiterinnen und Begleiter Sterbender in ihrer schweren und oft belastenden Aufgabe nicht allein zu lassen. Sie sollen spüren können, dass ihr Dienst nicht nur den Sterbenden, sondern auch den Lebenden wertvoll ist. Gefragt sind Angebote der Begleitung und Beratung, aber auch spirituelle Angebote, die ein Gespür dafür vermitteln, dass das letzte Weggeleit Sterbender in Gottes Hand gelegt werden darf. Viele Pfarrgemeinden und Gruppen leisten hier mit ihren Besucherdiensten Vorbildliches.

Die Würde des Menschen drückt sich auch in unserer Abschieds- und Erinnerungskultur aus. Begräbnisformen, Rituale und Symbole können der Trauer der Angehörigen, dem radikalen Ernst des Todes und dem persönlichen Gedenken des verstorbenen Menschen einen angemessenen Ausdruck verleihen. Wenn sie dies nicht tun, bleiben sie hinter dem Anspruch zurück, den die Würde des Menschen auch über den Tod hinaus erhebt. Für uns Christen verbindet sich in der Bestattungskultur die Trauer mit der Hoffnung: Trauer über den Abschied von einer unersetzbaren Person und Hoffnung auf ein Leben in Gottes allumfassender Liebe, die den Tod überwindet. Eine christliche Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur ist daher deutlicher und unverwechselbarer Ausdruck christlicher Auferstehungshoffnung. Hier sei auch verwiesen auf das Diskussionspapier „Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur“ und auf die Erklärung der Frühjahrsvollversammlung 2004 der Deutschen Bischofskonferenz „Christliche Bestattungskultur – Orientierungen und Informationen“.

Jeder Mensch ist vor Gottes Angesicht unverwechselbar und unersetzbar. Gerade diese christliche Hoffnung motiviert uns zum Einsatz für eine Gesellschaft, in der die Würde des Menschen geachtet wird bis in den Tod hinein und über den Tod hinaus.

Berlin, 24. März 2004

Zu den genannten Texten:

  • Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens (Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD), Trier und Gütersloh 1989 u.ö., bes. S. 105-110.

  • Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine Textsammlung kirchlicher Erklärungen (= Gemeinsame Texte 17), Hannover-Bonn 2003.

  • Menschenwürdig sterben und christlich sterben (1978) / Schwerstkranken und Sterbenden beistehen (1991) / Die Hospizbewegung – Profil eines hilfreichen Weges in katholischem Verständnis (1993) / Im Sterben: Umfangen vom Leben (1996) (= Die Deutschen Bischöfe 47), Bonn 1996.

  • Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur. Ein Diskussionspapier (Kirchenamt der EKD, E-Mail versand@ekd.de).

  • Christliche Bestattungskultur – Orientierungen und Informationen. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz, Frühjahrsvollversammlung 04.03.2004 (Druck in Vorbereitung).